9punkt - Die Debattenrundschau

Gebildet, eher weiblich, Mittelschicht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2021. Ein Buch über den Fall des Lyrikers Wasyl Stus, der als Mitglied einer Helsinki-Gruppe in einem Gulag starb, erschüttert die Ukraine, erzählt Gerhard Gnauck in der FAZ. Wie halten es die Grünen mit den Grundrechten, fragen der Politologe Max Schulze und der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum in Zeit online. In der FAZ prangert Michael Bröning von der Grundwertekommission der SPD die Marktkonformität der neumodischen Linken an. In Amerika gründet der Autor Ibram Kendi zusammen mit dem Boston Globe eine neue Online-Zeitung unter dem Titel The Emancipator, die sich allein dem Thema Rassismus widmen soll, berichtet die New York Times.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.03.2021 finden Sie hier

Europa

Ein Buch des Autors Wachtang Kipiani über den Fall des Lyrikers Wasyl Stus, der als Mitglied einer Helsinki-Gruppe in einem Gulag starb, erschüttert die Ukraine, erzählt Gerhard Gnauck in der FAZ. Stus gilt den Ukrainern als einer der wichtigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts. Das Buch arbeitet KGB-Akten über Stus' Pflichtverteidiger Viktor Medwedtschuk auf, der als Büttel des Sowjetregimes eine Mitschuld an der Bestrafung Stus' trug: "Heute ist Viktor Medwedtschuk einer der führenden Oppositionspolitiker in Kiew, die sich gegen den Europakurs des Landes stemmen. Mit dem Besitz von etwa hundert Firmen haben es Medwedtschuk und seine Frau unter die reichsten zehn Familien des Landes geschafft. Außerdem ist Medwedtschuk ein Freund des russischen Präsidenten und gilt politisch als 'Putins Mann in der Ukraine'. Putin festigte die Bande als Taufpate von Medwedtschuks Tochter."

Michaela Wiegel berichtet in der FAS über den anhaltenden Streit an der Uni Grenoble (unsere Resümees), wo der Deutschprofessor Klaus Kinzler an seiner Kritik am Begriff der "Islamophobie" festhält und die Studentengewerkschaft Unef ihn weiterhin bekämpft. Nebenbei erklärt sie den Ursprung des Begriffs "Islamogauchisme": "'Islam-Linke' ist eine Wortschöpfung des Politikwissenschaftlers Pierre-André Taguieff und umschreibt das Bündnis linker Kräfte mit islamischen Fundamentalisten, das Anfang 2000 über gemeinsame Kritik an der Politik Israels während der zweiten Intifada entstand. Der sperrige Begriff meint dabei nicht, dass sich die Linke islamisiert habe, sondern vielmehr, dass in bestimmten linken Zirkeln aus ideologischen Gründen eine kritische Debatte über den Islam unterdrückt werde."
Archiv: Europa

Politik

Gerade haben die Berliner Grünen auf ihrem Parteitag die "Initiative "Deutsche Wohnen & Co enteignen" zur Enteignung von Wohnungskonzernen" befürwortet, meldet Zeit online. Aber überhaupt sind die Grünen jederzeit bereit, Bürgerrechte zu schleifen, wenn es ihrem Programm dient, kritisieren auf Zeit online der Politologe Max Schulze und der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum, der erstaunt vermerkt, wie gern ausgerechnet die Grünen, deren Gründer sich 1968 vehement gegen die Notstandsgesetze wehrten, heute den "den 'Klima- und Umweltnotstand' für Europa" ausrufen, Rechte für bestimmte Angeklagte beschneiden wollen oder - wie der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt - die Justiz auszuschalten, um genehme Richter ernennen zu können. "In Baden-Württemberg und Hessen haben die Grünen jeweils ausufernde Änderungen der Landespolizeigesetze mitgetragen. Die schwarz-grüne Koalition in Wiesbaden hat sogar Onlinedurchsuchungen erlaubt. Nur das bayerische Polizeirecht ist diesbezüglich noch schärfer."
Archiv: Politik

Gesellschaft

"Impfen ja, nein, vielleicht?" Cover der Zeitschrift Natürlich, für die gestern in der FAS geworben wurde.
Für die FAS begibt sich Florentin Schumacher nach Baden-Württemberg, das Land, wo die Grünen dreißig Prozent erreichen und die "Querdenker" herkommen. Deren Protest nennt er unter Bezug auf eine Studie des Soziologen Oliver Nachtwey "postmodern": "Mit einem abgehängten, rechten Provinzler hat die 'Querdenken'-Demonstrantin wenig zu tun. Gebildet, eher weiblich, Mittelschicht, enttäuscht von den Grünen, Misstrauen in Staat und Medien, nicht fremdenfeindlicher als der Durchschnitt, wichtige Themen sind Natur, alternative Medizin, Impfkritik."

Rainer Balcerowiak schildert in der taz nochmal die Fronten in der Berliner Kopftuchdebatte. Die scheidende Berliner Schulsenatorin Sandra Scheeres hält beharrlich am Berliner Neutralitätsgesetz fest, nun muss Karlsruhe entscheiden. Balcerowiak folgt ihren Argumenten: "In den wortmächtigen medialen Auseinandersetzungen über dieses Thema kommt eine Gruppe .. kaum zu Wort - die Betroffenen. Es sind längst keine Einzelfälle mehr, dass gerade muslimische Mädchen von Mitschülern und/oder Eltern massiv dazu gedrängt werden, ein Kopftuch zu tragen, als Symbol der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Weltanschauung und in Abgrenzung zu den 'Ungläubigen'. Lehrerinnen mit Kopftuch würden diesen Druck natürlich weiter befeuern."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Die Debatte um Identitätspolitik wird auch in Deutschland zusehends zu einer Debatte innerhalb der Linken. In der Welt kritisierte Bernd Stegemann die Ideen der postmodernen Linken (unser Resümee), in der FAS wies gestern Julia Encke auf eine kommende Neuerscheinung von Sahra Wagenknecht hin, die das gleiche tun wird. Heute meldet sich in der FAZ Michael Bröning (Friedrich-Ebert-Stiftung und SPD-Grundwertekommission) zu Wort, der an den Unis sehr wohl eine "Cancel Culture" und gleichzeitig die Marktkonformität der modischen Linken diagnostiziert: "Ausgehend von den Universitäten haben sich antifreiheitliche identitätspolitische Ansätze wie durch Copy and Paste längst in andere gesellschaftliche Systeme ausgebreitet - in die öffentliche Verwaltung, den kulturellen Sektor und in maßgebliche multinationale Unternehmen. Besonders zynisch gerade an der Beteiligung multinationaler Konzerne an dieser Entwicklung ist dabei, dass das 'virtue signaling' der Marktgiganten mit so gut wie keinen Kosten verbunden ist. Das Anprangern von 'strukturellem Rassismus' auf Twitter jedenfalls scheint mit dubiosen Lieferketten und unterbezahlten Lohnsklaven in Sweatshops durchaus kompatibel zu sein."

Encke resümierte die Streitigkeiten wie gesagt gestern in der FAS und rät: "Verbal abrüsten, präzise bleiben, zuhören, die Argumente und die Gefühle - ja, auch die - der anderen einmal kurz akzeptieren und zu verstehen versuchen, das würde allen Seiten helfen."

Bei Deutschlandfunk Kultur wendet sich der Philosoph Philipp Hübl gegen die Inflation des Rassismusbegriffs und vor allem gegen den Begriff des "strukturellen Rassismus": "Natürlich hat niemand ein Patentrecht auf theoretische Begriffe wie 'Rassismus'. Man kann sie so eng oder weit fassen, wie man will. Doch wenn alle Menschen per Definition rassistisch sind, wird der Begriff unbrauchbar: Er suggeriert, dass man ohnehin nichts tun kann - und er verharmlost Menschenfeinde, die jetzt in derselben Schublade wie Leute landen, die unschuldig fragen 'Woher kommst Du?"

In Amerika gründet unterdessen der Autor Ibram Kendi, einer der Urheber des neuen Rassismusbegriffs zusammen mit Bina Venkataraman vom Boston Globe eine neue Online-Zeitung unter dem Titel The Emancipator, die sich allein dem Thema Rassismus widmen soll, berichtet Ben Smith in der New York Times: "Die interessanteste Herausforderung wird darin bestehen, zu definieren, was es bedeutet, nach einem Jahr interner Debatten in amerikanischen Nachrichtenredaktionen neu zu starten, unter anderem mit der Frage, wann man das Wort 'Rassismus' verwenden sollte und was es überhaupt bedeutet. Sollte es für Nazis und Klanmenschen reserviert sein und mit äußerster Vorsicht verwendet werden, weil es so viel Macht hat? Oder sollte es, wie eine neue Generation von Schriftstellern argumentiert, auf alltägliche Erscheinungen amerikanischer Ungerechtigkeit angewendet werden?"

"Wie soll man reagieren auf diesen Pigmentierungswahn" der neuen Antirassisten, fragt in der NZZ der französische Philosoph Pascal Bruckner, angesichts der mittlerweile fast schon grotesken Bewegung, im weißen Mann den Sündenbock für alles zu sehen. Gelingen kann dies nämlich nur, weil die westliche Welt "ihre Verbrechen anerkennt - ihre hellsten Köpfe sprechen sie offen aus. Dies im Unterschied zu anderen Ländern und Reichen, die große Mühe bekunden, ihre Untaten zu gestehen. Man denke an Russland, das Osmanische Reich, die chinesischen Dynastien oder die Erben der verschiedenen arabischen Königreiche, die während fast sieben Jahrhunderten Spanien besetzten und Frankreich zu kolonisieren versuchten. Sogar die katholische Kirche hat in den 1960er Jahren, durch das Zweite Vatikanische Konzil, ein 'mea culpa' geleistet und Verblendungen eingestanden ... Hingegen warten wir noch auf den Tag, an dem sich der sunnitische oder der schiitische Islam einer Gewissensprüfung unterzieht und um Vergebung bittet für seine zahllosen Schandtaten."

Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, wendet sich in der FAZ gegen die Aktion zweier Künstler, die in einem Video vorschlugen, Deutsche als "Menschen mit Nazihintergrund" zu bezeichnen (unsere Resümees), auch wohl, um die Erfahrung eigener Diskriminierung in eine Linie mit der der Holocaust-Opfer zu stellen. Mendel hält an der universellen Bedeutung des Holocaust fest, unter anderem mit einem pragmatischen Argument: "Die Erfahrung der historisch-politischen Bildung der vergangenen Jahrzehnte zeigt deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht ausschließlich durch die Abstammung der Adressaten begründet werden darf. Nach dem Motto: Du musst dich jetzt mit der Schoa auseinandersetzen, weil dein Opa Täter war. Diese Haltung ist nicht nur moralisch falsch, sondern auch pädagogisch kontraproduktiv, da sie Abwehr produziert."

Die nächste Pandemie wartet ganz sicher nicht wieder 100 Jahre bis zu ihrem Auftauchen, meint im Interview mit Zeit online der amerikanische Jurist David Singh Grewal. Die Weltgemeinschaft sollte also besser schnell lernen, was in der Coronakrise nicht gelungen ist: durch Kooperationen einen Impfstoff für alle bereitzustellen. "Man muss dafür sorgen, dass überall auf der Welt das Wissen zur Verfügung steht, um den Stoff lokal kostengünstig produzieren zu können. Das hat Europa kaum bedacht. Für diese Alternative aber macht sich eine Allianz aus Experten stark, 'The People's Vaccine', die den 'Volksimpfstoff' fordert: damit private Eigentumsrechte an Erfindungen, für die natürlich Entschädigungen gezahlt werden müssten, über Staatsgrenzen hinweg gemeinsam genutzt werden und auf diese Weise viel breiter gestreute Produktionskapazitäten entstehen können."

Außerdem: Die berühmte ägyptische Feministin Nawal El Saadawi ist im Alter von 89 Jahren gestorben, hier der Nachruf der BBC.
Archiv: Ideen