9punkt - Die Debattenrundschau

Die Einübung des öffentlichen Sprechens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2017. Es gibt Fortschritt, insistiert der Psychologe Steven Pinker in der NZZ. Spanien braucht eine neue Verfassung, ruft der katalanische Autor Ignasi Ribó in politico.eu. Wenn jeder ein Medium ist, dann muss auch jeder Journalismus lernen, meint der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der FR. Die #MeToo-Debatte geht weiter. Wir zitieren einige Artikel aus der Flut der Äußerungen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.11.2017 finden Sie hier

Europa

Spanien braucht eine neue Verfassung, die die Verfassung von 1978 ersetzt, fordert der katalanische Autor Ignasi Ribó in politico.eu. Darin sollte sowohl das Recht auf Selbstbestimmung von Regionen als auch die territoriale Integrität Spaniens festgeschrieben sein, und es müssten neue Mechanismen des Interessenausgleichs gefunden werden: "Angesichts der aktuellen demografischen und politischen Bedingungen lassen sich weder die von der Unabhängigkeitsbewegung erträumte katalanische Republik noch das von den Unionisten gewünschte homogene Spanien ohne Rückgriff auf Gewalt, die von den meisten Leuten auf beiden Seiten abegelehnt wird, verwirklichen. Was ist also zu tun? Wenn keine Seite der anderen ihr Projekt aufzwingen kann, werden beide Konzessionen machen müssen, so wie sie es auch 1978 taten."

Warschau war Schauplatz einer schockierend großen rechtsextremen Demo, bei der sich offenbar nicht nur Polen trafen, schreibt Matthew Taylor im Guardian: Der "Umzug findet jährlich statt und sollte ursprünglich die polnische Unabhängigkeit im Jahr 1918 feiern. Aber laut Nick Lowles von der britschen, den Extremismus bekämpfenden Organisation 'Hope Not Hate', ist er zu einem wichtigen Versammlungsort internationaler rechtsextremer Gruppen geworden. 'Die Zahlen waren nie höher als in diesem Jahr, unzweifelhaft ein Magnet für rechtsextreme Gruppen in der ganzen Welt.'"

Zwei Jahre nach den Anschlägen von Paris vom 13. November 2015 mit 130 Toten resümieren Hakim El Karoui und Naima M'Faddel in Libération, wie weit der Kampf gegen den Dschihadismus in Frankreich politisch gekommen ist: Die Sicherheitsbehörden arbeiten besser, das Terror-Risiko ist deutlich verringert, konstatieren sie, aber das Schwerste bleibt noch zu tun: "Ein Großteil der Arbeit betrifft den Islam: Seine Organisation in Frankreich ist dysfunktional, sie muss früher oder später reformiert werden. Das ist vielleicht kein direktes Mittel gegen den Terrorismus, doch eine effiziente Organisation der Muslime könnte wenigtens die Debatten anders ausrichten, die religiösen Praktiken erneuern und das Bild des Islams in Frankreich verbessern. Ein anderer wichtiger Punkt: anders über Religion reden als Fundamentalisten und Terroristen. Hier ist die Situation dramatisch, die Stimmen des aufgeklärten Islams sind im Internet quasi inexistent. Salafisten und politische Islamisten teilen sich den Markt. Aber hier steht der Islam nicht allein in der Pflicht: Auch außerhalb der Religionen müssen soziale Bindungen verbessert werden."
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Medien

Im FR-Interview mit Joachim Frank fordert der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, die Leute auch fit zu machen für die große Medienrevolution: "Jeder ist zum Sender geworden. Die Deutungsautorität der mächtigen 'Gatekeeper-Medien', die darüber entscheiden, was öffentlich wird und was nicht, geht zu Ende. Und darin steckt eine große, noch unverstandene Bildungsaufgabe, die sich nicht durch ein paar Medienkompetenzseminare lösen lässt... Jeder muss heute als selbstverantwortlicher Publizist agieren, das ist das Fernziel auf dem Weg zu einem zivilen Diskurs. Eben dazu braucht es aber, spätestens in der Schule, die Einübung des öffentlichen Sprechens. Und man muss sich damit befassen, was seriöse Quellen sind, wem man in der Kommunikation vertrauen kann - und wem eben nicht."
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Internet

In der NZZ sieht Adrian Daub die vielbeschworenen Smart Cities direkt in eine Diktatur der Daten führen: Denn es werden nicht nur die Ampelschaltungen und Fensterverdunkelungen optimal gesteuert, sondern auch die Bürger: "Der Dataismus macht alles gleichförmig: vom Abfall über den Verkehr bis hin zur Politik. Der Bürger ist im Kontrollnetzwerk der Smart City bloß ein Datenpaket."
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Stichwörter: Smart Cities, Daub, Adrian

Ideen

In der NZZ plädiert der Psychologe Steven Pinker für mehr Fortschrittsglauben und aufklärerisches Selbstbewusstsein. "Die Segnungen des Fortschritts, die wir bis dato genießen durften, resultieren aus Institutionen und Normen, die in den letzten 200 Jahren Wurzeln geschlagen haben: Vernunft, Wissenschaft und Technik, Bildung, Fachkenntnisse, Demokratie, geregelte Märkte sowie eine moralische Verpflichtung für Menschenrechte und das Gedeihen der Menschheit. Wie gegenaufklärerisch eingestellte Kritiker seit langem betonen, können diese Entwicklungen uns kein besseres Leben garantieren. Dennoch wissen wir mittlerweile, dass es uns dank ihnen aber sehr wohl bessergeht... Wir sollten uns bemühen, diese Prinzipien zu verbessern, statt sie in der Überzeugung niederzureißen, nichts könne schlimmer sein als unsere augenblickliche Dekadenz, nur weil die vage Hoffnung besteht, dass aus den Ruinen Besseres erstehe."
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Gesellschaft

Am Samstag hat Thea Dorn die #MeToo-Kampgne kritisiert und eine Hypermoralisierung der Öffentlichkeit beklagt (unser Resümee) - und dafür böse Reaktionen auf Twitter geerntet. Heute bezieht die Bloggerin Annemarie Kohout eine ähnliche Position wie Dorn: "Mit #MeToo wird nicht nur jeder (Mann) unter Generalverdacht gestellt und damit verurteilt, ihm wird auch, kommt es zu einem Vorwurf, dem man merkwürdigerweise immer und sofort Glauben schenkt, jedes Recht genommen, Fehler einzugestehen und sich zu entschuldigen, oder eine Gegendarstellung zu erbringen. Es wird nicht gefragt oder reflektiert, wie ein Verhalten zustande gekommen ist, es wird erbarmungslos gewertet, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Milde walten zu lassen."

Die Vorstellung, man könne Kunst vom Künstler trennen, findet Claudius Seidl in der FAS jedenfalls illusorisch: "Mag schon sein, dass Caravaggio, nur zum Beispiel, ohne seine eigenen Lebenserfahrungen die Judith, wie sie Holofernes tötet, nicht ganz so drastisch gemalt hätte. Und trotzdem verhält sich ein Gemälde Caravaggios zur Person Caravaggio so kategorisch anders als eine Rolle, die Spacey spielt, zur Person Kevin Spacey... Ein Schauspieler hat eben, zumal im Kino, wo Präsenz und Körperlichkeit viel mehr zählen als Mimikry und Verstellungskunst, nur seinen Körper und sein Gesicht, seine Stimme."

Auch im Tagesspiegel beschleicht Kai Müller ein ungutes Gefühl, wenn Hollywood jetzt damit beginnt, eine Persona Non Grata wie Kevin Spacey aus Marktkalkül aus bereits abgedrehten Filmen zu schneiden und durch einen neuen Schauspieler zu ersetzen: "Sollten wir Kinski-Filme verabscheuen, weil er seine eigenen Kinder missbrauchte?"

Außerdem: Die Soziologin Barbara Kuchler stellt in Zeit online gleich ganz grundsätzliche Fragen und fordert neue Kleiderordnungen: "Werft die High Heels auf den Müll!" Auch in der Welt erinnert Sarah Pines daran, dass Sexismus kein Privileg mächtiger Männer ist: "Was ist mit den Weinsteinerinnen, mit sexistisch-chauvinistischen Frauen, Frauen, die Frauen fertigmachen? Zum Beispiel Heidi Klum in 'Germany's Next Topmodel', die nun schon fast zwölf Jahre lang junge, hübsche Frauen für Aussehen, Gewicht und Verhalten drangsaliert und beleidigt." Ebenfalls in der Welt empört sich Thomas Schmid über das FAZ Magazin, in dem Karl Lagerfeld Harvey Weinstein mit Schweinekopf abbilden durfte: "Man macht Menschen nicht zu Tieren."
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