9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Aktenschrank-Rhetorik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2022. Catherine Belton fürchtet in der Washington Post einen Zermürbungskrieg, und alles in allem, konstatiert sie, sind die Russen dabei erstaunlich guter Dinge. Die Zeit spielt dennoch für die Ukraine, hofft der Militärhistoriker Lawrence Freedman in der Financial Times und warnt davor, einem neuen Pessimismus Raum zu geben. Die taz bringt ein Dossier zu hundert Tagen Krieg: 1.800 Bildungseinrichtungen  und 600 medizinische Einrichtungen wurden in der Ukraine mindestens teilweise zerstört. Die FAZ erklärt, warum es in Hongkong heute gefährlich ist, ein schwarzes T-Short zu tragen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.06.2022 finden Sie hier

Europa

Catherine Belton, Autorin des Bestsellers "Putins Netz", fürchtet in der Washington Post einen Zermürbungskrieg. Alles in allem schildert sie die russische Seite als guter Dinge, auch wenn die Sanktionen wohl erst im Herbst anfangen zu "beißen". Putin-nahe Hardliner drohen überdies mit einem weltweiten Hungerkrieg, der Europa neue Flüchtlinge bringen wird. Vermittlungsversuche Europas werden als Vorzeichen der Kapitulation gewertet: "Telefonanrufe des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz bei Putin am Wochenende, in denen es um Möglichkeiten zur Aufhebung der Blockade der ukrainischen Häfen ging, werden diese Ansicht weiter untermauert haben. Wenn westliche Staatsoberhäupter Putin anrufen und versuchen, einen Deal  zu machen, 'bedeutet das, dass er glaubt, er habe ein Druckmittel', sagte ein ehemaliger US-Regierungsbeamter."

Die Zeit spielt dennoch für die Ukraine, hofft der Militärhistoriker Lawrence Freedman in der Financial Times und warnt davor, einem neuen Pessimismus Raum zu geben: "Die russischen Maßnahmen, um mehr Männer zum Dienst in der Ukraine zu bewegen, reichen nicht aus, um die Verluste und die Soldaten, die die Armee verlassen wollen, auszugleichen. Im Gegensatz zur Ukraine hat Russland noch keine vollständige Mobilisierung durchgeführt. Selbst wenn dies der Fall wäre, würde es Monate dauern, bis die zusätzlichen Soldaten einen großen Unterschied machen würden. Das Land ist auf seine eigenen Ressourcen angewiesen, wenn es um neue Waffen geht - vor kurzem wurden alte Panzer in Dienst gestellt. Außerdem hat Russland nur langsam Fortschritte gemacht. Durchbrüche wurden nicht effektiv genutzt."

Hundert Tage Krieg gegen die Ukraine. Die taz bringt ein kleines Dossier. In einem Essay gehen der Politologe Michael Zürn und und taz-Redakteur Jan Pfaff die möglichen Friedensszarien durch: Ein russischer Sieg wäre eine Katastrophe, ein Burgfrieden mit der Ukraine würde den Krieg möglicherweise nur aufschieben, aber auch eine Niederlage Russlands ist wegen der Atomgefahr nicht ungefährlich. Sie würde "nur Besseres bringen, wenn das Kriegsende mit neuen Repräsentanten Russlands ausgehandelt würde. Dabei wird man kaum auf lupenreine Demokraten treffen. Einem Russland nach Putin könnte man aber einen Weg aufzeigen, der aus der Aussichtslosigkeit herausführen könnte. Denkbar wäre eine Art Marshall-Plan für die Ukraine und Russland. Für Russland könnte das auch heißen, dem Land bei der Energietransformation zu helfen. Es hat nicht nur viel Öl, sondern auch viel Wind, Sonne und Platz."

Zum taz-Dossier gehört Anastasia Magasowas Bilanz der bisherigen Schäden an der ukrainischen Infrastruktur - sie sind horrend: "Nach Angaben aus dem Büro des ukrainischen Generalstaatsanwaltes wurden schon mehr als 1.800 Bildungseinrichtungen bei Kampfhandlungen zerstört - also Kindergärten, Schulen und Universitäten, 95 davon vollständig.Von den Objekten der sozialen Infrastruktur in der Ukraine, die unter den russischen Angriffen gelitten haben, sind die meisten Krankenhäuser. Mit Stand Mai 2022 wurden in der Ukraine bereits 600 medizinische Einrichtungen zerstört, 101 davon vollständig."

Auch FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt bilanziert die hundert Tage Krieg. Dabei kommt er auch auf Äußerungen der Talkshowmoderatorin Olga Skabejewa zu sprechen, dass der Krieg nun auf die Nato ausgedehnt werden müsse (mehr hier): "Dabei dürfte es sich weniger um Drohgebärden nach außen als den Versuch handeln, an der Heimatfront Rückhalt für Putins Krieg zu erzeugen. Die jüngste Umfrage des kremlnahen Instituts WZIOM zu den unterschiedlichen Zielen der 'Spezialoperation' zeigt, dass besonders der Erzählstrang der westlichen Bedrohung, der in sowjetischer Tradition steht, bei der Bevölkerung verfängt."
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Ideen

Im  Freitag führen der Philosoph und Pazifist Olaf Müller und die Journalistin und Romancière Elke Schmitter ein von Michael Angele moderiertes Streitgespräch über die Position, die sie zum Krieg einnehmen. Müller fragt, "ob eine sofortige Kapitulation die bessere Option gewesen" wäre, und exemplifiziert es am Beispiel der Stadt Mariupol: "Wir haben noch keine belastbaren Zahlen, wissen aber, dass allein in Mariupol schon vor drei, vier Wochen über 20.000 tote Zivilisten gemeldet worden sind. Das ein entsetzlicher Leichenberg. Wie soll man das gegen staatliche Unabhängigkeit, gegen Selbstbestimmung und Demokratie verrechnen?" Schmitter sagt dagegen: "Für mich ist die 1938-Analogie überzeugend: dass wir es also tatsächlich mit einem 'real agierenden Bösen', einem neuen Faschismus zu tun haben. Und dass er nur militärisch gestoppt werden kann." Sie verteidigt aber auch "diese Aktenschrank-Rhetorik von Scholz..., weil sie performativ zum Ausdruck bringt, dass es keine eindeutig sichere Haltung gibt, sondern dass die ganze Zeit abgewogen werden muss."

Timothy Snyder durchleuchtet im Gespräch mit Konrad Schuller in der FAS den Carl-Schmittianischen Ideenhintergrund Putins, der für ihn ein Faschist ist. Dabei sucht er die Verbindung zu postkolonialen Diskursen und macht den Deutschen implizit den von A. Dirk Moser bekannten Vorwurf, den Holocaust zu verabsolutieren und damit den Blick auf Realitäten zu versperren: "Putin will die Ukraine zur Kolonie machen, und genau das wollten auch die Nazis. Nur: Das hat sich dem deutschen Gedächtnis nicht eingeprägt. Hitlers koloniale Haltung zur Ukraine war nie Gegenstand der deutschen Erinnerungspolitik. Deshalb fühlen die Deutschen heute so wenig Verantwortung für die Ukraine." Snyder hat für die "Aktenschrank-Rhetorik" Scholz' wenig Verständnis: "Es ist jedenfalls unendlich traurig, dass Deutschland sich hier nicht an die Spitze setzt. Es wäre eine historische Chance für Deutschland, hier auf der richtigen Seite zu stehen."

Ebenfalls in dr FAS ruft Marcel Beyer in Antwort auf den Emma-Brief zum Ukraine-Krieg und von ihm verabscheute Alice Schwarzer: "Es lebe die Ukraine. Es lebe Gayropa."
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Politik

In Hongkong ist es heute gefährlich, ein schwarzes T-Shirt zu tragen. Mit diesem Kleidungsstück wurde in der Stadt des Massakers am Tienanmen-Platz am 4. Juni 1989 gedacht - nur in Hongkong war das innerhalb Chinas überhaupt möglich. Und jetzt wohl auch nicht mehr, berichtet FAZ-Korrespondentin Freiderike Böge: "Regierungschefin Carrie Lam schloss in dieser Woche nicht aus, dass Leute, die sich an diesem Samstag im Victoria Park versammeln oder zu Hause eine Kerze anzünden, auf der Basis des Nationalen Sicherheitsgesetzes belangt werden könnten. Ein Polizeisprecher wurde gefragt, ob es illegal sei, in der Umgebung des Parks ein T-Shirt in Schwarz zu tragen, der Farbe der Protestbewegung, oder eine Blume bei sich zu haben. Seine Antwort: Die Polizei werde 'ganz sicher nach Beweisen suchen', wenn jemand den Eindruck erwecke, dass er gekommen sei, um andere 'aufzuwiegeln'."
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Medien

Fünf AutorInnen veröffentlichten vor einigen Tagen in der Welt einen Aufruf, der bei Twitter größte Empörung auslöste. Sie behaupten, dass die öffentlich-rechtlichen Sender in unverantwortlicher Weise Transsexualität propagieren und dabei wissenschaftliche Fakten ignorierten. In einem ziemlich ungewöhnlichen Akt kritisiert nun Springer-Chef Mathias Döpfner höchstselbst diesen Text: "Für alle, die sich der LGBTIAQ*-Community zugehörig fühlen, ist er eine Verletzung und Zumutung. Das ist schade oder sogar schlimm. Denn das darin angesprochene Thema - wie und wann man Kindern Diskussionen und Entscheidungen über fluide Geschlechtsidentitäten verweigert oder zumutet - ist ein ausgesprochen wichtiges und heikles. Immer mehr Kinderpsychologen sehen hier große Gefahren in beiden Richtungen. Sowohl, wenn das Thema zu lange verdrängt, aber vor allem auch, wenn es zu früh aufgedrängt wird." Döpfner betont die LGBT-freundliche Politik seines Hauses und bittet, den Ausschluss seines Hauses von der queeren Jobmesse "Sticks & Stones" rückgängig zu machen.

Döpfner ist in diesen Tagen auch als Chef des Zeitungsverlegerverbands BDZV zurückgetreten, wo er auf europäische Ebene die Politik das Fürchten lehrte und ein Leistungsschutzrecht durchsetzen half. Steffen Grimberg bilanziert sein Wirken in der taz in dem gegenüber Springer üblichen spöttischen Tonfall und zitiert aus Döpfners Abschiedsschreiben: "Er empfiehlt dem BDZV künftig 'andere Strukturen' und vor allem 'mehr Repräsentanz der lokalen und regionalen, kleinen und mittleren Verlage'. In anderen Worten: Da ist einer krachend gescheitert und macht jetzt den Abgang, bevor er von der eigenen Branche dazu gezwungen wird. Seine Worte klingen nach Flucht."

Außerdem: Der Politologe Markus Linden wirft seiner Kollegin Ulrike Guérot in der FAZ vor, in Corona- und Ukraine-Debatten die Wirklichkeit zu verfälschen und in ihren Büchern zu plagiieren.
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