9punkt - Die Debattenrundschau

Feindbilder, in Stein gemeißelt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.05.2022. Im Tagesspiegel antworten ukrainische Organisationen auf den Aufruf von Alice Schwarzer und Co. und machen sie darauf aufmerksam, dass die Zivilisten in Butscha "nicht gekämpft haben - und trotzdem von russischen Soldaten massakriert wurden".  "Es hilft nichts: Das Biest muss besiegt werden", sagt auch Greg Yudin in Zeit online. Empörung in den USA: Ein geleaktes Papier zeigt, dass der Supreme Court die bisherigen Abtreibungsregeln des Landes wohl kippen wird. Die FR übernimmt Karl Schlögels Vortrag bei den Römerberggesprächen. Im Perlentaucher macht Jochen Hörisch der katholischen Kirche einen Reformvorschlag.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.05.2022 finden Sie hier

Europa

Wer Angst hat, dass Putin solidarische Akte der Nato für die Ukraine als "Kriegseintritt" betrachtet, wie die Unterzeichner von Alice Schwarzers offenem Brief (unser Resümee), darf im Grunde überhaupt keine Solidarität mit der Ukraine zeigen, meint Christian Rath in der taz: "Bisher hat Putin die Nato-Lieferung von Waffen an die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland nicht zum Anlass genommen, nun das Nato-Gebiet anzugreifen. Das ist aber nicht Ausdruck einer völkerrechtlichen Position Russlands. Denn verbal hat die russische Seite die Waffenlieferungen durchaus bereits als Kriegsbeitritt bezeichnet. Dass Russland hierauf nicht mit einem Angriff auf Nato-Territorium geantwortet hat (zum Beispiel gegen polnische Bahnhöfe, auf denen Waffen verladen werden), ist wohl ausschließlich eine Wirkung der militärischen Abschreckung der Nato."

Im Tagesspiegel antwortet die "Allianz ukrainischer Organisationen", ein Zusammenschluss in Deutschland lebender Ukrainerinnen und Ukrainer, auf den offenen Brief Alice Schwarzers und anderer, der für sie vor allem "Verachtung" für alles Ukrainische ausdrückt: "In Ihrem Brief äußern Sie indirekt die Meinung, dass die Ukrainer*innen den Kampf um eigenes Land, um Freiheit, das Recht auf Selbstbestimmung und die eigene Existenz aufgeben sollen, um das Leid der Menschen zu beenden. Mit Ihren Statements nivellieren Sie all die Menschen, die mit Ihrem Leben die Freiheit und Sicherheit der Ukraine und - ja - auch in Europa verteidigen. Wir möchten Sie besonders darauf aufmerksam machen, dass die Zivilisten in Butscha, Irpin, Borodjanka, Worsel, Mariupol nicht gekämpft haben - und trotzdem von russischen Soldaten massakriert wurden."

Manche mögen freiwillig nach Russland gehen, aber vielen Ukrainern, etwa aus dem belagerten Mariupol bleibt überhaupt keine andere Wahl, erzählt FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt. Die Personen werden von russischen Behörden über das ganze Land, zum Teil sogar in den fernen Osten verteilt. "Michail Podoljak, ein Berater von Präsident Selenski, sagte jüngst, es werde schwierig werden, die Leute nach dem Krieg in ihre Heimat zurückzuholen. Podoljak verwies auf Moskaus Erfahrungen mit Zwangsumsiedlungen ganzer Völker - allein unter dem Sowjetdiktator Stalin trafen diese unter anderem Deutsche, Krimtataren und Tschetschenen - und hob hervor, Russland werde nie zugeben, dass die Menschen gewaltsam deportiert worden seien."

"Es hilft nichts: Das Biest muss besiegt werden", versichert Greg Yudin, Professor für politische Philosophie an der Moskauer School of Social and Economic Sciences, im Interview mit Zeit online all jenen, die Putin immer noch entgegenkommen wollen. "Die Erinnerung an den Kalten Krieg durchdringt heute, gegen alle historischen Tatsachen, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg", mit der Folge, so Yudin, dass heute USA, Franzosen und Briten als Russlands Gegner im Zweiten Weltkrieg angesehen werden. "Gerade erst hat es ein hoher Militär klar gesagt: 'Wir kämpfen gegen die ganze Welt, wie im Großen Vaterländischen Krieg.' Der Nationalsozialismus hat seine spezifische Bedeutung als eine innere Gefahr moderner Massengesellschaften verloren. In der Ideologie des russischen Nationalismus bevölkern Nazis die gesamte Außenwelt. Ein Russe kann kein Nazi sein. Es gehört zu den Spezifika des neuen völkischen russischen Faschismus, dass er in seinen Reinheitsfantasien alles ausmerzen will, was er als Nazi auffasst. Das ist alles Nichtrussische, also besonders das sogenannte Abendland."

Was Putin im Donbass versucht hat - militärische Eingriffe, unter dem Vorwand, russische Minderheiten schützen zu müssen - hat er zuvor in Transnistrien (Moldawien), Abchasien, Südossetien und der Region Arzach in Nagorni-Karabach praktiziert, schreibt Andrea Jeska im NZZ Magazin vom Wochenende. Doch die abtrünnigen Gebiete sind heute "verlorene und entwurzelte Regionen. Ganze Dörfer, Städte sind Geisterorte, verlassen und vergessen, von der Natur zurückerobert. Die Hoffnungen auf Frieden und Stabilität, die mit dem Separatismus einhergingen, haben sich in keiner der De-facto-Republiken erfüllt. Die Wut über ungesühnte Verbrechen und Propaganda haben die Feindbilder in Stein gemeißelt, der Alltag ist grau und von Not geprägt, die Arbeitslosigkeit hoch. Für Russlands Interessen sind Armut, Feindschaft und Bitterkeit der perfekte Rohstoff. Aus ihm lässt sich blitzschnell Eskalation produzieren, Angst und Hass immer wieder neu schüren. Unter dem Vorwand, Minderheiten oder russische Bürger vor der Vernichtung schützen zu wollen, könnte Russland auch in der Zukunft militärisch eingreifen. Über Abchasien etwa, wenn eine Nato-Mitgliedschaft Georgiens nahe rückt. Über Transnistrien, wenn der Süden der Ukraine oder gar die Moldau erobert werden soll."

In Armenien ist die Bevölkerung geteilter Meinung, erzählt der Philosoph Edward Kanterian in der NZZ. Die einen halten zu Russland, weil es sie gegen das aggressive Aserbeidschan verteidigt. Anderen sympathisieren mit der Ukraine wie die Demonstranten, die vor einigen Wochen in Erewan skandierten "Putin nach Den Haag!" und "Lang lebe die Ukraine!" riefen, so Kanterian, der die komplizierte Lage Armeniens erklärt: "Es ist verständlich, wenn auch falsch, dass die Ukraine Aserbaidschan zur Ablehnung der russischen Präsenz in Karabach gratuliert, wie vor einem Monat geschehen. Russland ist für die Ukraine, was Aserbaidschan für Armenien ist: ein demokratiefeindlicher Aggressor. Paradox formuliert: Dieselbe Armee, die in der Ukraine Kriegsverbrechen begeht, ist aus armenischer Perspektive der momentan einzige Friedensgarant im Kaukasus. Erewan muss dabei eine schier unmögliche Gratwanderung unternehmen. Moskaus Wohlwollen steht genauso auf dem Spiel wie die Sympathie des Westens, der zwar keine militärische Sicherheit, wohl aber Hilfsgelder verspricht."

Außerdem: in der taz erzählt Hans Böhringer, wie Archivare und Internetaktivisten versuchen, kulturelles und digitales Erbe der Ukraine zu retten. In der SZ ist Hilmar Klute entsetzt über die harsche Kritik an dem Offenen Brief Alice Schwarzers und anderer: "Jetzt wird der Begriff 'Intellektueller' so lange gegen das Licht gehalten, bis es wie ein Schmähwort aussieht", fürchtet er.

Am Donnerstag sind in Nordirland Wahlen, die einiges - vor allem die traditionellen Verhältnisse zwischen Protestanten und Katholiken - auf den Kopf stellen könnten. Hintergrund sind immer noch die Komplikationen des Brexit. Ralf Sotschek erklärt in der taz die heikle Ausbalancierung des politischen Systems und die Tatsache, dass es Störer wie die "Alliance"-Partei gibt: "Die Alliance Party fällt unter 'Andere'. Sie kann sich vor jeder Abstimmung als unionistisch oder nationalistisch erklären - je nachdem, wo eine Mehrheit benötigt wird. Lange Zeit spielte die Partei nur eine Nebenrolle, doch Umfragen deuten darauf hin, dass sie am Donnerstag mit mehr als 15 Prozent Stimmanteil zur drittstärksten Kraft werden könnte. Das liegt vor allem an jungen Erstwählern, die sich nicht mehr um die traditionellen katholisch-protestantischen Trennlinien scheren."
Archiv: Europa

Ideen

Die Auseinandersetzung mit der der Ukraine ist auch eine mit unserer eigenen Fähigkeit zur Wahrnehmung, sagt Karl Schlögel in seinem Vortragt bei den Römerberggesprächen, den die FR abdruckt: "Dieses große Land hat es für uns lange nicht gegeben oder nur als Rand, als Störfaktor." Nun aber ist durch die Überblendung der Bilder des Zweiten Weltkrieges mit den aktuellen Bildern auch unser Bild der Vergangenheit grundsätzlich in Frage gestellt: "Es gibt kein Zurück zu einer Erinnerungspolitik, die die neueste Erfahrung ignoriert. Die Topografien von Verbrechen und Widerstand in Europa werden neu gezeichnet, kaum ein Begriff wird unberührt bleiben von der neuesten Erfahrung. Nicht einmal ein argloses Hören von russischer Musik oder die für nichts verantwortliche Sprache wird von der Kontamination durch das Verbrechen verschont bleiben - die Deutschen im Ausland in den 1950er Jahren können davon ein Lied singen."
Archiv: Ideen

Politik

Diese Meldung bei Politico und anderen Medien sorgt für eine Sensation in den USA, die auch die gesamte Homepage der New York Times dominiert: "Der Oberste Gerichtshof hat dafür gestimmt, das Grundsatzurteil Roe v. Wade aufzuheben. Dies geht aus einem ersten Entwurf einer von Richter Samuel Alito verfassten Mehrheitsmeinung hervor, der innerhalb des Gerichts zirkulierte und politico vorliegt." Die bisherigen Abtreibungsgesetze der USA würden damit gekippt. Das Papier ist also noch nicht abschließend. Dass ein solches Papier überhaupt geleakt wurde, ist in der amerikanischen Rechtsgeschichte ohne Beispiel, erläutert die New York Times, die zum Thema auch ein Liveblog eingerichtet hat.

Bei Politico werden einige Schlüsselpassagen aus dem über neunzigseitigen Papier zitiert. Eine davon spricht darüber, dass das Thema Abtreibung in den Gesetzgebungsprozess zurückverwiesen soll: "Roe war von Anfang an grundfalsch. Die Begründung war außergewöhnlich schwach, und die Entscheidung hatte schädliche Folgen. Weit davon entfernt, eine nationale Regelung der Abtreibungsfrage herbeizuführen, haben Roe und Casey die Debatte angeheizt und die Spaltung vertieft. Es ist an der Zeit, die Verfassung zu beherzigen und die Frage der Abtreibung wieder den gewählten Volksvertretern zu überlassen." Das wird in vielen Staaten allerdings auf ein Verbot von Abtreibung hinauslaufen.

Die Formulierung "grundfalsch" ("egregiously wrong") ist kein Zufall, erläutern Josh Gerstein und Alexander Ward in Politico, die das Papier dem Richter Samuel Alito zuschreiben. Als "grundfalsch" seien zuvor zwei Entscheidungen des Gerichts von späteren Richtern bezeichnet worden: jenes "Urteil von 1944, das die Inhaftierung japanischer Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs bestätigte, 'Korematsu gegen die Vereinigten Staaten', und das Urteil von 1896, das die Rassentrennung unter der Überschrift 'getrennt, aber gleich' segnete, 'Plessy gegen Ferguson'. Der Supreme Court hat 'Korematsu' nie formell aufgehoben, aber in einer Entscheidung von Roberts aus dem Jahr 2018 missbilligt."

In Texas gilt jetzt schon faktisch ein Abtreibungsverbot. Seitdem steigt die Zahl von "abortions at home", die meist in Form von Medikamenten von feministischen Organisationen angeboten werden, berichtet Carter Sherman bei Vice.com. Außerdem sind "die Auswirkungen des texanischen Verbots weit über die Grenzen des Bundesstaates hinaus zu spüren. Am Donnerstag gab die Organisation Planned Parenthood bekannt, dass zwischen dem 1. September und dem 31. Dezember die Zahl der Abtreibungspatienten aus Texas in den Gesundheitszentren der Nachbarstaaten um fast 800 Prozent gestiegen ist. Vor allem in den Kliniken in Oklahoma stieg die Zahl der texanischen Patienten im Vergleich zum Vorjahr um fast 2.500 Prozent."

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Nicht nur Putin, auch ein weiterer Autokrat, Xi Jinping, steht vor den Trümmern seiner größenwahnsinnigen Politik, schreibt Gideon Rachman in der Financial Times. Gescheitert ist die "Zero Covid"-Politik des chinesischen Parteiführers, wie der erbitterte Lockdown in der 26-Millionen-Stadt Schanghai gezeigt hat. Xi Jinping möchte beim Parteitag im November sozusagen zum ewigen Führer Chinas gesalbt werden, während Parteiführer vor ihm nach zwei Amtsperioden zurücktraten. "Damit die weitere Konsolidierung der persönlichen Macht von Xi wie geplant verläuft, darf der Xi-Kult nicht beschädigt werden. Doch nun sieht sich der chinesische Staatschef mit der albtraumhaften Aussicht konfrontiert, dass die Monate bis zum Parteikongress von einer wirtschaftlichen Krise und sozialen Spannungen durch wiederholte Lockdowns geprägt sein werden."
Archiv: Politik

Religion

Männerbünde wie die katholische Kirche sind Heimstätten der Homosexualität - und pflegen in aller Regel zugleich homophobe Rhetoriken, schreibt Jochen Hörisch in einem kleinen Essay für den Perlentaucher. und macht einen Vorschlag zur Reform. "Die Diagnose gilt: wenn die Katholische Kirche sich nicht zum Abschied vom Zölibat durchringt und damit einen auch in psychosexueller Hinsicht neuen Priestertypus zulässt (zusammen und gleichberechtigt mit homosexuellen oder zölibatär leben wollenden Geistlichen), wird sie ihre Missbrauchs-Pathologien nicht überwinden können."
Archiv: Religion