9punkt - Die Debattenrundschau

Zehn Minuten Zeit zu packen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.09.2022. Ausgesprochen samtpfötig findet Gilda Sahebi in der taz die "feministische Außenpolitik" Annalena Baerbocks gegenüber den iranischen Mullahs. Die Schauspielerin Sibel Kekilli will sich in der Zeit nicht mehr von westlichen Feministinnen über das Kopftuch belehren lassen. Irina Rastorgujewa erzählt in der FAZ, wie junge Männer in Sachalin eingezogen werden. Und die Berliner Zeitungen verabschieden sich schon mal von der Regierenden Bürgermeisterin.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.09.2022 finden Sie hier

Europa

Die westliche Öffentlichkeit sollte sich durch Putins Annektionsrhetorik und die Sabotageakte an den Pipelines nicht in Katastrophenszenarien hineintreiben lassen, sondern "stiff upperlipp" bewahren, mahnt Dominic Johnson in der taz: "Dass die von niemandem mehr gewollten Pipelines in der Ostsee jetzt auch noch kaputtgehen, ist eigentlich völlig egal. Was befürchtete ukrainische Angriffe auf 'russisches Staatsgebiet' angeht, hat die Ukraine in diesem Krieg schon oft Ziele auf der russisch annektierten Krim getroffen - und Russland hat nicht reagiert, trotz gegenteiliger Warnungen. Und die militärische Situation in der Ukraine sollte Anlass zu Optimismus geben." Über die Scheinreferenden berichtet in der taz Bernhard Clasen.

Die russische Autoin Irina Rastorgujewa ist auf der Halbinsel Sachalin im Fernen Osten Russlands aufgewachsen. Dort werden bevorzugt junge Männer als Kanonenfutter eingezogen, auch der Mann ihrer Freundin Mascha: "Mascha, frage ich sie, wie konntest du deinen Mann gehen lassen? 'Als die Bullen nachts kamen, gaben sie ihm zehn Minuten Zeit zu packen, sagten ihm, er könne sich morgen verabschieden, und brachten ihn zur Nacht auf die Polizeiwache, damit er nicht weglaufen kann. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich ihn in die Taiga geschickt. Sie hätten ihn gesucht und dann vielleicht vergessen. Jetzt ist er vielleicht für immer weg.'"

Was kommt nach Putin, fragt Viktor Jerofejew in der Zeit. Aufs russische Volk würde er eher nicht setzen: "Das Volk ist propagandavergiftet und fern jeder Sympathie für die Politik des Westens. Es hat seit eh und je das starke Gefühl, der Westen wolle Russland die Bodenschätze wegnehmen und es überhaupt zerstückeln. Das hat sich nicht Putin ausgedacht, aber er spielt mit diesen Gefühlen, um seine Herrscherkarriere ad infinitum fortzuführen." Am ehesten glaubt Jerofejew an eine Palastrevolution: "Wenn Putin geht, enden die Kampfhandlungen, und das höchstwahrscheinlich relativ rasch. Russland zieht sich hinter die Grenzen vom 23. Februar 2022 zurück, und von dieser Position aus wird es Verhandlungen anbieten."

Der New York Times wurden Tausende abgehörte Telefongespräche russischer Soldaten mit ihren Verwandten zu Hause zugespielt. Sie bestätigen das desolate Bild von der russischen Armee, das diese auch so schon abgab. Die Gespräche geben aber auch Einblick in die Stimmung in Russland: "Sie zeigen, dass die zunehmende Zahl der Todesopfer in den Militärstädten widerhallt, wo eng verbundene Gemeinden und Familien Nachrichten über Opfer austauschen. Angehörige berichten von reihenweise Leichen und Särgen, die in ihren Städten ankommen, während Soldaten warnen, dass bald noch mehr Leichen zurückkehren werden. Eine Frau erzählt ihrem Mann, dass in dieser Woche jeden Tag ein Militärbegräbnis stattfand. Unter Schock berichten einige Familien, dass sie Psychologen aufgesucht haben."

Das Berliner Verfassungsgericht hat durch eine sensationelle Entscheidung mögliche Neuwahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus in Aussicht gestellt, nachdem die Berliner Verwaltung die Wahlen im letzten Jahr vermurkst hatte. Erst in drei Monaten wird das Gericht verkünden, ob Neuwahlen notwendig sind, die dann mindestens nochmals drei Monate Zeit beanspruchen würden. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey könnte dann schon wieder Geschichte sein, weil die Grünen zur Zeit populärer sind, die wiederum mit der CDU koalieren könnten. Allerdings wären auch ein paar Grundsatzfragen zu stellen, die das gesamte Berliner Politikpersonal betreffen, spekuliert Robert Ide im Tagesspiegel: "Das Wichtigste wird sein, zerstörtes Vertrauen zu reparieren - durch eine tatsächlich freie, geheime, faire Neuwahl, durch eine endlich einmal funktionierende Verwaltung." taz-Autor Bert Schulz findet die Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs angesichts der "Stimmung in der Bevölkerung insgesamt vor diesem politisch und ökonomisch schwierigen Herbst und Winter... brandgefährlich".
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Ideen

Wir brauchen einen neuen Pazifismus, ist SZ-Autorin Nele Pollatschek überzeugt, denn man brauche Pazifisten genau dann, "wenn fast alle sich für massive Waffenlieferungen aussprechen. Gerade weil man sich an einem Krieg beteiligt, braucht man Menschen, die sich niemals an einem Krieg beteiligen würden. Man muss die Argumente gegen Krieg genau dann hören, wenn man sie am wenigsten hören will."
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Politik

Ausgesprochen samtpfötig findet Gilda Sahebi in der taz die "feministische Außenpolitik" Annalena Baerbocks gegenüber den iranischen Mullahs, die gerade eine Frau wegen eines lockeren Kopftuchs totgeschlagen haben. Seit Tagen demonstrieren Iranerinnen  und Iraner in der ersten feministischen Aufstandsbewegung der iranischen Geschichte, so Sahebi, und von Baerbock sind bisher nur platte diplomatische Formeln gekommen. "Aus den zurückhaltenden Reaktionen der Bundesregierung lässt sich nur schließen, dass man glaubt, Deutschland dürfe die Mullahs nicht zu sehr verärgern, damit diese die Verhandlungen nicht abbrechen. Was für ein Fehlschluss: Die Machthaber brauchen dieses Atomabkommen. Das Regime ist dringend auf Gelder angewiesen, die durch das Abkommen wieder ins Land fließen würden. Gelder übrigens, mit denen sie Armee und Militär weiter aufrüsten wollen - und die sich die Machthaber wie nach dem ersten Nukleardeal 2015 in die eigenen Taschen stecken."

Vielleicht sollten die Mullahs selbst künftig Kopftuch tragen. Denn ohne würde die Islamische Republik zusammenbrechen, ist sich Katajun Amirpur im Interview mit Dunja Ramadan in der SZ sicher: "Ohne den Kopftuchzwang würde es nur noch das Land Iran geben, aber eben keine Islamische Republik."
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Gesellschaft

Die Schauspielerin Sibel Kekilli erzählt in der Zeit, wie kompliziert das in ihrer Familie mit dem Kopftuch war, warum sie das Kopftuch eigentlich erst mit 18 zulassen würde, und warum ihr die Bevormundung durch westliche Feministinnen, die das Kopftuch für eine Selbstermächtigung halten, auf die Nerven geht: "Wenn mir deutsche Frauen aus der bürgerlichen Mitte erklären wollen, dass Kopftuchtragen dasselbe sei, wie wenn man ein Kettchen mit Kreuz um den Hals trage, dann macht mich das wütend. Weil der Vergleich nicht stimmt. Denn das Kopftuch ist ein sexualisiertes Symbol, das Kreuz hingegen nicht."

Die Integration muslimischer Bevölkerungen hat in Europa eigentlich nirgends funktioniert, weder im laizistischen Frankreich, noch im multikulturellen Großbritannien, noch in Deutschland, wo man den Kopf in den Sand steckte, sagt der Migrationsforscher Ruud Koopmans im Interview mit Benedict Neff und Lucien Scherrer in der NZZ. Er plädiert für eine gesteuerte Migration, wie in Kanada, damit sie "beiden Seiten Gewinn bringt: Die europäischen Länder erhalten mehr Leute, die sie brauchen und integrieren können, Arbeitsmigranten mehr Möglichkeiten und echte Flüchtlinge mehr Schutz. ... Das geht nicht ohne Kooperation mit Drittstaaten außerhalb Europas. Zuerst müssen wir uns fragen, was wir diesen Ländern anbieten können. Zum Beispiel legale Wege für Wirtschaftsmigration oder die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten. Es gibt zwar mit Ländern wie Marokko bereits Rücknahmeabkommen, aber die Umsetzung klappt meistens nicht. Wenn aber ein Land oder auch die ganze EU den Marokkanern sagt, wir geben jedes Jahr so und so vielen Bürgern ein Arbeitsvisum, dafür müsst ihr abgewiesene Asylbewerber zurücknehmen, wäre das eine Grundlage." Auch Asylverfahren möchte Koopmans künftig in Drittstaaten durchführen.

Modemarken und -magazine behaupteten eine Zeit lang, ihnen würden dicke Mannequins so gut gefallen wie dünne. Aber das war immer schon Heuchelei, die sich nie in den Klamotten widerspiegelte, die in den LVMH-Boutiquen an der Stange hängen, konstatiert Sophie Passmann in der Zeit: "Der vermeintliche Spaß an körperlicher Diversität war so was wie ein Hobby des Kapitalismus, eine weitere Spielart der Idee, dass man mehr Leute zum Kaufen eines Produkts animieren kann, wenn man mehr Leute repräsentiert. Die Behauptung eines Paradigmenwechsels läuft bereits jetzt langsam, aber sicher aus."

Wie kommt es, dass in Ländern wie Italien oder Frankreich ausgerechnet Frauen die extreme Rechte anführen. Wird da etwa ein Mutterkult getrieben, fragt Thea Dorn in der Zeit: "So betrachtet ist es kein Wunder, dass nun Italien, das in Europa schon immer führend darin gewesen ist, Mamakratie und Machokultur zu vereinen, als erstes Land in Europa eine Regierungschefin bekommen dürfte, die eine chauvinistisch-machistische Partei anführt und gleichzeitig die Übermama gibt."
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Geschichte

Claus Leggewie und die Amerikanistin Heike Paul resümieren in der Zeit Debatten um Reparationen für Sklaverei und halten es aufgrund einiger Initiativen in den amerikanischen Bundesstaaten für ausgemachte Sache, dass sie kommen werden: "Wer zahlt die offene Rechnung? Der Staat oder die 'white community' - oder eher Unternehmen, die sich an der Sklaverei bereichert haben? Und sollen alle Afroamerikanerinnen und -amerikaner Zuwendungen erhalten oder nur solche unterhalb der Armutsgrenze - oder allein jene, die ihre Familiengeschichte bis in die Versklavung zurückverfolgen können? In ihrem Zwischenbericht vom Juni 2022 hat die kalifornische Arbeitsgruppe erste Antworten formuliert: Reparationen könnten den Erlass von Studiengebühren ebenso beinhalten wie Wohngeld und eine Erhöhung des Mindestlohns - und das sind nur drei der zahlreichen Empfehlungen aus dem Papier." Die Wirkung solcher Reparationen wird weit über die USA hinausgehen, sind sich die Autoren sicher: "Die Frage stelle sich "allen Ländern, in denen eine weiße Minderheit oder Mehrheit Zwangsarbeiter aus Afrika und anderen Herkunftsgebieten auf dem Land, in Betrieben und Haushalten für sich hat schuften lassen." Und sicher auch der Türkei oder Oman.
Archiv: Geschichte