9punkt - Die Debattenrundschau

Wirklich synergetisch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.09.2022. Die russische Mobilisierung ist bereits so etwas wie das Eingeständnis einer Niederlage, sagt Garri Kasparow im Tagesspiegel. Zum Tod von Mahsa Amini erklärt Annalena Baerbock im Bundestag, dass Islamismus nichts mit Religion zu tun habe. hpd.de erzählt unterdessen, wie das iranische "Moralministerium" seine Vorstellungen durchsetzen will: Mit Digitalisierung und Peitschenhieben. Der BND der frühen Jahren hat systematisch SS-Männer in seine Reihen aufgenommen, berichtet die SZ. Gruner und Jahr wird nun endgültig abgeschafft, melden die Zeitungen
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.09.2022 finden Sie hier

Europa

Die Mobilsierung ist bereits so etwas wie das Eingeständnis einer Niederlage, sagt russische Exilpolitiker Garri Kasparow im Interview mit Caroline Fetscher und Claudia von Salzen vom Tagesspiegel und annonciert: "Putin kann die Niederlage nicht überleben." Die russische Geschichte habe gezeigt: "Die Menschen können Härten erdulden, wenn sie sehen, dass sie auf der Gewinnerseite stehen. Das Gegenteil ist genauso wahr. Verlorene Kriege führten in Russland immer zu großen Veränderungen. Der Krieg gegen die Ukraine könnte zum letzten Krieg des russischen Imperiums werden. Das wäre nicht nur das Ende von Putins Regime oder der KGB-Herrschaft, sondern im Grunde das Ende eines jahrhundertelangen Expansionismus."

Die Regierung hat solche Angst vorm Volk, dass sie 200 Milliarden Euro ausgeben will, um die steigenden Gas- und Energiepreise abzufedern. Das ist dringend nötig, findet Anne Lehmann in der taz: "Denn es geht nicht nur darum, die deutsche Wirtschaft vor dem Kollaps zu retten, sondern auch darum, den gesellschaftlichen Zusammenhalt, mithin die Demokratie zu stabilisieren." Hier Anjas Krügers Bericht mit Einzelheiten. Die 200 Milliarden sind aber in gewisser Hinsicht gar nicht real, erläutert Henrike Rossbach in der SZ. Der Fonds für den "Schutzschirm" "ist ein Nebenetat, ein Extra-Geldtopf außerhalb des Bundeshaushalts, der deshalb praktischerweise nicht mitzählt bei der Schuldenbremse."
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Geschichte

Willi Winkler erzählt in der SZ, basierend auf Recherchen des Historikers Gerhard Sälter, wie systematisch der Bundesnachrichtendienst nach dem Krieg mit SS-Kriegsverbrechern besetzt wurde: "Als 'anständig' galt den Gehlen-Leuten, wer bei den Alliierten nicht gegen die Kameraden ausgesagt hatte. Als 'sehr anständig' galt jemand wie Hans Sommer, der 1941 als SS-Obersturmführer Sprengstoffanschläge auf sieben Pariser Synagogen vorbereitet hatte. Gehlen nahm ihn ebenso in Dienst wie den Gestapo-Offizier Carl Schütz, der in Polen bei der angeblichen 'Partisanenbekämpfung' tausendfach mitgemordet und 1944 neben Clemens eigenhändig Geiseln erschossen hatte."

Außerdem: Sven Felix Kellerhoff ist in der Welt sehr skeptisch bei der Lektüre des Konzepts für das Dokumentationszentrum "Zweiter Weltkrieg und Besatzungsherrschaft in Europa", das ihm zu umfassend scheint und das seiner Meinung nach wesentlich teurer werden wird als veranschlagt.
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Medien

Der einstmals so stolze Gruner-und-Jahr-Konzern war von Bertelsmann schon letztens Jahr mit RTL zwangsvereinigt worden. Falls es Beteuerungen gegeben haben sollte, die Zeitschriften des Konzerns zu erhalten, wäre es falsch gewesen, an sie zu glauben. Bertelsmann-Chef Thomas Rabe hat jetzt neue Leitlinien bekanntgegeben, berichtet Steffen Grimberg in der taz: "Im Interview im firmeneigenen Intranet erzählt er was von teurem Papier, rückläufigen Werbebuchungen und dass alles noch schlimmer wird. Deshalb will er jetzt alle Magazine auf den Prüfstand stellen und 'nur solche Titel mit RTL zusammenführen, die wirklich synergetisch sind'. Also solche, die auf Unterhaltung machen. Das übertrifft die schlimmsten Befürchtungen, was das ohnehin gewöhnungsbedürftige Zusammenpferchen von RTL und G+J für die Zeitschriften bedeutet."

Gabor Steingart schlägt in seinem morgendlichen Newsletter das nebenstehende Stern-Cover vor und schreibt: "Die Journalisten von Stern, Brigitte, Gala, Schöner Wohnen, Capital und Geo wollten relevant, nicht synergetisch sein. Sie träumten von einem Verleger - und bekamen einen Portfoliomanager."

Der NDR hat sich einer Prüfung unterzogen, die noch nicht abgeschlossen ist, Intendant  Joachim Knuth konnte aber schon einmal erleichtert bekräftigen, dass sich der Vorwurf politischen Gekungels nicht bestätigt habe. Statt dessen sei nur das Betriebslklima grauenhaft - das soll jetzt ein Kirchenmann als Ombudsmann klären, berichtet Michael Hanfeld in der FAZ, der ein bisschen skeptisch bleibt: "Dass der Vorwurf politischer Färbung ('Filter') inzwischen vom Tisch ist, mag einen freilich erstaunen. Denn gerade die fehlende Distanz zu Landesregierungen ist eine Spezialität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das schlägt sich bei der Besetzung von Posten nieder und im Programm." Dem Bayerischen Rundfunk geht es laut Rechnungshof auch nicht so gut, berichtet Helmut Hartung ebenfalls in der FAZ. Der Finanzbedarf sei so hoch. "Der Rechnungshof sieht drei kritische Punkte: hohe Personalausgaben, Pensionsverpflichtungen sowie den sogenannten 'BR hoch drei'-Prozess, mit dem der Sender neue digitale Angebote vorantreibt."

Die FAZ macht eine Selbstmarketing-Aktion mit vielen Artikeln über Zukunft und die Frage, wie wir leben wollen. Feuilletonchef Jürgen Kaube warnt allerdings: "Der Kursverfall der Utopie geht insofern auf das Schindluder zurück, das mit den Hoffnungen auf ein gutes, erlöstes Ganzes getrieben wurde."
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Politik

Gestern kritisierte die Journalistin Gilda Sahebi in der taz Annelena Baerbocks zögernde Reaktion auf den gewaltsamen Tod Mahsa Aminis (unser Resümee) durch die iranische Religionspolizei. Noch am selben Tag schien Baerbock Sahebis Beobachtung durch ein kurzes Statement im Bundestag postwendend bestätigen zu wollen. Den zentralen Satz zitiert Sven Lehmann, der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, bei Twitter so und kriegt es hin, darüber begeistert zu sein:

Adrian Beck erzählt unterdessen bei hpd.de, wie das iranische "Moralministerium", das seine Maximen aus der Scharia ableitet, seine religiösen Vorstellungen mit modernsten Überwachungstechnologien duchzusetzen sucht. Dafür hat das Ministerium "eine 119-seitige Broschüre veröffentlicht, die ausführt, wie der Bevölkerung mit überwachungstechnologischen Mitteln ein neues Verständnis für islamische Moralphilosophie eingehaucht werden soll... So kommt das 'Moralministerium' in seinem Papier zu dem Ergebnis, dass die steigende Ablehnung rigoroser religiöser Regeln primär ein Produkt ihrer mangelhaften Durchsetzung ist. Die Sittengesetze hätten ihre 'abschreckende Wirkung' verloren, moniert das Moralministerium, und klagt darüber, dass Gefängnisstrafen und Auspeitschungen ausblieben."
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