9punkt - Die Debattenrundschau

Auch eine nukleare Option

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2017. Heute ist Wahl in Katalonien. Aber sie könnte unklar ausgehen, warnt die taz. Die Debatte um das von Lamya Kaddor verfälschte Necla-Kelek-Zitat geht weiter: FAZ und Welt erkunden den Spalt zwischen Sagen und Meinen. In Zeit online glaubt Robin Detjen nicht, dass die SPD so mir nichts dir nichts wieder modern werden kann.  Und alle Medien im Internet fürchten Googles Adblocker.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.12.2017 finden Sie hier

Europa

Es könnte heute in Katalonien einen unklaren Wahlausgang geben, meint Rainer Wandler in der taz: "Zünglein an der Wage wird wohl die Partei CeCP der Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau mit ihrem Spitzenkandidat Xavier Domènech. Diese Formation, der auch die linksalternative Podemos angehört, sucht nach einem dritten Weg zwischen einseitig verkündeter Unabhängigkeit und Zwangsverwaltung. Sie verlangt eine tiefgreifende Reform der spanischen Verfassung, um dem plurinationalen Charakter Spaniens gerechter zu werden."

Ja, die Zentralregierung in Madrid hat Fehler gemacht, meint Welt-Autor Thomas Schmid in seinem Blog: "Doch die Sturheit Madrids setzt die katalanischen Nationalisten keineswegs ins Recht. Denn unterdrückt ist Katalonien wahrlich nicht. Die Region, Barcelona voran, prosperiert (Chemie, Pharmazie, Dienstleistungen, Automobilindustrie). Und sie ist mit der Zentralregierung keineswegs in einer mörderischen Transferunion verbunden, die die Katalanen an den Bettelstab brächte. Die kulturelle und sprachliche Autonomie ist durchgesetzt, und über weitere Selbstbestimmungsrechte ließe sich mit einer nicht verstockten Zentralregierung leicht reden."

Zum ersten Mal leitet Brüssel nach der Gleichschaltung der Justiz in Polen ein Verfahren wegen Gefährdung von Grundwerten gegen ein EU-Land ein, berichtet unter anderem Eric Bonse in der taz. Die bangste Frage ist, was passiert, wenn nichts passiert: "Darüber möchte Brüssel lieber nicht nachdenken. Die EU-Kommission hat schon jetzt Autorität eingebüßt, weil sie zwei Jahre lang nicht in der Lage war, die Rechtsregierung in Warschau in die Schranken zu weisen. Für ein Scheitern im Ministerrat wäre aber nicht nur Brüssel verantwortlich - dort sind alle EU-Staaten gefragt."

In Istanbul will Staatschef Erdogan das große Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz abreißen lassen und an seine Stelle einen eigenen Kulturpalast aufstellen, berichtet Constanze Letsch in der NZZ. Bei Künstlern findet er dabei keine Unterstützung: "Bei der Enthüllung des AKM-Entwurfs versprach Präsident Erdogan, das neue Kulturzentrum werde nicht nur wie bisher einer kleinen Elite, sondern allen Bürgern offenstehen. 'Das ist nichts weiter als Irreführung, eine glatte Lüge', sagt [der Dokumentarfilmer und Filmkritiker Necati ] Sönmez verärgert. 'Das AKM stand immer allen offen. Es ist ja die AKP, die in Istanbul Kulturzentren baut, die nur noch Menschen mit Geld zugänglich sind.' Der Filmkritiker meint das kontroverse Zorlu-Center im Istanbuler Stadtteil Sisli, das sowohl ein Hotel und ein riesiges Einkaufszentrum als auch ein Multiplexkino und ein privates Theater beherbergt, wo Tickets oft wesentlich teurer sind als früher im AKM."

Güner Yasemin Balci glaubt in einem Deutschlandfunk-Kommentar den Betroffenheitsfloskeln deutscher Politiker, wenn es um Antisemitismus geht, nicht - dagegen spricht für sie angesichts der jüngsten antiisraelischen Demos in Berlin, dass die Politik mit Islamverbänden zusammenarbeitet und zu sehr auf "Dialog" der Religionen aus sei. Am Tag der Demo, so Balci, feierte Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime, zusammen mit Rabbinern das Chanukkah-Fest: "Was man dabei wissen sollte: gerade Mitglieder jenes Zentralrates, wie zum Beispiel der Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland riefen zuvor dazu auf, alle bevorstehenden Freitagspredigten zu vereinheitlichen, mit der Botschaft, Jerusalem gehöre allen Muslimen und deshalb sollten alle Muslime weltweit dafür auf die Straße gehen."

Außerdem: In politico.eu schildert Lili Bayer die deprimierende politische Gemengelage in Ungarn, wo einige linke Parteien mit der rechtsextremen Partei Jobbik, die aber inzwischen Kreide gefressen habe soll, kooperieren wollen, um bei den Wahlen eine Chance gegen Viktor Orban zu haben. Und der Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof erklärt in der FAZ, warum er Volksabstimmungen für das richtige Mittel hält, um das "Demokratiedefizit" in der EU abzubauen.


Debatte um das von Lamya Kaddor verfälschte Necla-Kelek-Zitat

In der FAZ greift Thomas Thiel die Debatte um das von Lamya Kaddor verfälschte Necla-Kelek-Zitat auf (unsere Resümees) - und geht auch auf den gestern hier schon zitierten Facebook-Thread ein: "Daniel Bax hält bereits die Zitierpflicht für eine Zumutung: 'Bei Elsässer [Chefredakteur der rechtspopulistischen Zeitschrift Compact] oder Höcke würden wir doch auch nicht fragen, wie er diesen einen Satz nun genau gemeint hat. Weil wir den Kontext kennen.' Soll heißen: Wenn die Meinung nicht passt, ist der Wortlaut gleichgültig."

Auch Perlentaucher Thierry Chervel kommentiert den Casus noch einmal in der Welt: "In dieser Affäre geht es um den einfachen Unterschied zwischen Sagen und Meinen. Kelek hat etwas gesagt. Ihre Feinde meinen, sie habe etwas gemeint, und biegen sich ihr Zitat zurecht. Und natürlich treten sie nicht in die von Kelek erwünschte konstruktive Debatte ein, sondern benutzen die vermeintliche Tatsache, um sie als nunmehr erwiesene Rassistin von der Debatte auszuschließen."
Archiv: Europa

Geschichte

Jan-Philippe Schlüter und Christiane Habermalz resümieren in einem Feature für Dlf Kultur die Diskussion um die Anerkennung des Völkermords an den Hereros und den Namas: "In Namibia wird außerdem erwartet, dass Deutschland auch materielle Entschädigungsleistungen zahlt, um die sozialen Folgen des Völkermords zu mildern, die bis heute in Namibia sichtbar sind. Denn die Deutschen beschlagnahmten damals das Land der ermordeten oder vertriebenen Herero und Nama und gaben es an deutsche Farmer, in deren Besitz es zum großen Teil noch heute ist."
Archiv: Geschichte

Ideen

Sigmar Gabriel scheint ein bisschen Mark Lilla gelesen zu haben und macht jetzt die Postmoderne verantwortlich für den Niedergang der SPD (für den sie ja eventuell auch selbst verantwortlich sein könnte). Robin Detje nimmt ihm das in Zeit online nicht ab: "Gabriel verkauft Kapitalismuskritik als Weg zurück in die moralischen Grenzen von 1937, und zwar weil die Menschen 'Sicherheit und Orientierung' brauchen, denn sie befürchten den 'Verlust jeglicher Ordnung'. Früher, mit etwas weniger Freiheit und Individualismus, so Gabriels Versöhnungsangebot an die sogenannten Abgehängten, war es doch auch schön."
Archiv: Ideen

Internet

Der Browser Google Chrome kommt ab Februar mit eingebautem und in den Voreinstellungen aktiviertem Adblocker, schreibt Mathew Ingram in der Columbia Journalism Review: "Die Firma sagt, sie wolle damit das Chaos der Online-Werbung beseitigen, die mit Pop-Ups, 'Interstitials', selbst losgehenden Videos und anderem Müll nervt. Und die Firma sagt, sie wolle nur solche Werbung blockieren, die den Kriterien der 'Coalition for Better Ads' (zu der Google gehört) nicht entsprechen. Das Blocking hat aber auch eine nukleare Option: Wenn eine Website wegen schlechter Werbung 30 Tage lang unter eine gewisse Schwelle fällt, wird Google alle Anzeigen auf der Seite blockieren, bevor es aktiv wird, um die Probleme irgendwann zu beseitigen."
Archiv: Internet
Stichwörter: Google, Google Chrome, Adblocker