9punkt - Die Debattenrundschau

Ein bestimmter Kipppunkt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2022. Italien hat gewählt, und zwar rechts. Die Kommentatoren hoffen, dass der Geldsegen aus Brüssel die wahrscheinliche neue Premierministerin Giorgia Meloni schon bändigen wird. Der Faschismus war in Italien nie weg, mahnt Zeit online. Zaghaft fragen die Kommentatoren, ob die iranischen Proteste nach dem Tod Mahsa Aminis das Zeug haben, die Ajatollahs zu stürzen. In der FAZ erzählt die Historikerin Ricarda Vulpius  die lange Geschichte der russischen Ukraine-Obsession.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.09.2022 finden Sie hier

Europa

Italien hat gewählt und wird künftig von Giorgia Melonis Rechtsbündnis regiert, bestehend aus ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia, Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia. Die drei haben zusammen mit 42,8 Prozent in beiden Kammern die absolute Mehrheit gewonnen, berichtet Matthias Rüb in der FAZ. Für eine Verfassungsänderung reicht das allerdings nicht. Die Sozialdemokraten hätte eine Chance nur zusammen mit den Fünf Sternen und dem "Dritten Pol" gehabt, ein Bündnis kam aber nicht zustande. Es gibt eine Partei, die noch größer ist als die Fratelli mit ihren 25.5 Prozent, so Rüb in einem zweiten Artikel: "Mit rund 35 Prozent ist die 'Partei der Nichtwähler' die mit gut zehn Punkten Abstand stärkste politische Kraft des Landes." Auf Zeit online tröstet Almut Siefert: "Italienische Regierungen haben im Durchschnitt nur eine Lebensdauer von 18 Monaten."

Droht bis dahin ein neuer Faschismus in Italien? Kein neuer, der alte war ja nie weg, meint Ulrich Ladurner auf Zeit online, und wurde still geduldet. "Diese Toleranz entspringt einer in Italien gepflegten und weit verbreiteten Selbstmystifikation, wonach die Italienerinnen und Italiener grundsätzlich brave, gute, anständige Leute seien ('brava gente'). ... Faschismus, Kolonialismus, Rassismus - gab es alles, klar! Aber so schlimm ist das nicht, weil das italienische Volk gar nicht so schlimm sein kann! Seine genetische Disposition ist nicht auf das Böse ausgelegt, niemals. Es ist eine kuriose Verdrehung, denn die historischen Fakten belegen, dass Italien sehr gewalttätig, sehr grausam, sehr gnadenlos sein kann. Die absolute Monstrosität des Nationalsozialismus wurde dabei geschickt genutzt, um die Monstrosität des italienischen Faschismus als im Vergleich harmlos erscheinen zu lassen. Der Glaube vom grundsätzlich guten, anständigen Italiener trägt wesentlich dazu bei, dass Meloni ins Amt der Ministerpräsidentin kommen könnte. Die kollektive Selbstverharmlosung ist eine Voraussetzung für Melonis Erfolg."

Angela Giuffrida spricht für eine erste Analyse im Guardian mit italienischen Politologen: "Mattia Diletti, Professor an der römischen Sapienza-Universität, sagt, dass Meloni ihren Sieg ihrer Fähigkeit verdankt, ideologisch, aber pragmatisch zu sein, was es ihr ermöglicht hat, die französische Rechtsextremistin Marine Le Pen auf dem Posten des westeuropäischen Modells für Nationalismus zu entthronen." EU-Hilfen will sie jedenfalls nicht gefährden, so Giuffrida weiter, aber sie will neu verhandeln.

Auch der französische Politologe Pierre Haski setzt in seiner Kolumne für Radio France auf die Bindekraft der EU: "Das schwer getroffene Italien erhält den größten Teil des europäischen Konjunkturprogramms, fast 200 Milliarden Euro; Giorgia Meloni wird diesen Geldsegen, dessen Plan vom scheidenden Regierungschef Mario Draghi ausgearbeitet wurde, nicht gefährden wollen. Die Italiener würden ihr einen Konflikt über dieses Thema nicht verzeihen. Meloni wird sich zwei Herausforderungen stellen müssen: Einerseits muss sie diese Beziehung zur Europäischen Union managen und hat dabei einen geringen Handlungsspielraum; andererseits wird die Beziehung zu ihren Verbündeten in ihrer Koalition nicht einfach sein."

Der oppositionelle russische Publizist und Politologe Fjodor Krascheninnikow, der jetzt im litauischen Exil lebt, sieht in der taz sehr gute Gründe dafür, dass Europa jetzt Russen aufnimmt, die aus dem Land fliehen wollen: "Die Schwachstelle Putins sind eindeutig die Soldaten. Je weniger Soldaten an der Front sind, desto geringer ist der Druck auf die ukrainische Armee. Die offensichtliche Schlussfolgerung ist, dass russische Männer bei jedem Versuch, der Mobilisierung aus dem Weg zu gehen, unterstützt werden müssen. Deserteuren, Überläufern und Kapitulanten jetzt zu helfen ist nicht weniger wichtig, als Waffen an die Ukraine zu liefern."

Kriegsgegner in Russland wünschen sich ohnehin, dass die Grenzen für sie offener werden, schreibt  Anastasia Tikhomirova auf Zeit online. Das würde auch die Proteste stärken: "'Auch die verkündete Mobilisierung wird erneut viele politisch aktive Menschen ins Ausland zwingen, denn die Angst vor politischer Verfolgung ist erneut gestiegen', sagt Anton Prawednikow, Politologe und junger Politiker aus St. Petersburg, der noch nicht vorhat, sein Land zu verlassen. Er kritisiert viele EU-Staaten dafür, dass sie nun ihre Grenzen für russische Dissidenten und Deserteure schließen, statt Fluchtmöglichkeiten zu schaffen. Es könnte Russen ermutigen, weiterhin politisch aktiv zu bleiben, wenn sie im Falle politischer Verfolgung schnell flüchten können."

Peter Pomerantsev analysiert im Observer das Wesen Putinscher Propaganda: "Der große Unterschied zur nationalsozialistischen Propaganda besteht darin, dass erstere auf Aktion und Mobilisierung ausgerichtet war, während Putins Propaganda auf Demobilisierung zielt: auf der Couch sitzen, sich durch das Betrachten von Propaganda stark fühlen und den Kreml machen lassen. Unter der Rhetorik der Selbstaufopferung lässt Putins Propaganda traditionell Eigeninteresse oder zumindest Selbsterhaltung zu."

Kenan Malik liest ebenfalls für den Observer den "British Social Attitudes Survey", eine jährliche Umfrage, die als maßgeblich gilt, um ein Stimmungsbild in Britannien zu ermitteln. "Der Umfrage zufolge ist Britannien liberaler, aber auch stärker polarisiert. Der Brexit ist nach wie vor eine der wichtigsten Bruchlinien in der britischen Gesellschaft. Etwa zwei Drittel der Remainer sehen die wirtschaftlichen und kulturellen Folgen der Migration in einem positiven Licht, verglichen mit nur etwa einem Viertel der Leave-Anhänger. Fast 40 Prozent der Austrittsbefürworter (gegenüber 9 Prozent der Remainer) sind der Meinung, dass Einwanderung die britische Kultur untergraben hat... 59 Prozent der Brexit-Anhänger bestehen darauf, dass 'britische Abstammung wichtig ist, um wirklich britisch zu sein', im Vergleich zu 23 Prozent der Brexit-Gegner."
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Geschichte

Schon im 19. Jahrhundert war das Thema Ukraine ein zentraler Streitpunkt unter russischen Intellektuellen, erzählt die Osteuroa-Historikerin Ricarda Vulpius auf einer erhellenden "Ereignisse und Gestalten"-Seite in der FAZ. Längst hatte sich eine ukrainische Nationalbewegung formiert. Schon in den 1860er Jahren stiegen "die Ukrainophilen in der russisch-nationalen Ideologie zum wichtigsten Feindbild auf. Ein möglicher Abfall der Ukrainer, der mit Abstand größten nichtrussischen Ethnie des Reiches, wurde als Bedrohung für die Existenz der russischen Nation und für den Zusammenhalt des Imperiums gesehen - zumal die 'Kleinrussen' mit rund 84 Millionen (1897) insgesamt etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Zarenreichs stellten. Hingegen stellten die Großrussen ohne Ukrainer und Weißrussen nur noch 44 Prozent der Reichsbevölkerung." Die von Putin in seinen Geschichtsessays verbreitete Behauptung, Lenin hätte die Ukraine erst erschaffen, sei darum abwegig, schließt sie: "Lenins Politik war jedoch der Versuch einer Antwort auf die erstarkte ukrainische Nationalbewegung, nicht ihr Auslöser."
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Stichwörter: Ukrainische Geschichte

Kulturpolitik

In der SZ beklagt Jörg Häntzschel, dass Kulturinstitutionen nicht zur "kritischen Infrastruktur" gezählt werden, wenn das Gas so knapp wird, dass es rationiert werden muss.
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Stichwörter: Kritische Infrastruktur

Politik

Ist der Tod von Mahsa Amini der Tropfen, der das Fass überlaufen lässt? "Auch der letzte Schah im Iran, Mohammed Reza Pahlavi, hatte einen ausgeklügelten und gefürchteten Unterdrückungsapparat aufgebaut", erinnert Silke Mertins in der taz. "Dennoch wurde er letztlich aus dem Land gejagt. Wird ein bestimmter Kipppunkt erst einmal erreicht, ist es wie beim Klima: Es gibt kein Zurück mehr. Natürlich kann niemand voraussehen, ob die aktuellen Proteste diesen einen entscheidenden Funken haben werden, der für eine Revolution nötig ist. Der 'Grünen Revolution' von 2009 fehlte trotz der Massendemonstrationen dieser Funke. Das könnte dieses Mal anders sein." Ein Regimewechsel könnte ungeheure Folgen haben: "Iran könnte das erste islamisch geprägte Land der Region werden, das eine Trennung von Staat und Religion erzwingt."

Darum beteiligen sich auch religiöse Menschen an den Protesten, erläutert Rainer Hermann in der FAZ. Sie "beklagen, dass diese Herrschaft durch Verbote immer mehr Menschen von der Religion entfremde. In wohl keinem anderen Land der islamischen Welt sind die Moscheen an den Freitagsgebeten so leer wie in Iran."

"Bella Ciao" wurde zur Hymne der Protestbewegung:


In der FR macht die Psychotherapeutin Sahar Sanaie von der NGO Association Internationale pour l'egalité des femmes ihrer Wut über den Tod Aminis Luft: "Iran International, ein iranischer Fernsehsender im Ausland, veröffentlichte Mahsas MRT-Aufnahmen, welche sie nach einem Hacker-Angriff auf die Software des Krankenhauses, in dem die junge Iranerin behandelt wurde, erhalten hatten. Die Bilder sprechen für sich: Mahsas Schädeldecke wurde durch massive Schläge gebrochen, was zu Hirnblutungen führte. Die Taktik ist immer dieselbe, die Geschichten ähneln sich. Menschen werden zu Tode gefoltert und seien dann an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall verstorben." Die Weltgemeinschaft muss jetzt die Iraner in ihrem Freiheitsstreben unterstützen, fordert Sanaie: "Spätestens seit der Invasion der Russen in die Ukraine ist deutlich geworden, dass die Zeit des Händeschüttelns mit Diktatoren zu Ende sein muss."

Der kurdische Vorname von Mahsa Amini ist Zhina, erläutert Sham Jaff in einem zweiten Artikel für die taz: "Das iranische Regime bekämpft Kurd*innen im Iran seit Jahrzehnten mit Gewalt. Dass Zhina Aminis Tod das gesamte Land jedoch derart mobilisieren konnte, das hängt vor allem mit der Person Zhina Amini zusammen. Kurdische Expert*innen weisen auf die mehrfache Diskriminierung Aminas hin. Ihre Herkunft spiele für die Proteste durchaus eine Rolle."

Es gab zahlreiche Tote bei den Protesten. Auf Twitter kursiert besonders dieses Video von Hadis Najafi, die bei den Protesten erschossen wurde. Sie war zwanzig Jahre alt.

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Internet

Christian Geyer verteidigt in der FAZ Twitter gegen seine Kritiker: Ausgerechnet Richard David Precht, der nicht bei Twitter ist, hat gesagt: "Der Begriff Twitter und substanzielle Debatte sind zwei Begriffe, die für mich nicht zusammenpassen." Geyer dazu: "Auf Twitter muss sich Precht dann freilich gefallen lassen, als jemand verhöhnt zu werden, der selbst keine substanzielle Debatte zustande bringe. Hat er etwa keinen substanziellen Begriff von Substanz? In einem Tweet heißt es: 'Etwas ironisch, aber Richard David Precht ist wohl das beste Beispiel dafür, dass 'traditionelle Medien' oder gar das Verfassen von Büchern nicht automatisch zu einer 'substanziellen Debatte' führen.' Hier wird die Stärke von Twitter fassbar: die pointierte Replik, das Luftrauslassen aus hochtrabender Rhetorik, die sprungbereite Geistesgegenwart."
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Stichwörter: Twitter