9punkt - Die Debattenrundschau

Einige Elemente dieser Angstpolitik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.09.2022. Bahman Nirumand erzählt in der NZZ , wie die iranische Revolution die Frauen verriet. Ayaan Hirsi Ali kritisiert in Unherd die Iran-Politik der Biden-Regierung. Wie faschistisch ist der Postfaschismus, fragt Durs Grünbein in der SZ. Sehr kritisch setzt sich die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert in der FAZ mit einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur Neudefinition der Suizidhilfe auseinander.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.09.2022 finden Sie hier

Politik

Ayaan Hirsi Ali kritisiert in Unherd die recht verhaltene amerikanische Iran-Politik der Biden-Regierung: "Wir sollten nicht vergessen, dass der Iran erst kürzlich versuchte, mehrere amerikanische Staatsbürger auf amerikanischem Boden zu entführen und umzubringen, oder dass hochrangige US-Beamte vermuten, der Iran sei für den Mordversuch an Salman Rushdie im letzten Monat verantwortlich. Es ist eine nationale Schande, dass Amerikas Politiker es für angebracht hielten, überhaupt mit den Schlächtern von Teheran das Brot zu brechen. Und immer noch glauben zu viele, wir könnten uns wieder höflich mit ihnen zusammensetzen, um das Atomabkommen neu zu verhandeln." Und die Autorin weist auf einen besonderen Aspekt der Proteste im Iran hin: "Nirgendwo sonst in der muslimischen Welt - buchstäblich nirgendwo sonst - würden wir sehen, was wir gerade im Iran erleben: Männer und Frauen stehen gemeinsam füreinander ein, Männer fordern Gerechtigkeit für die Ermordung einer Frau durch das Regime, die es wagte, ihr Haar zu zeigen."

In der NZZ erinnert Bahman Nirumand daran, dass es "paradoxerweise" die islamische Revolution war, die im Iran "den Frauen den Weg in die Gesellschaft geebnet hatte. Sie forderte die Frauen zur Teilnahme an Massendemonstrationen auf, es waren Frauen, die die Botschaften von Ajatollah Khomeini auf Kassetten und auch Waffen, versteckt hinter ihrem Schleier, unter das Volk brachten. Auch im achtjährigen Iran-Irak-Krieg wurden Frauen massenhaft hinter der Front eingesetzt. Einmal aus dem Haus, wollten sie nicht mehr zurück. Als Ajatollah Khomeini nach der Machtübernahme die Einführung des Hijab andeutete, gab es heftige Proteste. Allein in der Hauptstadt Teheran gingen Zehntausende Frauen, unterstützt von Männern, auf die Straße [wie man auf diesem eindrucksvollen Foto von Hengameh Golestan vom 8. März 1979 sehen kann]. Der Druck war so groß, dass die neuen Machthaber sich zum Rückzug genötigt sahen. Doch später, als die Proteste vorbei waren, wurden die Kleidungsvorschriften offiziell angeordnet und die Familienrechte zum Nachteil der Frauen gravierend geändert."
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Europa

Nun also die Postfaschisten in Italien, angeführt von einer Arbeitertochter. In der SZ versucht der Dichter Durs Grünbein seinen Schock zu verarbeiten und fragt: Wie faschistisch ist diese neue Rechte, die sich derzeit noch gemäßigt gibt, wirklich? "Heute vor hundert Jahren führte der 'Marsch auf Rom' zu einer Weichenstellung, die das Jahrhundert prägte. Es kann nützlich sein, sich in unseren Tagen daran zu erinnern, worin die faschistische Revolution anfangs bestand: Rathäuser besetzen, Genossenschaften zerschlagen, politische Zirkel unterwandern, Tageszeitungen kapern, Kultur und Wirtschaft auf nationale Linie bringen, darum geht es, alles Fremde (den Fremden) aus der Gesellschaft verdrängen, die Angst vor sozialem und nationalem Absturz schüren. Einige Elemente dieser Angstpolitik sind wieder da."

Putins Annexionen sind für den Westen eine ungemütliche Angelegenheit, notiert Nikolas Busse im Leitartikel der FAZ: "Er hat der westlichen Strategie einen Schlag versetzt." Der Westen habe bisher eine Strategie des Kalten Kriegs verfolgt, die darin bestand, direkte Konfrontation zu meiden: "Indem Putin jetzt aber die russischen Grenzen in Richtung Westen verschiebt, verwendet er Bidens Strategie gegen ihn. Der Westen und die von ihm abhängige Regierung in Kiew müssten die Annexionen nicht de jure, aber doch de facto akzeptieren, wenn ihre Strategie beibehalten werden soll." Die Atomdrohung sein nun sehr ernstzunehmen: "Putin steht mit dem Rücken zur Wand. Sein Zug ist clever, aber er geschieht auch aus Verzweiflung."

In der SZ lässt sich Georg Mascolo von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Joseph Nye telefonisch versichern, dass seines Wissens die "US-Regierung keinerlei Vorbereitungen auf russischer Seite erkenne, Nuklearwaffen einsatzfähig zu machen. So der derzeitige Stand." Doch schon mit der Drohung ihres Einsatzes habe Putin ein Tabu gebrochen: "'Das ist schlecht für Putin, schlecht für Russland und schlecht für die Welt.' Habe er damit Erfolg, werde die Atombombe zur ultimativen Waffe der Erpressung. Und damit jedem Schurken zur Nachahmung empfohlen."

Auch in Moskau wird rekrutiert. Die Moskauer taz-Korrespondentin Inna Hartwich berichtet: "Das Moskauer Stadtmuseum ist seit wenigen Tagen ein sogenanntes Mobilisierungszentrum. Umfunktioniert in ein Einberufungsamt für gleich drei Stadtteile, zu passieren nur nach Polizeikontrolle samt Metalldetektoren. In Gebäude Nummer 3 stehen nun Polizist*innen mit Maschinengewehren vor dem Eingang. Drinnen tummeln sich Militärs in Tarnfleck und Männer, junge wie mittelalte, die nicht so recht zu wissen scheinen, was mit ihnen hier passiert. Ein Kriegsfilm läuft über einen Bildschirm, die Männer füllen Zettel aus, legen zahlreiche Bescheinigungen vor, verschwinden hinter Türen."
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Gesellschaft

Sehr kritisch setzt sich die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert auf den Wissenschaftsseiten der FAZ mit einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur Neudefinition der Suizidhilfe aus - sie wurde gegen den erbitterten Widerstand von Lobbyisten aus den Kirchen und der Palliativmedizin bekanntlich vom Bundesverfassungsgericht als rechtens erklärt. Das Papier des 24-köpfigen Ethikrats, in dem fünf Theologen sitzen, ziele vor allem darauf, die "Beendigung des Lebens durch eine suizidale Handlung möglichst zu vermeiden". "Präventionsverantwortung und die Warnung vor gesellschaftlich mitverschuldeter Suizidalität", so Schöne-Seifert, seien die Hauptzielrichtung des Papiers: "Kein einziges Wort dazu, dass es echten moralischen Fortschritt bedeutet, wenn suizidwillige Patienten Verständnis, Hilfe und nicht nur zähneknirschenden Respekt für ihre Entscheidungen erhalten und im Voraus darauf bauen können. Kein Wort auch dazu, dass es aus bestimmter Perspektive sehr gute subjektive Gründe für Suizidentscheidungen geben kann, die mit den veränderten Bedingungen unseres Erlebens von Krankheit und Alter zu tun haben."

Was lässt sich daraus lernen, dass einige der wichtigsten Gestalten der europäischen Rechten Frauen sind? Vor allem, "dass auch diese, ob sie es will oder nicht, Teil der Moderne ist", meint Alan Posener in der Welt. "Indem etwa Marine Le Pen mit dem traditionellen Antisemitismus des Front National brach - und sogar ihren Vater hinauswarf, der daran festhalten wollte - und stattdessen die Muslime ins Visier nahm, wurde plötzlich ein Männertypus zum Feind, der - in dem Zerrbild, das von ihm gezeichnet wird - zusammen mit dem Geschlechter- und Familienmodell der rückschrittlichen Elemente des Islam viele Ideale der traditionellen Rechten verkörpert. Das ist zwar nicht merkwürdiger als das Verhalten vieler Linker, deren Befürwortung der Zuwanderung und Ablehnung eines angeblichen westlichen Kulturimperialismus zu einer absurden Verteidigung vormoderner und antimoderner Ideologien und Verhältnisse im Namen des Multikulturalismus oder des Postkolonialismus führt. Aber es zeigt auch, dass rechts und links, fortschrittlich und reaktionär, ja feministisch und antifeministisch zunehmend ihren Wert als Kategorien zur Beschreibung politischer Positionen verlieren."

Bleibt die Frage, warum es der Linken so schlecht geht. Sie vernachlässige die Dialektik, ihre einstige Stärke, denkt sich in der NZZ der Schriftsteller Artur Becker: "Diese setzt stets ein kritisches Denken gegenüber der Wirklichkeit voraus... 'Links' kann nicht länger bedeuten, dass man Stalin oder Mao gut findet. Oder dass man das Sowjetimperium bewundert, zumal die Linke gegen jede Form von Imperialismus ist. Es kann auch nicht heißen, dass man sich mit dem Kapitalismus arrangiert, um dann den Weg der Wokeness zu bestreiten. Nach wie vor bedeutet 'links', dass man den Kapitalismus mit seinen Ausbeutungsverhältnissen in die Schranken weisen muss." Kurz: "Die Linke müsste wieder skeptischer werden gegenüber Wahrheiten, Entzauberungen, dem scheinbar genauen, anerkannten Wissen und Definieren von Dingen, Subjekten und Objekten. Deren permanente Überprüfung ist das, was sie weiterbringt.

In der Welt beschreibt Jacob Hayner, wie metoo-Aktivistinnen wie der Verein Themis oder Sarah Waterfeld, die den Fall des ehemaligen Volksbühnenchefs Klaus Dörr betrieben hat, die Medien als Racheinstrument benutzen. Beispiel Dörr: Ihm waren von mehreren Mitarbeiterinnen Übergriffe vorgeworfen worden, die vor Gericht keinen Bestand hatten. Seinen Job - und seinen Ruf - ist Dörr trotzdem los. Und die Medien, allen voran die taz, haben dabei eine wichtige Rolle gespielt: "Will man den als Schädiger Wahrgenommenen schädigen, bietet die heutige Verfassung der Medien beste Voraussetzungen, allein durch Reichweite und Geschwindigkeit der Verbreitung. Soziale Netzwerke werden zu asozialen Hetzwerken. In den etablierten Medien gefällt man sich in der Rolle der Fürsprecher von 'Betroffenen'. Das schmeichelt nicht nur dem heroischen Selbstbild, sondern verringert die kritische Distanz zum Medienbetrieb selbst, der eher einer gruppentherapeutischen Sitzung hochgradiger Narzissten und Gladiatorenarena ambitionierter Karrieristen gleicht als einem Hort frommer Sittlichkeit. Ob das nun die beste Anlaufstelle bei sexueller Belästigung oder Machtmissbrauch ist?"
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Ideen

Der Vorstand der "Gesellschaft für Analytische Philosophie" (GAP) hat ihren Gründer Georg Meggle von einer Tagung ausgeschlossen, weil er im letzten Jahr den "Krefelder Appell" unterschrieben hatte. Die Philosophin Maria-Sibylla Lotter fragt in der NZZ, wann die intellektuelle Welt eigentlich so tugendhaft wurde: "Vor zwanzig Jahren... wäre die Unterschrift ausgerechnet des Ehrenpräsidenten einer Philosophengesellschaft unter einem wüsten Appell Stoff zum Tratsch und für Witze gewesen - aber Anlass für die öffentliche Zurechtweisung des Kollegen und seine Ausladung von einem Kongress? Daran hätte man nicht im Traum gedacht. In diesem lange vergangenen Zeitalter nahm man es mit Humor, dass Menschen auch Blödsinn verzapfen. Oder unterschreiben."
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