9punkt - Die Debattenrundschau

Geste sozialer Verachtung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2020. Die NZZ rekapituliert, wie der Krieg gegen Drogen in den USA zur Masseninhaftierung schwarzer Männer führte. In der Welt meldet Jeremy Adler Zweifel am Konzept des kulturellen Gedächtnis an, mit dem Aleida und Jan Assmann Wissenschaft im Irrationalen angeblich grundierten. Ebenfalls in der Welt entschlüsselt Adrian Lobe die paranoide Logik des Tracings. Und die Polizei-Kolumne schlägt in der taz immer höhere Welle: Unter anderem kritisiert Stefan Reinecke die Hybris, aus der Minderheitenposition diskursive Regeln ignorieren zu dürfen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.06.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Empirie! In der NZZ schlüsselt Meret Baumann sehr genau auf, wie Amerikas Justiz Schwarze härter und häufiger bestraft als Weiße: "Der Kampf gegen Drogen ist deshalb Ursache sowohl für die Masseninhaftierung generell als auch für die Ungleichbehandlung der Ethnien im Besonderen. Obwohl Afroamerikaner 13 Prozent der Drogenkonsumenten ausmachen, was ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, betreffen 36 Prozent der Verhaftungen und 46 Prozent der Verurteilungen wegen Drogendelikten Schwarze. Dabei handeln sie nicht öfter mit illegalen Substanzen als andere Bevölkerungsgruppen. Studien haben gezeigt, dass Drogenkonsumenten den Stoff in der Regel bei Angehörigen ihrer eigenen Ethnie beziehen."

In der FAZ sieht Paul Ingendaay die weltweiten Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt als überfälligen Impuls, langanhaltende und lange kleingeredete Ungerechtigkeiten ins Visier zu nehmen: "So verständlich es sein mag, dass sich Weiße in den wohlhabenderen Zonen der Erde darüber ärgern, wenn sie neue Begriffe und Bezeichnungen lernen sollen - wenn das Befremden darüber sich gelegt hat, müsste die Erkenntnis dämmern, dass hinter vielen Forderungen von Menschen afrikanischer Herkunft ein historisches Versäumnis steht, dessen wahre Dimension uns in den vergangenen Jahrzehnten, nicht zuletzt durch wissenschaftliche und künstlerische Arbeit, in seiner sprachlos machenden Unermesslichkeit vor Augen geführt wurde." Auf Politico meldet Maia de la Baume, dass das EU-Parlament in einer Resolution den Sklavenhandel zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt hat.

In einem sehr offenen Text in der taz berichtet Yasaman Soltani, wie sie am Leben in Deutschland verzweifelte, mit welcher Gehässigkeit sie immer wieder konfrontiert wurde und wie sie schließlich zurück in den Iran ging, den ihre Eltern verlassen hatten, als sie selbst sechs Jahre alt war: "Die Armut war direkt vor der Haustür, die Menschen waren hilflos und wütend. Und ich - ich war hierhergekommen, um mich selbst zu finden? Ich schämte mich. Der Blick vieler Menschen schien zu sagen: 'Die hat keine Ahnung. Diese verwöhnten Europäer, die dort im Überfluss leben, wissen nicht, was wirkliche Probleme sind.' Und sie hatten recht. Das dicke Fell, das sich die Menschen hier hatten zulegen müssen, fehlte mir. Nach einem halben Jahr machte mir alles zu schaffen. Die Luftverschmutzung, die mir in meiner Wohnung den Atem nahm, das Chlor im Wasser, das unter der Dusche in meinen Augen brannte, das blöde Kopftuch, das meine Haare platt drückte. Ich gehörte nicht mehr zu diesem Land, schon lange nicht mehr. Doch ich wollte bleiben, mir beweisen, dass es ging. Wie konnte ich nach sechs Monaten aufgeben und einfach an das Leben in Deutschland anknüpfen? Es war kein Entweder-oder, es war zu einem Weder-noch geworden."
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Ideen

In der Welt macht der britische Germanist Jeremy Adler grundsätzliche Zweifel am Konzept der kulturellen Gedächtnisses geltend, mit dem Aleida und Jan Assmann seit mehr als zwanzig Jahren die Erinnerungskultur in Deutschland prägen. Sie knüpften damit an den französischen Soziologen Maurice Halbwachs an, der das kollektive Gedächtnis in einem Rahmen von Texten und Institutionen, Menschen und Ideen verortete: "Das 'Gedächtnis' im Assmannschen Modell stellt die Ursache sämtlicher menschlicher Betätigungen dar, es wirkt wie eine Totalerklärung. Alles, was gemeinhin Religion und Mythologie, Philosophie und Wissenschaft, Literatur und Kunst, Ethik und Recht ermöglichten, soll nun das 'kulturelle Gedächtnis' leisten; es ist das einzige Erklärungsprinzip. Das bedeutet aber, die Wissenschaft im Irrationalen zu grundieren, alles bleibt im Reich der Behauptungen. Das Assmannsche Geschichtsbild läuft auf eine Substanzialisierung einzelner Völker oder Religionen hinaus - etwa 'Juden', 'Christen' oder 'Muslime', das Soziale, das für Halbwachs grundlegend war, entfällt."

Das moderne Individuum möchte zwar als anders und singulär wahrgenommen werden, aber erst in der Zugehörigkeit zu einer Minderheit findet es sein authentischen Selbst, wundert sich der Philosoph und Autor Alexander Grau in der NZZ: "Entsprechend wird die Minderheit auch moralisch aufgewertet. Als Produkt des modernen Individualismus übernimmt die Minorität auch dessen moralisches Überlegenheitsbewusstsein. In den Minoritäten und Subkulturen sammeln sich die Unangepassten und Nonkonformisten und damit die Vorkämpfer eines auch aus ethischer Sicht überlegenen Lebensstils. Als Teil einer Minderheit emanzipiert sich der Einzelne somit nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft, er gerät zudem in die moralische Offensive. Seine ganz persönlichen Wünsche werden nun, da Anliegen einer Minderheit, zu Minderheitenrechten geadelt."
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Überwachung

Auch als Corona-App bleibt das Tracking eine Militärtechnlogie, meint Adrian Lobe in der Welt, auch wenn Positionierung, Identifizierung und Targeting nicht notwendigerweise zur Eliminierung der Zielperson führen müssten. Aber alles, was sich bewegt, werde dabei verdächtig: "Die immanente Paradoxie der Trackingtechnologie besteht darin, dass sie ihre Zielobjekte - Pakete, Handybesitzer, Terroristen - ständig in Bewegung halten muss, um aussagekräftige
Positionsdaten zu generieren (Smartphone-Tracking bei Ausgangssperren würde ja kaum Sinn ergeben), diese Bewegungsmuster aber immer neue Spuren und Verdachtsmomente erzeugen, die sie kaum stoppen kann: Was hat Person X 20 Minuten in dem Gebäude gemacht? Warum ist Person Y vom üblichen Weg abgewichen? Wer hat sich Person Z auf zwei Meter genähert? Je mehr Daten man erfasst, desto mehr suspekte Verbindungslinien scheinen auf, und desto mehr Überwachung braucht es."
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Medien

Hengameh Yaghoobifarahs mittlerweile berüchtigte taz-Kolumne, in der sich die Autorin die Polizei auf den Müll wünschte, schlägt im Haus immer höhere Wellen. Chefredakteurin Barbara Junge rudert ein wenig zurück und findet nur das, dass "Satire fast alles darf". Stefan Reinecke will die Ausflucht in Satire-Floskeln eh nicht gelten lassen und nimmt die extreme Identitätspolitik mit ihrem Wir-Die-Raster in die Pflicht: "Die Hybris, diskursive Regeln ignorieren zu dürfen, gedeiht offenbar auf dem Humus des Bewusstseins, Betroffene zu repräsentieren, recht gut. Aber dieses Recht hat niemand in der taz. Kein Opferstatus rechtfertigt Kollektivherabwürdigungen. Polemik? Gerne. Menschenfeindliche Metaphorik? Nein...Das linksalternative Bild, dass eine taz-Autorin mit Migrationshintergrund, die 'nach oben' (Polizei) tritt, alles darf, weil sie angeblich aus einer Position der strukturellen Unterlegenheit schreibt, ist allzu gemütlich. Den Text durchzieht eine Geste sozialer Verachtung, die in der Müll-Metapher mündet. Die Polizisten, die unbrauchbar für alles sind - das ist der Blick von den Anhöhen diskursiver Bildungs- und Sprachmacht nach unten."

Auch Bettina Gaus will der Autorin nicht beistehen: "Die Achtung der Menschenwürde ist nicht verhandelbar, egal, wer sie verletzt. Deshalb werde ich die Kolumne, um die es hier geht, auch nicht brav nach außen hin verteidigen und nur intern kritisieren. Das wäre falsch verstandene Solidarität. Den Korpsgeist, der andere Organisationen auszeichnet, halte ich im Hinblick auf die taz nicht für erstrebenswert."

Auf Twitter nimmt Patrick Bahners in einem Thread Yaghoobifarah allerdings in Schutz. Ihr Text sei ein "dystopisches Gedankenspiel", mit dem sie Polizisten zeige, "wie das ist, wenn man einem Verdacht ausgesetzt ist, gegen den man sich nicht verteidigen" könne: "Eine maßlose Pointe, die es auf die Herstellung moralischer Gerechtigkeit abgesehen hat."

Und traurig,traurig: Nach 43 Jahren Berlin-Programm und Comics verabschiedet sich das Stadtmagazin Zitty, das aber unter dem Dach des Tips Zuflucht findet.
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