9punkt - Die Debattenrundschau

Wer streikte, war faul

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2022. In der NZZ fragt Mario Vargas Llosa, ob Sartre schuld ist an der Härte der lateinamerikanischen Linken. Bora Cosic beklagt ebenfalls in der NZZ, wie nachlässig die Balkanländer mit ihrem kulturellen Erbe umgehen. In der FAS ist Vitali Klitschko überzeugt, dass es in Deutschland auch kluge Intellektuelle gibt. Im Guardian rät Swetlana Tichanowskaja, den Putins "belarussischen Balkon" zu sprengen. Und die taz wischt mit der Generation Z Tinder nach links.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.09.2022 finden Sie hier

Ideen

In einem interessanten Essay bekennt der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, an Sartre festgehalten zu haben, selbst als dieser Stalins Straflager verteidigte und sich Camus darüber entsetzte. Auf die große Debatte gestoßen hat ihn der venezolanische Soziologe Rafael Uzcátegui, den Vargas Llosa als undogmatischen Anarchisten und aufrechten Streiter für politische Gefangene schätzt: "Seine Essays sind ungewöhnlich, denn die lateinamerikanische Linke vertritt in der Regel keine derart demokratische Haltung. Darüber hinaus ist er nicht nur ein Theoretiker, sondern auch ein Mann der Tat. Sein Buch trägt den Titel 'La beldía más allá de la izquierda' (Die Rebellion jenseits der Linken) und vertritt eine sehr attraktive, meiner Meinung nach aber falsche oder zumindest gewagte These: Die Polemik zwischen Sartre und Camus im Paris des Jahres 1952 sei der Grund für den Infantilismus der lateinamerikanischen Linken, ihre Unfähigkeit, mit anderen progressiven Kräften zusammenzuarbeiten, und ihren hermetischen Dogmatismus, wie ihn in seiner Heimat Venezuela die Regierung zur Schau stelle, die mit niemandem ausser der kubanischen Regierung kooperiere. Ich fürchte jedoch, dass die Polemik zwischen Sartre und Camus in Lateinamerika weder die Verbreitung fand noch so lebhaft diskutiert wurde, wie Uzcátegui behauptet, sondern nahezu unbemerkt blieb."
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Europa

In einem FAS-Interview mit Anna Prizkau spricht Kiews ungemein gewitzter Bürgermeister Vitali Klitschko über die Schrecken des Krieges, die ausbleibenden Waffenlieferungen und die schwerfälligen Diskussionen in Deutschland: "Ich würde nie sagen: In Deutschland gibt es keine klugen Intellektuellen. Das stimmt nicht. Ich würde nie sagen: In Deutschland gibt es keine aktiven Politiker. Das stimmt nicht. Es gibt viele. Aber man muss auf die richtigen Personen setzen... Aber Deutschland hat viel zu großen Respekt vor Russland gehabt und ist Russlands Geisel geworden. Jetzt sehen wir es einmal: eine Geisel der russischen Regierung, eine Geisel der russischen Energieressourcen. Okay, Deutschland trifft jetzt und in dieser kritischen Zeit endlich Entscheidungen. Ja und trotzdem, jetzt wiederhole ich mich: Ich bin manchmal enttäuscht vom Tempo der Deutschen."

Im Guardian betont die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, wie verhasst es den Belarussen ist, dass Putins Panzer ungehindert durch das Land rollen dürfen, um den Krieg gegen die Ukraine zu führen. Mit dem Machthaber Lukaschenko, überlegt sie, ließen sich vielleicht gleich zwei Fliegen schlagen: "Lukaschenko hat Belarus in den Mittelpunkt der Krise in Osteuropa gestellt. Dennoch bleibt es Teil der Lösung - unsere geografische Lage ist für den Kreml von großer Bedeutung. Entfernt man die Marionette Lukaschenko, entfernt man auch Putins belarussischen 'Balkon', der über Osteuropa ragt und einen strategischen Zugang zu Polen und den baltischen Staaten bietet. Zweifellos wird die Zukunft meines Landes bereits in diplomatischen Hinterzimmern diskutiert. Aber die Welt darf sich dem russischen Druck nicht beugen. Sie darf nicht einen Quadratmeter von Belarus aufgeben, um Putins verzweifelten Krieg zu beenden."

Bei allem Respekt für die Person von Königin Elizabeth möchte Arne Perras in der SZ doch ihre Rolle als Monarchin eines Empires in Frage stellen, die zum Imperialismus stets geschwiegen hat: "Vielleicht war die Queen in mancher Hinsicht weit progressiver und offener als ihre Premiers. Aber dennoch bleibt dieser blinde Fleck: Zur Gewalt des Kolonialismus fand sie nie klärende Worte. Elizabeth diente eher als glanzvolles Etikett, um Werbung für den Mythos vom wohlmeinenden und guten Empire zu machen; um die brutalen Seiten der Weltherrschaft zu verdecken. Letztlich trug sie auf diese Weise dazu bei, jene Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung zu verharmlosen, der Millionen Menschen im Namen der britischen Krone über Jahrhunderte ausgesetzt waren." Und in der taz klärt Nathalie Mayroth, wie der sagenumwobene Koh-i-Noor auf die britische Krone kam.
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Kulturpolitik

Wie können die Länder am südlichen Rand Europas mehr Anerkennung erwarten, wenn sie mit ihrem eigenen kulturellen Erbe so nachlässig umgehen? In einem kummervollen Text klagt der serbische Schriftsteller Bora Cosic in der NZZ, dass in Mostar gerade das Geburtshaus des Gelehrten Predrag Matvejevic abgerissen wurde: "Es scheint im Übrigen gar kein Krieg notwendig zu sein, um das Leben der Menschen zu ruinieren, es reicht, dass ein übler Bursche mit viel Geld mitten im Frieden ein Auge auf ein bestimmtes Stück Land wirft, aber dass dort etwas aus der Geschichte desselben Landes steht, interessiert ihn nicht! Ich höre jetzt, dass sich diese Stadt Mostar, die größte in der Herzegowina und vielleicht die schönste, um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt bewirbt. Diese Nachricht zeigt an sich schon, dass hier jemand ziemlich viel Courage hat. Wovon kann eine Stadt Hauptstadt sein, die zuerst in einem wahnsinnigen Krieg ihr emblematisches Wahrzeichen zerstört und dann, was noch verrückter ist, in der Stille des Friedens das Geburtshaus ihres Dichters beseitigt hat?"
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Stichwörter: Mostar, Cosic, Bora

Gesellschaft

Bis zum Aufstieg von Tinder waren Online-Dates was für Nieten und Männer aus dem Internet gefährlich. Zehn Jahre nach den ersten Swipes seufzt Anna Goldenberg in der taz über die Dating-App, die es cool machte, auf der Suche zu sein: "Es gab keinen guten Grund, es nicht mit dir zu versuchen. Wer streikte, war faul. Wer niemanden fand, musste mehr suchen. Kurz, die Freiheit hatte einen Preis. Wir merkten viel zu spät, dass wir süchtig waren, und zwar nach der Hoffnung, die du uns gabst. Wir installierten dich mit dem Ziel, dich bald wieder zu löschen, wenn wir erst gefunden hatten, was wir suchten. Aber was war das? ... Auf uns selbstoptimierte Millennials folgt die Generation Z, die zwar kein Einwählinternet mehr kennt, dafür aber besser darin ist, sich von gesellschaftlichen Ansprüchen zu trennen, mit denen sie nichts anfangen kann. Und siehe da, liebes Tinder, sie finden dich gar nicht so toll."
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Stichwörter: Generation Z

Geschichte

Willi Winkler war beim Festakt, mit dem das vor siebzig Jahren vereinbarte "Luxemburger Abkommen" zelebriert wurde. Die Wiedergutmachung war bei CDU, FDP und Finanzbeamten nicht beliebt, kann er in der SZ berichten: " 'M.E.' (für "Meines Erachtens"), meldet Regierungsdirektor Kaphammel wie von der Ostfront knapp vor Stalingrad, 'härtester Widerstand geboten.'"
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Stichwörter: FDP, Stalingrad