9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Null-Besteuerung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2017. Warum gibt es in den USA so viele Amokläufe, fragt die New York Times, und findet eine einfache Antwort: Es liegt einzig und allein an der Zahl der Waffen. Nach der Enthüllung der "Paradise Papers" attackiert SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach in einem offenen Brief Tim Cook und die politische Einflussnahme von Apple. Jake Bernstein vom Internationalen Konsortium investigativer Journalisten verteidigt in der New York Times auch die Veröffentlichung von Daten, die auf offiziell nicht illegale Praktiken hinweisen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.11.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

Warum gibt es in den USA so viele Amokläufe?, fragen Max Fisher und Josh Keller in der New York Times. Liegt es am Rassismus, am generellen Niveau der Gewalt in den USA, an mangelnder Versorgung psychisch Labiler? Nein: "Die einzige Variable, die die hohe Rate von Amokläufen in Amerika erklärt, ist seine astronomisch hohe Zahl von Waffen. Die Amerikaner stellen ungefähr 4,4 Prozent der Weltbevölkerung, aber sie besitzen 42 Prozent der Waffen. Von 1966 bis 2012 waren 31 Prozent aller Täter bei Amokläufen Amerikaner, zeigt eine Studie von Adam Lankford von der University of Alabama."

Der in Harvard lehrende Politikwissenschaftler Yascha Mounk findet die Reaktion der Rechten auf die Amokläufe empörend, wenn sie immer wieder das Waffenproblem herunterspielen. Aber die Linke verhält sich - etwa nach dem jüngsten Terrorattentat in New York - oft nicht viel besser, bedauert er auf Zeit online: "Wenn wir die schrecklichen Schlagzeilen sehen, schwören wir, dass sich New York, Paris oder Berlin nicht verändern sollen, und feiern Menschen dafür, dass sie einfach mit ihrem Leben weitermachen, als sei nichts geschehen. Die Linken sind offenbar immer entschlossener, die Bedrohung durch Terrorangriffe als Teil des modernen Lebens zu behandeln, als etwas, gegen das man nichts tun kann. Das ist mir zu nah an der Art und Weise, wie die Rechten auf Schießereien und in der Waffendebatte reagieren, als dass ich mich damit wohlfühlen könnte."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Jake Bernstein, Mitglied des Internationalen Konsortiums investigativer Journalisten, die die Panama Papers ausgewertet haben, antwortet in der New York Times auf Vorwürfe, die Veröffentlichung von Steuerhinterziehungs- und Steuervermeidungstricks  verletze die Privatsphäre der betroffenen Geldelite. Steuervermeidung ist zwar nicht illegal, so Bernstein, aber sie schadet der Öffentlichkeit so stark, dass sie nicht von einem Recht auf Privatsphäre geschützt werden könne. Weltweit seien nach Schätzungen des Wirtschaftswissenschaftlers Gabriel Zucman rund 7,7 Billionen Dollar in Steueroasen versteckt. Dazu kommen noch einmal etwa 2 Billionen Dollar aus kriminellen Geschäften, die ebendort gewaschen werden: "Das Recht auf Privatheit sorgt dafür, dass dieser unterirdische Geldstrom geheim bleibt, aber seine Existenz hat Konsequenzen in der realen Welt. Steuervermeidung beraubt Regierungen der Mittel, die nötig sind, Erziehung, Gesundheitsvorsorge und Infrastruktur zu bezahlen. Die Häuserpreise in New York, Miami, Los Angeles und London wuchsen außer Reichweite der meisten Anwohner, weil die globale Elite, oft hinter anonymen Firmen versteckt, dort ihr Bargeld parkt. Und die Korruption, die sie ermöglicht, ist ein wesentlicher Faktor in der andauernden bitteren Armut in ressourcenreichen Regionen wie Afrika."

Ähnlich sieht das Wolfgang Krach, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, der Apples Tim Cook in einem offenen Brief fragt, welches Demokratieverständnis hinter der Forderung einer Anwaltskanzlei steht, sich von der Regierung eines Landes bestätigen zu lassen, dass Apple dort keine Steuern zahlen muss: "Wollten Sie diese Null-Besteuerung zur Voraussetzung dafür machen, dass Sie sich dort niederlassen? Mit welchem Recht? Und welches demokratische Verständnis steckt hinter der Frage, die Sie über diese Kanzlei haben stellen lassen: Ob es eine 'glaubwürdige Oppositionspartei' in diesem Land gebe oder 'eine Bewegung, die die jetzige Regierung ersetzen könnte'? Wollten Sie sicher sein, dass Ihnen diese Steuerbefreiung nach Wahlen oder einem Regierungswechsel erhalten bleibt?"

Es ist für die EU nicht so leicht, Steuerdumping in Mitgliedsländern wie den Niederlanden zu stoppen, denn das Steuerrecht ist eine nationale Angelegenheit und die betroffenen Länder sperren sich, erläutert Eric Bonse in der taz nach der Enthüllung der "Paradise Papers": "Widerstand gibt es auch gegen die geplante schwarze Liste für Steuerparadiese. Hier steht vor allem Großbritannien auf der Bremse. Es wehrt sich dagegen, einschlägig bekannte Inseln wie Jersey, Guernsey oder die Britischen Jungferninseln an den Pranger zu stellen. Dabei tauchen die Eilande, die sich Ihrer Majestät verpflichtet fühlen, auch in den Enthüllungen der Paradise Papers auf."
Archiv: Politik

Kulturmarkt

Buchhändler, die sich eine Nische suchen, können überleben, sagt die Berliner Buchhändlerin Katrin Reichard (pro qm) im Gespräch mit Andreas Hartmann von der taz: "Die spezialisierten Läden, die sich auf bestimmte Themen konzentrieren, Bücher importieren und diesen Kontext mit Veranstaltungen ergänzen, sind auch in den Zeiten von Amazon sehr gut überlebensfähig. Wir beobachten, dass die Leute ja auch teilweise zum stationären Buchhandel zurückkehren, wenn sie eine Zeit lang ihren Buchpaketen über mehrere Stationen hinweg hinterhergerannt sind. Ich glaube auch gar nicht, dass das Internet irgendwann den ganzen Handel mit Büchern beherrschen wird. Ich sehe täglich, wie Kundinnen erst auf die Idee kommen, ein bestimmtes Buch zu kaufen, nachdem sie bei uns in dieses reingeblättert haben."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Buchhandel

Europa

In der FAZ greift Michaela Wiegel Jürgen Habermas' europapolitischen Essay aus dem Spiegel auf (der leider nie online stand) und konstatiert richtig beschämt, wie wenig europäische Initiative die deutsche Politik aufbringt und Emmanuel Macrons Ideen nicht Konstruktives entgegensetzt: "Im engsten Stab um den Präsidenten wird Deutsch gesprochen. Macrons Redenschreiber Sylvain Fort hat Schiller ins Französische übersetzt, sein diplomatischer Chefberater Philippe Etienne wirkte als Botschafter in Berlin. Das bedeutet, dass Macron nicht ignoriert, wie seine Initiative gemeinhin auf die Frage verengt wird: Was wird Deutschland dafür zahlen müssen? Langsam wundert man sich in Frankreich darüber, wie sehr die öffentliche Debatte im Nachbarland von der Annahme bestimmt ist, in Wahrheit hätten es die EU-Partner alle auf deutsche Geldtöpfe abgesehen."

In Warschau hat sich am 19. Oktober ein Mann selbst verbrannt, um  gegen die Politik der rechtspopulistischen Regierung zu protestieren, die er in einem Manifest anprangerte. Der Fall lässt die polnische Öffentlichkeit, die sich an eine Welle von Sebstverbrennungen in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR in den Siebzigern erinnert, sprachlos, schreibt Gerhard Gnauck in der FAZ: "Ist Selbstverbrennung heute noch oder wieder 'angemessen'? Ist Polen tatsächlich auf dem Weg in eine Einparteienherrschaft? Was bedeutet das Aufleben dieser Protestform?"
Archiv: Europa