9punkt - Die Debattenrundschau

Russland schrumpft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2022. Mit Brimborum feierte Wladimir Putin gestern seine Schein-Annexionen von Gebieten, die er noch nicht mal erobert hat, und befleißigte sich in einer "bizarren Rede" einer postkolonialen Rhetorik. Dieser Schein wahrt nicht mal den Schein, konstatiert Anne Applebaum in Atlantic. Oksana Sabschuko ist im Standard zuversichtlich, dass Russland zerfällt. Alexei Nawalny entwickelt in der FAS Perspektiven für Russland als parlamentarische Demokratie. Zeit online führt außerdem ein sehr instruktives Interview mit dem Politologen Angelo Bolaffi über Italien nach den Wahlen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.10.2022 finden Sie hier

Europa

Mit Brimborium und langen Kerls hat Wladimir Putin gestern seine Schein-Annexion ukrainischer Regionen verkündet, die er noch nicht mal ganz erobert hat. In seiner Rede (hier als Video mit Untertiteln) bemühte er auch wieder postkoloniale Muster. Das russische Exilmedium meduza.io resümiert die Rede so: "Der Westen hat sich des Kolonialismus und des Sklavenhandels schuldig gemacht. Im 20. Jahrhundert stand 'unser Land' (die UdSSR) an der Spitze der antikolonialen Bewegung. Der Westen nimmt Russland übel, dass es sich seinen Kolonialisierungsversuchen widersetzt. Das orthodoxe Christentum, der Islam, das Judentum und der Buddhismus sind die Religionen, die für traditionelle Werte stehen, die Russland aufrechterhalten will. Der Zusammenbruch der UdSSR führte dazu, dass der Westen den Reichtum Russlands an sich riss. Die Behauptungen des Westens, der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen, sind Lüge und Heuchelei."

Tagesspiegel-Autor Hans Monath hat in der "bizarren Rede" auch folgenden, im postkolonialistischen Kontext überraschenden Aspekt wahrgenommen: "Auch Deutschland kommt in dieser Aufzählung vor - als Opfer der USA. Köln, Hamburg und Dresden seien durch anglo-amerikanische Luftangriffe in Ruinen gelegt worden, 'ohne militärische Notwendigkeit'."

Caroline Fourest kommentiert auf Twitter trocken: "Putin soll also in die Ukraine einmarschiert sein, ihre Grenzen verletzt, Menschenleben abgeschlachtet und seine Soldaten geschickt haben, um Kinder zu vergewaltigen... weil es ihm um die traditionelle Familie geht? Armer Kerl. Männliche Unsicherheit muss schrecklich sein."

Andreas Rüesch zieht aus Putins faschistoider Inszenierung in der NZZ eine paradoxe Folgerung: "Russland schrumpft - vielleicht nicht auf den Landkarten des Kremls, aber auf der Waagschale der Weltpolitik. Mit seinem törichten Angriff auf die Ukraine hat Putin die Schwäche der russischen Armee offengelegt und damit ungewollt einen Mythos zerstört."

Anastasia Magasowa porträtiert in der taz den ukrainischen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, der als einer der Urheber der dezentralen und modernen Kriegsführung der ukrainischen Streitkräfte gilt: "So habe Saluschnyi Einheiten gebildet und Kampfstrategien entwickelt, die unter anderem auf der guten Ortskenntnis der Soldaten beruhten: Mobile Gruppen, die sich schnell bewegten und nach dem Prinzip 'beißen und rennen' operierten. Sie rückten vor, zerstörten die Ausrüstung des Feindes und zögen sich zurück. Eine 'Guerilla'- Methode, die in der ukrainischen Armee jetzt als Standard gilt. Die kleineren Einheiten erforderten zwar mehr persönliche Initiative und innovative Entscheidungen durch Feldwebel, Unteroffiziere und Hauptmänner. Aber genau das mache ihren Erfolg gegen die behäbigen Russen aus."

Putins Scheinreferenden wahren eben nicht mal mehr dies - den Schein, konstatiert Anne Applebaum in Atlantic. "Nichts an diesem Akt hat eine Legitimität, und das ist auch ein Teil der Pointe. In seiner Welt gibt es so etwas wie Legitimität nicht. Nur Brutalität zählt." Und sie zählt nochmal auf, was Putin in den letzten Monaten in seinem eigenen Land angerichtet hat: Zehntausende Soldaten sind ums Leben gekommen. Hunderttausende Russen haben das Land verlassen. "Seit Kriegsbeginn hat sich auch das Vorgehen im eigenen Land verschärft, denn der Krieg bietet den Rahmen, in dem abweichende Meinungen als Verrat dargestellt werden können und jede Kritik am Krieg ein Verbrechen ist. Zeitungen, Websites, Social-Media-Kanäle und zivilgesellschaftliche Gruppen aller Art wurden verboten. Mehr als 16.400 Russen wurden wegen ihrer Proteste inhaftiert."

Alexej Nawalny hat es irgendwie geschafft einen Essay aus dem Gefängnis zu schmuggeln, den die FAS auf Deutsch bringt. Er denkt über die Frage nach, wie der Westen dazu beitragen kann, ein Russland nach Putin zu ermöglichen, in dem sich die nationalistischen Mythen nicht noch verschärfen. Er beschwört den Westen dabei, die russische Bevölkerung nicht als komplett gleichgeschaltet und gehirngewaschen anzusehen, auch wenn die Propaganda ihre Wirkung nicht verfehlt. Laut Nawalny muss der Westen nicht nur Putin bekämpfen, sondern die ganze russische Elite, um das Land an einen Neubeginn zu führen: "Der strategische Sieg läge darin, Russland zurück an die entscheidende historische Wegscheide zu führen und das russische Volk die richtige Wahl treffen zu lassen. Das Zukunftsmodell für Russland ist nicht 'starke Macht' oder 'eine feste Hand', sondern Harmonie, Verständigung und Rücksicht auf die Interessen der ganzen Gesellschaft. Russland muss eine parlamentarische Republik werden, da nur so der endlose Kreislauf aus selbst geschaffenem imperialistischen Autoritarismus durchbrochen werden kann."

Die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko ist sich im Gespräch mit Michael Wurmitzer vom Standard sicher: der Zerfallsprozess Russlands hat schon begonnen: "Ich bin begeistert vom Ausmaß des Protests der ethnischen Minderheiten in Dagestan und Jakutien, wo Frauen protestieren, um ihre Männer zu beschützen. Wir sind im Jahrhundert der Frauen - das zeigt sich auch gerade am Aufstand im Iran. Es sind immer die Frauen, die am lautesten schreien. Wenn ich mich erinnere, wie die Sowjetunion zu kollabieren begann, waren die ersten Proteststimmen gegen das Regime weibliche. Sie haben um ihre Kinder geschrien. Hohe Töne, die ich nie vergessen werde."

Außerdem spricht der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow im Interview mit der taz über seine Flucht aus Kiew, die Lage in seinem Land und seinen neuen Roman "Samson und Nadjeschda", für den er auf sowjetische Geheimdienstakten aus Kiew aus der Zeit nach 1919 zurückgreifen konnte. Und in der FR unterhält sich Cornelia Geißler mit dem russischen Schriftsteller Dmitry Glukhovsky, der in Russland zur Fahndung ausgeschrieben und in Europa untergetaucht ist.

Ziemlich witzig klingt diese Unterzeile aus dem Tagesspiegel: "Salvini und Berlusconi wollten eine Regierungschefin Meloni verhindern. Die will nun die beiden Männer absägen. Und könnte Erfolg haben." Nicht ganz überzeugend klingt vor diesem Hintergrund die These Carolina Schwarz' in der taz, das Frauen in rechtsextremen Führungspositionen gewissermaßen nur Spielsteine in einer machistischen Strategie seien.

Stefano Vastano führt für Zeit online ein sehr aufschlussreiches und ausführliches Interview mit dem italienischen Politologen Angelo Bolaffi. Wer einen neuen Faschismus in Italien an die Wand malt, verkennt die Gegebenheiten, meint dieser. Die Italiener hätten in Meloni vor allem "das letzte Angebot im politischen Supermarkt Italien" erkannt. Größer ist für ihn eine andere Gefahr: "Fratelli d'Italia verfügt über keinen einzigen anständigen Politiker. Vielleicht finden sie für manche Posten Wirtschaftsleute, die nicht faschistischer Haltungen verdächtigt werden, aber es wird für Meloni nicht leicht sein, eine Regierung mit fähigen Menschen zu besetzen. Italien, insbesondere die öffentliche Verwaltung, ist eine Katastrophe. Dies ist die größte Gefahr für die Demokratie in Italien heute: nicht so sehr Meloni, sondern das x-te Scheitern einer gewählten Regierung."

Erstmals gibt es in Nordirland mehr Katholiken als Protestanten, haben neue Umfragen ergeben. Die Zahlen stehen 45,7 zu 43,5, berichtet Gina Thomas in der FAZ. Dabei war Nordirland einst genau so zugeschnitten worden, dass die Protestanten eine deutliche Mehrheit haben. Dass die Katholiken ein Referendum für eine Vereinigung mit der Republik gewinnen würden, ist darum allerdings nicht ausgemacht, "schon deswegen nicht, weil jeder Arztbesuch in der Republik anders als beim britischen Gesundheitsdienst gebührenpflichtig ist. Auch der dramatische Anstieg von 63,5 Prozent der Nordiren, die seit 2011 einen irischen Pass bekommen haben, lässt nicht unbedingt auf nationalistische Tendenzen schließen. Er dürfte vor allem auf den Brexit und den Wunsch nach weniger beschwerlichem Reisen zurückzuführen sein."
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Gesellschaft

Antje Lang-Lendorff singt in der taz eine Hymne auf einen Alltagsgegenstand, der in diesen schwierigen Zeiten wieder zu Ehren kommt: "Ausgerechnet Wladimir Putin, der sich als harter Mann inszeniert, verhilft der Wärmflasche nun zu neuem Ansehen. Plötzlich steht sie für Durchhaltevermögen. Für Widerstand. Hat man sie auf dem Schoß, kann die Gasheizung ruhig aus bleiben. Es schlüpft sich auch viel leichter unter eine kühle Bettdecke, wenn dort irgendwo die warme Flasche wartet."
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Politik

Eine kühne These stellt der Publizist Ali Sadrzadeh in der FAZ auf. Mit der Revolte im Iran "nähert sich die Welt dem Ende des politischen Islams, wie wir ihn bisher kennen". Die Proteste der Frauen und der Männer in den iranischen Städten für eine moderne und säkulare Gesellschaft, so Sadrzadeh, würden sich auch in anderen muslimischen Ländern auswirken: "So wie die islamische Revolution vor 43 Jahren die gesamte islamische Welt erschütterte, so wird auch diese Revolte, deren Parole 'Frau, Leben, Freiheit' ist, vieles jenseits der iranischen Grenze verändern. Die Taliban, der Islamische Staat, Al-Qaida und sogar die jüngste Islamisierung der Türkei durch Erbakan und Erdogan, sie alle waren und sind sunnitische Antworten, politische Gegenmodelle zur schiitischen Revolution in Iran mit ihrer globalen Ausstrahlung."

Zum Sinnbild dieser Tage wurde dieses Bild der jungen Minoo Majidi am Grab ihrer Mutter, die bei den Protesten ums Leben kam. In der Hand trägt sie den Schopf, den sie sich abgeschnitten hat.


Sonja Zekri unterhält sich mit der jemenitischen Friedensnobelpreisträgerin Tawakkol Karman, die als Vertreterin einer Demokratiebewegung ihre Solidarität mit der Ukraine erklärt, aber auch mahnt: "Die Weltgemeinschaft unterstützt Tyrannen in der arabischen Welt, in Afrika und Latein-Amerika - ganz ähnlich, wie Russland und China es tun. Dass die westlichen Staaten gegenüber Russland nach dem Überfall auf die Ukraine eine entschiedenere Haltung eingenommen haben, ist eine seltene Ausnahme." Sie erinnert auch an die Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs: "Was hat Wladimir Putin dazu ermutigt, die Ukraine zu überfallen? Dass er 2015 in Syrien die Aufständischen bombardiert hat, um den syrischen Diktator Baschar al-Assad zu stützen - und der Westen hat Putin dafür mehr oder weniger grünes Licht gegeben." Über die iranischen Unruhen spricht sie leider nicht.
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