9punkt - Die Debattenrundschau

Zu einem wilden Rauschen befreien

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2019. Libération blickt nach Algerien, wo sich die Jugend gegen die taube und blinde Macht des greisen Bouteflika erhebt. Die CJR sorgt sich um die freie Presse in Venezuela. In der SZ kann sich Evgeny Morozov eine fortschrittliche digitale Zukunft nur noch ohne Tech-Konzerne vorstellen. Die taz fragt, wie viel Lobbyismus hinter dem Digitalpakt steckt, mit dem jetzt auch noch die Daten von SchülerInnen abgegriffen werden. Die NZZ beklagt, dass die Ströme der freien Rede dem Hashtag unterworfen wurden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.03.2019 finden Sie hier

Politik

Gestern haben wieder mehrere Zehntausend in ganz Algerien gegen eine fünfte Amtszeit des greisen Abdelaziz Bouteflika demonstriert. In Libération sehen Célian Macé und Lyas Hallas ein Land aus der Starre erwachen: "Es gibt keinen Gemüsehändler, der sich wie Mohamed Bouazizi in Tunesien selbst verbrannte, noch gefolterte Kinder wie in Deraa in Syrien - die Funken, an denen sich der Arabische Frühling 2011 entzündete. Aber eine stetige Anhäufung von Groll gegen die taub und blind gewordene Macht des Präsdienten Abdelaziz Bouteflika. Tropfen für Tropfen hat sich das Fass gefüllt, jetzt läuft es über. Ruhig, aber unweigerlich."

Im Interview mit Libération berichtet zudem die Politikwissenschaftlerin Hala Kodmani von ihren Wahrnehmung: "In Algier ist die Spannung spürbar, die Mobilisierung bedeutend. Ich habe den Dienstag mit Studenten der Universität Ben Aknoun verbracht. Das war erstaunlich. Das erinnerte mich an die Demonstrationen der nuenziger Jahre, zu denen mich meine Mutter manchmal mitgenommen hatte. Die Algierier insgesamt, aber besonders die Jugend scheinen entschlossen. An der Ben Aknoun zum Beispiel haben es die Studenten geschafft, mehrere Polizeikordons zu durchbrechen und zur Autobahn zu kommen, die mehrere Stunden blockiert wurde. Die Entschlossenheit ist so groß wie die Verzweiflung."
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Ideen

In der "Ordnung des Diskurses" hatte Michel Foucault noch davon geträumt, die öffentliche Rede zu einem wilden Rauschen zu befreien, seufzt Claudia Mäder in der NZZ. Mit dem #Hashtag bleibt davon nichts mehr übrig. Emanzipation? Partizipation? Von wegen: "Vielmehr markiert das Hashtag die Eingliederung in eine rigide Ordnung, und sich dem Regime der Raute zu unterwerfen, ist geradezu Pflicht für jeden, der in der Weite der Netzwelt etwas zu sagen haben will. Den Ordnungsbefehl gibt keine äußere Macht, er ist das Resultat der inzwischen fest etablierten Struktur. Ihre Logik ist simpel, sie beruht auf reiner Akkumulation. Je häufiger ein Schlagwort gesetzt wird, desto weiter oben erscheint es im Ranking."

Daniele Dell'Agli plädiert im Perlentaucher für ein bedingungsloses Grundeinkommen: "Das weitverbreitete Ressentiment gegen ein solches Grundeinkommen zeigt doch nur an, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung, der gern bei Umfragen seine Zufriedenheit darüber bekundet, dass die Arbeitsplätze 'sicher' seien, in Wahrheit zutiefst frustriert ist, weil man entweder der falschen (ungewollten) Arbeit nachgeht bzw. diese als sinnlos oder schädlich empfindet - oder als erniedrigend, wenn man für sie überqualifiziert ist; oder weil man Gesundheit und Lebenszeit mit wechselnden, meist unnötig anstrengenden und unwürdigen Jobs für ein armseliges Entgelt verheizt..."
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Internet

Bisher hat keine einzige Studie den Nutzen von digitaler Technik für den Unterricht nachgewiesen, erinnert Nils Björn Schulz in der taz und fragt sich, ob der Digitalpakt für Schulen nicht auch Teil jener Schock-Strategie ist, mit der sich die Ökonomie einen staatlichen Bereich kapert: "Man kann nicht über den Digitalpakt reden, ohne über den neoliberalen digitalen Kapitalismus zu sprechen, dessen Ziel es ist, Daten in Geld zu verwandeln. Jetzt gilt es zum einen, für Schadensbegrenzung zu sorgen, und zum anderen, zu überlegen, wie der Digitalhype genutzt werden kann, um Schulen und Universitäten für kritische Diskurse zu öffnen - denn pädagogische Arbeit muss Erziehung zur Mündigkeit sein. Diese Forderung formulieren immerhin noch die meisten Lehrpläne. Wenn es heißt, wir müssen die Jugendlichen 'fit fürs digitale Zeitalter machen', so darf das nur bedeuten: Bringt ihnen bei, wie sie sich dem Zugriff großer IT-Konzerne entziehen, wie sie deren Tracking-Strategien durchschauen, wie sie den gesenkten Blick aufs Smartphone in eine aufrechte Haltung verwandeln."

Der wachsende Widerstand gegen die Tech-Konzerne sei ja gut und schön, meint Evgeny Morozov in der SZ, aber solange er sich aus so unterschiedlichen Motiven speise, werde er nirgendwohin führen. Die Ökonomisten in Kalifornien wollten per Datendividende die Verbraucher an dem Reichtum aus Daten beteiligen. Die Technokraten in Brüssel wollen die Macht der Tech-Konzerne mit dem Kartellrecht einhegen. Morozov hält es mit den Utopisten: "Es geht ihnen weniger darum, Missstände von Big Tech zu beheben, sondern um eine fortschrittliche digitale Zukunft. Was könnten digitale Technologien dazu beitragen, politische Institutionen, einschließlich der repräsentativen Demokratie und ihres bürokratischen Apparats, dezentraler und partizipativer zu gestalten? Die Vertreter dieser Ansicht stellen sich die Bürger nicht als kultivierte und emanzipierte Verbraucher vor, die von ethischeren digitalen Kapitalisten der Zukunft bedient werden, sondern als aktive, politische und gelegentlich auch unternehmerische Subjekte."
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Medien

Nach dem Rauswurf des amerikanischen Star-Journalisten Jorge Ramos aus Venezuela blickt die Columbia Journalism Review auf den betrüblichen Zustand der Medien im Land. Der venezolanischen Journalistengewerkschaft SNTP zufolge wurden mindestens sechzig private Medien unter dem Chavismo geschlossen: "Wer nicht geschlossen oder von der Regierung zum Verkauf gezwungen wurden, den traf die wirtschaftliche Rezession."

Auf Uebermedien dröselt Stefan Niggemeier auseinander, mit was für fragwürdigem Datenmaterial der Unternehmer, Blogger und FAZ-Autor Volker Rieck beweisen wollte, dass die Kampagne #SaveTheInternet gegen das neue europäische Urheberrecht von amerikanischen Botfarmen aus gesteuert worden sei: "Die Daten, auf die sich Rieck stützt, sind falsch und damit auch die Schlüsse, die er aus ihnen zieht. Die Auswertungssoftware, die er benutzt, scheint englischsprachige Twitter-Accounts, die keine explizite Ortsangabe enthalten, pauschal in der amerikanischen Hauptstadt zu verorten. Auf diese Weise wurden selbst Tweets der deutschen Europa-Abgeordneten Julia Reda in die USA verlegt - und von Rieck als Indiz für transatlantische Einflussnahme gewertet." Netzpolitik gibt einen Überblick über alle anstehenden Demonstrationen gegen das Gesetz.
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