9punkt - Die Debattenrundschau

Die spezifische Würde des Menschen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.09.2022. Man braucht heute morgen einen Muntermacher, egal in welcher Form, um dem Pessimismus in der Debatte standzuhalten. Die FAZ fürchtet, dass die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München nur peinlich werden kann. In der NZZ kritisiert der Politologe Stefan Luft das Antirassismusprogramm der Bundesregierung, weil es nicht Integration, sondern Identitätswächter fördere. Die taz schlägt vor, mit den Taliban weniger über Frauenrechte zu reden, da dies mit Gewalt assoziiert werde. Im Interview mit Zeit online bezweifelt der Ökonom Joachim Ragnitz, dass die Investitionen von Tesla, Intel und Catel in Ostdeutschland für blühende Landschaften 2.0 sorgen werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.09.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

In jedem Fall peinlich wird die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München, fürchtet Edo Reents in der FAZ: "Jede noch so gut gemeinte Besinnung auf diese Katastrophe, die sich auch nur den Anschein nostalgischer Fröhlichkeit gibt, ist nicht nur nicht opportun, sondern wirkt im Lichte des durch Staatsversagen begünstigten Grauens geschichtsvergessen, pietätlos, im Grunde obszön und hat schon deswegen zu unterbleiben. Es wird höchste Zeit, dass der Blutzoll, der mit aufs Konto des olympischen Geistes ging, indem er von diesem so fahrlässig begünstigt wurde, endlich ins öffentliche Bewusstsein vordringt und dort noch ganz lange Platz hat. Zu hoffen ist schließlich nur noch eines: dass an diesem schwarzen September-Tag niemand zu sagen wagt, es handele sich bei dem, was man damals geschehen ließ, um einen Anschlag auf 'unsere Werte', am Ende gar 'auf uns alle'. Es war, ganz gezielt, ein Anschlag auf jüdisches Leben und leider erfolgreich."

In der NZZ hat der Politologe Stefan Luft einige Zweifel am Antirassismusprogramm der Bundesregierung, dass noch unter Angela Merkel mit 1,5 Milliarden Euro ausgestattet wurde. Zunächst mal teilt Luft nicht den generellen "Rassismusverdacht" unter den die deutsche Bevölkerung gestellt werde: Studien würden eher einen Rückgang rassistischer Denkmuster zeigen. Zum zweiten setze das Antirassismusprogramm auf "starke Gruppenidentitäten, was ein Kennzeichen multikulturalistischer Politik ist. ... Diese staatlich initiierte institutionelle Verfestigung von Gruppenidentitäten lässt das Risiko außer acht (oder nimmt es in Kauf), dass kulturelle, religiöse, ethnische oder nationale Identitäten zur Durchsetzung politischer Interessen genutzt werden. Gleiches gilt für Migrantenorganisationen, die sich aus ihrer strukturellen Logik heraus wie 'Identitätswächter' verhalten und damit die Abgrenzung ihrer Klientel als 'Gruppe' verfestigen. Verhielten sie sich wie 'Integrationslotsen', liefen sie Gefahr, sich damit auf Dauer überflüssig zu machen."

Im Osten Deutschlands wollen Linke wie Rechte auf Montagsdemos gegen die Regierung demonstrieren. Was die Linke angeht, hält das der Kulturwissenschaftler Alexander Leistner für keine gute Idee: "Der Montag ist seit Jahren von rechten Akteuren besetzt", erklärt er im Interview mit der taz. "Für mich ist dieser Bezug auf Montagsdemos ein Fall von Selbstüberschätzung aus den Großstädten. Die Zivilgesellschaft ist in vielen ostdeutschen Städten schwach, die kann das gar nicht leisten, nach Jahren mit rechten Protesten in der Fläche zu demonstrieren. Die spannende Frage wird sein, ob es trotzdem gelingt, soziale Proteste zu organisieren, die sich räumlich, zeitlich und inhaltlich klar davon abgrenzen. ... Es muss darum gehen, in der Energiekrise die rechten Deutungsmuster nicht zu übernehmen. Also die Frage nach solidarischer Lastenteilung zu stellen, ohne den russischen Angriffskrieg zu relativieren und damit Ursache und Wirkung zu verkehren."
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Politik

Im Verhältnis zu Taiwan benimmt sich China wie ein Kolonialist, meint in der NZZ der britische Journalist Bill Hayton: "Man kann Taiwan als Chinas Irland begreifen. Sogar die Chronologien sind ähnlich. Im späten 17. Jahrhundert, nur ein paar Jahrzehnte nachdem Oliver Cromwell die Irische Katholische Konföderation brutal unterdrückt hatte, fiel das chinesische Qing-Reich in Taiwan ein und brachte einen Teil des Landes erstmals unter seine koloniale Herrschaft. Selbst nach der teilweisen Annexion im Jahr 1684 betrachteten die Qing die Insel als gefährliches Grenzland, bekannt vor allem für seine unberechenbaren 'Ureinwohner' und seine tödlichen Krankheiten." Diese Episode dauerte ganze acht Jahre. Danach wurde Taiwan von China nicht mehr als Teil des chinesischen Reiches betrachtet. Das änderte sich erst wieder im Zweiten Weltkrieg.
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Stichwörter: Taiwan, China, Irland

Ideen

Muss der Mensch verschwinden, damit die Welt sich erholen kann? Der Philosoph Konstantin Sakkas hält diesen Gedanken in der NZZ für Unsinn, ebenso wie die Vorstellung, dass der Mensch auch nur ein Tier sei, dass sich bitte als solches zu verhalten und sich nicht über die Natur zu erheben habe: "Der Mensch ragt aus der Natur heraus und steht über der Natur, ob uns das gefällt oder nicht. Der Mensch ist Prometheus, der Vorausdenkende, und Odysseus, der Listenreiche; beide mussten, um sich zu retten, der Natur - und sich selbst - Gewalt antun. Darin liegt die ontologische Auszeichnung, darin liegt die spezifische Würde des Menschen. Wollte die Menschheit hinter diesen prometheischen Stand zurück, müsste sie nicht nur ihre industrielle Lebensweise aufgeben, sondern auch ihr handwerkliches und sprachliches Vermögen. Wir müssten aufhören, ein 'zôon lógon échon' zu sein - ein Tier, das über Vernunft verfügt."

In der taz hofft die Anglistin Jasamin Ulfat auf mehr Pragmatismus im Umgang mit den Taliban: Man soll wohl einfach nicht mehr über Frauenrechte reden, denn diese würden von den Taliban oft "mit Krieg und Gewalt" assoziiert und außerdem könnten sich die Taliban ja heutzutage leicht an China oder Russland wenden: "Nachdem wir den Taliban das Land und die Leute überlassen haben, bleibt uns also nichts anderes übrig, als weiter mit ihnen zu reden. Das ist die bittere Bilanz des Kriegs." Man würde gern hören, was die afghanische Politikerin Fausia Kufi dazu zu sagen hätte. Sie hat gerade nur knapp einen Anschlag überlebt, wie Spon berichtet.
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Kulturpolitik

Eine Diskussion über Antisemitismus mit den Documenta-Verantwortlichen? Unmöglich, stellen in der SZ Julia Alfandari und Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main fest, die auf der Documenta das indonesische Lumbung-Konzept ausprobiert haben: "Vom Lumbung-Party-Spirit blieb bei uns angesichts all der Anschuldigungen und kruden Behauptungen nicht viel übrig, er war längst in Galgenhumor umgekippt. ... Wir wollten mit den Künstlern auf der Documenta zusammenstehen, und doch fühlten wir, dass man uns mit Misstrauen begegnet. Wir sagen, wir wollen mitkochen, werden aber wie unzufriedene Gäste im Restaurant behandelt. Ist es eine zurückgewiesene Liebe, haben wir uns gefragt? Und ist das der Grund, warum es uns so trifft? Haben wir uns nur eingebildet, dass wir mit links-progressiven Künstlern aus dem globalen Süden viel mehr gemeinsam haben als mit den konservativen Herren des Zentralrats der Juden?"

In der SZ beklagt Paul Munzinger die Kürzung der Mittel für die auswärtige Kulturpolitik - "Der Kulturetat sinkt, während es der Welt schlecht geht - Ukraine-Krieg, Klima-Krise, Konfrontationen der Großmächte" - ohne klar zu machen, was ausgerechnet Kulturpolitik daran ändern könnte.
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Europa

Im Observer erinnert sich der bulgarische Politologe Ivan Krastev an gleich drei Michail Gorbatschows: In den Achtzigern "hat er uns von dem psychologischen Abgrund befreit, dass das Morgen nichts anderes ist als der Tag nach dem Heute. Meine gesamte politische Reifung fand im Schatten dieses Phänomens Gorbatschow statt. Er hat uns nicht befreit, aber er hat uns die Chance gegeben, die Freiheit zu schmecken. Er hat das Interesse der Welt geweckt, Russisch zu lernen und sich ein anderes Russland vorzustellen. ... Dieser erste Gorbatschow war nicht der Held des Rückzugs, er war der Engel der Öffnung. Dann kam der zweite Gorbatschow, an den ich mich nur zu gut erinnere. Es war im August 1991 und der reaktionäre Anti-Gorbatschow-Putsch war gerade niedergeschlagen worden. Diesmal wurde Gorbatschow zusammen mit ihm besiegt. Er war zu dem Mann geworden, dem es nicht gelungen war, den Sozialismus zu retten, sondern sein Land zu zerstören. Er war gebrochen, wütend und verbittert. Man konnte Mitleid mit ihm haben, aber es war nicht mehr möglich, ihn zu bewundern. Er war ein Verlierer ohne Grund."

Tesla investiert massiv in Grünheide, der Chip-Hersteller Intel in Magdeburg und der chinesische Batteriehersteller CATL in Erfurt - sind das jetzt die Blühenden Landschaften 2.0 in Ostdeutschland? Im Interview mit Zeit online bezweifelt das der Ökonom Joachim Ragnitz. Die Städte würden profitieren, aber den "wirklich problematischen Regionen" nützt das nichts, glaubt er: "Wir können uns freuen, wenn die Effekte 30 Kilometer um Magdeburg herum noch zu spüren sein werden. Aber der Burgenlandkreis wird davon herzlich wenig haben. Intel will 3.000 Arbeitsplätze schaffen. Wenn es durch die Zulieferer 10.000 werden, ist das super für Magdeburg. In Sachsen-Anhalt gibt es aber etwa eine Million Beschäftigte. Intel ist gut und schön, aber es verändert nichts Grundlegendes. Mit solchen Aussagen wirft man sich politisch in Pose, aber mit der Realität haben sie nicht viel zu tun."
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