9punkt - Die Debattenrundschau

Aber der Irakkrieg!

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2022. "Die meisten meiner Freunde sind im Exil, im Gefängnis oder umgebracht worden", sagt Garri Kasparow in der SZ. Auch Andrej Kurkow erzählt in der Financial Times vom Exil - es ist ein Exil im eigenen Land. Obszön ehrlich: Auf der Website des Kreml breitet Wladimir Putin neue Geschichtsversionen aus. Russland plant, sich vom Internet abzukoppeln, sagt der Experte Alexey Yusupov in der Berliner Zeitung. In der taz streiten drei Transpersonen über Sinn und Zweck des Feminismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.06.2022 finden Sie hier

Europa

Für Anzor Maskhadov, Aktivist der "Internationalen Befreiungsbewegung für Tschetschenien", nimmt sich Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine aus wie eine Wiederholung. Beim ersten Tschetschenienkrieg hatten die Russen den gleichen Fehler gemacht wie in der Ukraine, sagt er im Gespräch mit Barbara Oertel in der taz, und haben Panzer in die Städte geschickt. "Beim zweiten Tschetschenienkrieg haben sie das anders gemacht und die Städte gleich mit Artillerie und Raketen angegriffen, um sie kaputt zu bomben. So wie jetzt Mariupol." Aber eines konnten die Russen in der Ukraine noch nicht wiederholen, ihr Besatzungsregime: "Ihr habt das wahre Gesicht der russischen Besatzer noch nicht in Gänze gesehen. Denn erst wenn sich der russische Besatzer als Sieger fühlt und die ganze Ukraine einnimmt, dann wird es noch grauenhafter. Und zwar dann, wenn sich jemand wie Kadyrow für die Ukraine findet."

Welt-Autor Thomas Schmid wundert sich immer noch über das Merkel-Interview im Berliner Ensemble. Die Katastrophe der europäischen Politik, die Jahrzehnte des Geschehenlassens gegenüber Putin, für die auch sie steht, schienen einfach an ihr abzuperlen: Sie ist mit sich im Reinen. "Sie hat ja recht, wenn sie sagt, Diplomatie wird nicht dadurch falsch, dass sie erfolglos bleibt. 'Ich muss mir nicht vorwerfen, ich habe es zu wenig versucht', sagte Angela Merkel. In diesem endlosen Pragmatismus hat sie Tag für Tag eine sich anbahnende Tragödie in handliche Stücke aufgeteilt und bis zur Alltäglichkeit normalisiert."

Die SPD behandelt Gerhard Schröder heute so, als sei er ein Gschäftsmann mit Parteibuch. In Wirklichkeit sind die Beziehungen zwischen Schröder und der Partei immer sehr eng geblieben, und übelgenommen hat man ihm Hartz IV, nicht sein Kungeln mit dem Verbrecher, schreibt Mona Jaeger in der FAZ. Das Thema Russland empfand man im Lauf der Zeit allenfalls als ein wenig peinlich: "Also klammerte man Russland lieber aus, wenn man mit Schröder sprach. 2013 machte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung zehn Jahre nach der Verkündung der Agenda 2010 eine Veranstaltung mit Schröder und Gästen. Auch in der SPD-Fraktion gab es einen Termin, da nahm man sich dann das Nein zum Irakkrieg als Jubiläum. Für diese Tat wurde Schröder über all die Jahre hochgehalten. Russland schwierig, Hartz IV schwierig - aber der Irakkrieg!"

Wladimir Putin ist ein großer Lügner, vielleicht hat man auch darum übersehen, wie obszön ehrlich er auch ist. Vor jungen Unternehmen breitete er seine Geschichtsversionen aus. Der Kreml stellt seine Intervention auf englisch online: "Peter der Große führte den Großen Nordischen Krieg 21 Jahre lang. Auf den ersten Blick befand er sich im Krieg mit Schweden und nahm ihm etwas weg... Er nahm nichts weg, er nahm sich etwas zurück..., die Gebiete um den Ladogasee, wo Sankt Petersburg gegründet wurde. Als er die neue Hauptstadt gründete, erkannte keines der europäischen Länder dieses Gebiet als Teil Russlands an; alle erkannten es als Teil Schwedens an. Allerdings lebten dort seit je Slawen und finno-ugrische Völker, und dieses Gebiet war unter russischer Kontrolle. Das Gleiche gilt für die westliche Richtung, Narva und seine ersten Feldzüge. Warum sollte er dorthin gehen? Er nahm zurück und sicherte sich ab, das war es, was er tat."



Garri Kasparow, der heute in Amerika lebt, war seit 2013 nicht mehr in Russland. Wie schmerzhaft das sein muss, zeigt sich allein in der Tatsache, dass er seine Mutter nicht besuchen konnte, als sie 2020 an Covid erkrankte und starb, wie er im Interview mit Tanja Rest in der SZ erzählt: "Die meisten meiner Freunde sind im Exil, im Gefängnis oder umgebracht worden. Ich habe kürzlich mein Adressbuch geöffnet und all die Namen angeschaut, die ich durchgestrichen habe. Kaum einer ist übrig. In diesem Russland, in Putins Russland, da gibt es nichts mehr für mich. Manchmal denke ich - und das ist hart, glauben Sie mir: Vielleicht gut, dass meine Mutter das nicht mehr mitbekommen hat."

Auch Andrej Kurkow erzählt in der Financial Times vom Exil - es ist ein Exil im eigenen Land, er ist Flüchtling in der transkarpatischen Stadt Berehowe ("deutsch Bergsaß oder älter Lampertshaus", sagt die Wikipedia). Die Solidarität unter den Flüchtlingen sei groß: "Es gibt viele Flüchtlinge aus anderen Regionen, viele von ihnen sind Frauen mit Kindern. Einige leben kostenlos in Schulen und Wohnheimen, andere mieten Zimmer und Wohnungen. Diejenigen, die im arbeitsfähigen Alter sind, würden gerne arbeiten, aber in den Transkarpatien, in der Bukowina oder in der Region Lemberg gibt es kaum Arbeitsplätze. Es ist gut, dass es kostenlose Kantinen und Cafés gibt, und es ist gut, dass es in jeder größeren Siedlung humanitäre Hilfszentren gibt, aber es ist psychologisch schwierig, in einer fremden Region ohne Arbeit zu leben."

In der NZZ erzählt der in Kiew geborene Schriftsteller Dmitrij Kapitelman von seiner Reise auf die besetzte Krim im Jahr 2019. Die Menschen hatten sich weitgehend angepasst, zu spät werde jetzt klar: "Wir hätten die Annexion, diesen ersten Eskalationsschritt, viel härter bekämpfen müssen. Anpassung ist, wie so viele menschliche Eigenschaften, etwas Relatives. Nur weil Unrecht irgendwann im Alltag absinkt, heißt das nicht, dass es am Grund nicht weitergiftet. Auch weil die, die das Unrecht anmahnen, oft genug gleich mitertränkt werden. Deutschland hat auch nach 2014 weiter Gas von Putin gekauft und dafür neue Pipelines um die Ukraine herumgebaut. Sogar Waffen an Russland geliefert, während es Frieden verhandelte. Das Baden im kontaminierten Wohlstand ging weiter. Bloß, irgendwann kommt es eben alles hoch, um meine liebe Mutter zu zitieren. Erst war es die Krim, dann der Donbass, Syrien, die gesamte Ukraine, und gegenwärtig ist jeder Tag ohne Atombombe ein kleiner Sieg."

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Nachdem Polen im Oktober sein Abtreibungsrecht verschärft hat, folgt nun ein zentrales Schwangerschaftsregister, berichtet Dinah Riese in der taz. Jede einzelne Schwangerschaft soll erfasst werden. Zwar beteuert die Regierung, dass diese Daten nicht an die Staatsanwaltschaft gehen: "Die standardmäßige Erfassung von Schwangerschaften kann aber nicht unabhängig vom politischen und gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden. Jede einzelne Schwangerschaft zentral zu erfassen, bedeutet auch kontrollieren zu können, ob an ihrem Ende tatsächlich eine Geburt steht. Das ist keine Lappalie in einem Land, das Schwangerschaftsabbrüche derart kriminalisiert und Schwangere zwingt, sogar nicht lebensfähige Föten auszutragen."

Selbst Medien der Murdoch-Presse beklagen inzwischen negative wirtschaftliche Effekte des Brexit, konstatiert die konservative Politiker und Brexit-Gegner Michael Heseltine im Guardian. Er fordert, dass von jetzt an ein Neuanschluss Britanniens an die EU betrieben wird. "Es kann dauern. Der Brexit hat 43 Jahre gedauert. Zunächst begann dieser Prozess langsam. Mit der Übernahme großer Zeitungen durch Rupert Murdoch und Conrad Black und mit der Ersetzung von David English, einem überzeugten Europäer, durch Paul Dacre bei der Daily Mail nahm er an Tempo und Virulenz zu. Mit der Zeit wurde die Öffentlichkeit mit einer Diät der Täuschung gefüttert, die in den Lügen der Brexit-Kampagne selbst gipfelte."
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Gesellschaft

Drei Transpersonen streiten in der taz, moderiert von Patricia Hecht und Luise Strothmann, über das Selbstbestimmungsgesetz, das es jedem ermöglichen soll, sein Geschlecht selbst zu definieren. Tessa Ganserer und Kalle Hümpfner sind für das Gesetz, Till Randolf Amelung dagegen. Es ist auch ein Streit um Feminismus - der die Rolle der Frauen im Blick hat, sagt Amelung: "Feministische Arbeit basiert darauf, bestimmte gesellschaftliche Probleme in den Blick zu nehmen, die Frauen betreffen. Das basiert eben auf der Zuordnung, wer oder was eine Frau ist und welche Probleme sich daraus ergeben. Nehmen wir den Bereich Frauenförderung im Beruf. Mädchen machen im Laufe ihres Lebens bestimmte gesellschaftliche Erfahrungen." Ganserer prüft den Feminismus vor allem darauf, wie er sich zur Trans-Frage verhält: "Es ist nicht der Feminismus, der sich gegen trans geschlechtliche Menschen wendet oder gegen das Selbstbestimmungsgesetz. Den Feminismus gibt es nicht, es hat ihn nie gegeben. Die Frage, wer eine Frau ist, wer zur feministischen Bewegung gehört, ist so alt wie die Bewegung selbst."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Seit dem Arabischen Frühling plant Russland, sich vom globalen Internet abzukoppeln, sagt Alexey Yusupov, Osteuropareferent der Friedrich-Ebert-Stiftung im Gespräch mit Friedrich Conradi (Berliner Zeitung). Der Arabische Frühling habe gezeigt, mit welcher Wucht sich eine Protestbewegung im Inneren organisieren könne. Aber: "Noch traut man sich … nicht, eine Abkopplung zu vollziehen. Aber man sieht, dass immer mehr Vorbereitungen dafür getroffen werden. So werden russische Internetprovider gezwungen, auszuweisen, wo die Kabel nach Russland hinein- und wo sie hinauslaufen. Die physische Struktur des Internets wurde ganz in russischen Besitz gebracht. Der Krieg war eine Art Trigger, die Voraussetzungen für die Abkopplung schneller zu schaffen." Und bereits jetzt "wurden sogenannte Gummiparagrafen etabliert, mithilfe derer man Dissidenten leicht zum Schweigen bringen kann. Es ist zum Beispiel verboten, 'Unwahrheiten' über das russische Militär zu verbreiten. Diesen Begriff dehnt die Rechtsprechung nach Belieben, und jeglicher Verweis auf einen New-York-Times-Artikel, einen des Spiegels oder auf Inhalte von Exiljournalisten ist schon die Unwahrheit, und man macht sich strafbar."

In der FR erzählt Lisa Berins, wie Recherchekollektive Hinweise auf Kriegsverbrechen in der Ukraine sammeln und auf Echtheit überprüfen. Von Mitarbeitern des Londoner Centre for Information Resilience (CIR), das als unabhängiges Nonprofitunternehmen arbeitet, erfährt sie: "Nachdem sie den Ort eines Geschehens gefunden haben, versuchen sie, den genauen Zeitpunkt herauszubekommen - und anhand des Schattenwurfs sogar die Uhrzeit. Sie analysieren Waffen und Einschusslöcher, rekonstruieren Flugbahnen von Geschossen, gleichen mögliche Abschussorte mit der Stationierung von Brigaden ab. Sie wollen nicht nur herausbekommen, was wo und wann passiert ist. Sie wollen auch Namen nennen können: wer die Toten sind. Und wer die Mörder."
Archiv: Internet
Stichwörter: Russland, Zensur, Kriegsverbrechen