9punkt - Die Debattenrundschau

Der Dank der übrigen Königssippe

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.10.2018. Selbst enttäuschende Revolutionen haben einen Nutzen, schreibt der Dichter Serhij Zhadan in der SZ. Der Politologe Christoph Butterwegge findet in der taz, dass die anderen Parteien nicht inhaltlich genug mit der AfD streiten. In der FAZ schreibt Bülent Mumay über die bizarre Informationspolitik der Türken im Fall Khashoggi - während zugleich auch türkische Journalisten im Exil die Konsulate ihres Landes nicht mehr betreten können. Die FAZ beschreibt auch, wie die Nowaja Gaseta in Russland bedroht wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.10.2018 finden Sie hier

Europa

Als die Ukrainer 2014 den Meschyhirja Palast von Präsident Janukowitsch stürmten, hatten sie es vor Augen: so lebte der Präsident, mit seinem goldenen Brotlaib, den Straußenvögeln und dem Bett eines Diktators. Inzwischen haben sie gelernt, dass die Zeit der Paläste mit Janukowitschs Sturz nicht vorbei ist, schreibt der Dichter Serhij Zhadan in der SZ. "Daran ist nichts Neues - Revolutionen haben nicht nur die Fähigkeit, zu faszinieren, sie öffnen auch die Augen. Die ukrainischen Ereignisse von 2014 sollten eine Lehre gewesen sein. Davon, dass eine Revolution - wenn wir über eine echte Revolution sprechen, die die Grundlagen des politischen Systems zerstört und einen Impuls für ernsthafte gesellschaftliche Veränderungen gibt - nicht nur einen Wechsel im Amt des Präsidenten bedeutet. Es geht um die neuen Spielregeln in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, die in der Zukunft einen Diktator verhindern sollten. ... Anders gesagt, die Geschichte von Meschyhirja sollte uns lehren, dass die Eroberung des Palastes eines Diktators noch kein Sieg ist. Der Sieg ist, wenn es keine Diktatur mehr gibt. Die Revolution kann oft enttäuschen. Aber selbst eine Revolution, die enttäuscht, kann uns etwas lehren. Wenn der Wunsch zum Lernen da ist."

Europa ist in Gefahr, weil die Populisten immer mehr nationalistischen Hass nach Mustern schüren, die die EU gerade überwinden wollte, schreibt Natalie Nougayrède im Guardian: "Der Volkszorn, von dem sich die Populisten ernähren, scheint bewusst auf eine immer größere Zahl von Zielen losgelassen zu werden und so eine Art psychologischen 'Bürgerkrieg' in Europa anzuheizen. Man muss sich nur die Abfolge der letzten Jahre ansehen: Zuerst beschimpften die Populisten die gemeinsame Währung und Politiken, die damit verbunden waren (die rechte AfD in Deutschland ist hierdurch entstanden). Dann wurden die Migranten anvisiert... Nun sind wir in eine Phase eingetreten, wo sich die Europäer gegeneinander wenden."

Vor der Redaktion der russischen Zeitung Nowaja Gaseta wurden in den letzten Tagen Grabkränze für Redakteure und ein blutiger Schafskopf abgelegt. Grund für diese Drohgesten sind die Recherchen des Redakteurs Dennis Korotkow über den Waldimir Putin sehr nahestehenden Milliardär Jewgenij Prigoschin, schreibt Marie Katharina Wagner in der FAZ: "In der Nowaja Gaseta beschrieb nun ein früherer Mitarbeiter Prigoschins, wie er für den Milliardär Gegner beschattet oder gar beseitigt habe. Über Mittelsmänner habe er Aufträge bekommen wie den, eine Frau in einen vorgetäuschten Verkehrsunfall zu verwickeln, mit der Prigoschin in einen Immobilienstreit verwickelt war, oder einen unliebsamen Blogger in der Stadt Pskow zu vergiften."
Archiv: Europa

Internet

Screenshot aus sueddeutsche.de
Schon erstaunlich, dass ein (allenfalls mäßig kritischer) Artikel über Google, "die Antwortmaschine", auf sueddeutsche.de gleich mit mehreren Google-Anzeigen gespickt ist! Simon Hurtz kündigt darin an, dass Google zusehends von seiner einst so angenehm minimalistischen Homepage abgehen wird, um den Verbraucher gleich von vornherein mit aufdringlichen Hinweisen und natürlich Werbung zu bombardieren: "Wer dann Google.com oder Google.de auf seinem Smartphone eingibt, sieht das gewohnte Suchfeld - und darunter eine lange Liste mit Artikeln, Videos und anderen Vorschlägen. Dieser Feed erinnert an soziale Netzwerke, und ähnlich wie Facebook und Twitter könnte Google auch Werbung darin anzeigen, erste Experimente laufen bereits."

Ebenfalls auf sueddeutsche.de fordert Valentin Dornis einen Ethik-Kodex für Algorithmen. Anlass ist der Versuch Österreichs, Arbeitslose per Algorithmus zu verwalten. Der Kodex soll die mögliche Diskriminierung von Frauen, Alten und Langzeitarbeitslosen verhindern: "Die größte Sorge ist, dass ... das Leistungsprinzip zum ultimativen Grundsatz wird: Wer schlechte Kennzahlen in der Akte stehen hat, der wird nicht gefördert und weiß im Zweifel nicht einmal, warum. Diese Sorge ist berechtigt, aber kein Grund, auf automatisierte Systeme zu verzichten. Nötig sind klare Regeln, wenn staatliche Institutionen Algorithmen einsetzen."
Archiv: Internet

Politik

Die Abgeordneten der konkurrierenden Parteien könnten sich in den Parlamenten überzeugender mit der AfD auseinandersetzen, meint der Politologe Christoph Butterwegge im Gespräch mit Sabine am Orde von der taz: "Das passiert häufig nicht oder nur sehr inkonsequent. Zum Teil verweigern sich die Mitglieder der anderen Fraktionen, indem sie beispielsweise keine Zwischenfragen von AfD-Abgeordneten zulassen. Dabei ließen sich deren zum Teil von wenig Sachkenntnis zeugenden Beiträge gut widerlegen. Es hilft alles nichts: Man muss mit ihnen reden, ohne allerdings wie sie zu reden."

Bülent Mumay sinniert in seiner FAZ-Kolumne über die verblüffende Informationspolitik der türkischen Regierung im Fall Jamal Khashoggi: "Die Istanbuler Polizei unterrichtete die türkische Presse von keinem einzigen Detail in Bezug auf das Verbrechen. Stattdessen werden die Einzelheiten des brutalen Mords an die amerikanische Presse durchgestochen. Damit will man über die amerikanische Öffentlichkeit Trump dazu bewegen, zur saudischen Führung auf Abstand zu gehen, und das der Türkei gegenüberstehende Bündnis auszuhebeln." Und inzwischen, so Mümay, werden türkische Journalisten mit Verweis auf Kahshoggi bedroht: "Ein Getreuer des Mafiabosses Sedat Peker, der Kundgebungen zur Unterstützung Erdogans organisiert hatte, drohte dem im Exil lebenden türkischen Journalisten Can Dündar: 'Geh mal ins Konsulat, wir wollen etwas ausprobieren...'  Christian Geyer weist im Aufmacher des FAZ-Feuilletons außerdem daraufhin, dass es nciht erst des Khashoggi-Mords bedurft hätte, um Waffenliederungen an Saudi-Arabien einzustellen.

Für Erdogan dient der Fall Khashoggi zum reinen Machtpoker im Kampf um die Vorherrschaft im sunnitisch-muslimischen Lager des Nahen Ostens, meint Daniel Steinvorth in der NZZ. "Solange Saudiarabiens Kronprinz im Westen seinen Glanz verliert, kann sich der türkische Präsident dem Westen als verlässlicherer und zivilisierterer Partner präsentieren. Zugleich scheint sich Erdogan aber auch gegenüber dem Königreich alle Optionen offenzuhalten. Dass er sich bei seiner Rede am Dienstag mit neuen Details zum Mordfall zurückhielt und die mutmaßlichen Auftraggeber im Königshaus nicht beim Namen nannte, war bezeichnend. Es könnte gut sein, dass der türkische Präsident die Saudi weiter genüsslich vorführen will. Es könnte aber auch sein, dass Erdogan am Ende auf einen guten Deal, vielleicht sogar auf einen Machtwechsel in Riad spekuliert."

Mohammed bin Salman soll als saudischer Thronfolger gestürzt werden - so sieht das auch Martin Gehlen in der FR: "Erdogan weiß sich darin mit Zweigen der Königssippe einig, die das Machtgebaren des Salman-Sohnes lieber heute als morgen beenden möchten. Sollte der greise König Salman diesem Druck weichen müssen, wäre Erdogan der Dank der übrigen Königssippe sicher - und damit auch viele neue Investitionsmilliarden aus dem saudischen Staatsschatz."
Archiv: Politik