9punkt - Die Debattenrundschau

Das halbe Land wird ruiniert sein

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2022. "Solange Putin lebt, wird es in der Ukraine keinen Frieden geben", sagt Andrej Kurkow in der NZZ - und der Krieg wird beide Länder zutiefst verändern. Bisher war nur die Leugnung des Holocaust strafbar, nun hat der Bundestag sehr unauffällig eine Erweiterung des Paragrafen 130 des Strafgesetzbuchs auf die Leugnung aller Genozide beschlossen, berichtet Ronen Steinke in der SZ. Olivier Roy sieht in der FR eine neue Qualität in den iranischen Aufständen. In der FAZ erinnert der Historiker Lukas Böckmann an die Enttäuschung Fidel Castros und Che Guevaras nach der Kubakrise.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.10.2022 finden Sie hier

Europa

"Der Krieg wird bis zum Tod Putins dauern, und danach ist die Frage, wie sich die Machtverhältnisse im Kreml klären. Solange Putin lebt, wird es in der Ukraine keinen Frieden geben", so lautet die nicht unbedingt optimistische Prognose Andrej Kurkows im Gespräch Benedict Neff von der NZZ. Wichtig auch sein Satz zur Verantwortung des Westens: "Der Krieg, den wir jetzt erleben, ist eine Folge der Tatenlosigkeit des Westens nach der russischen Annexion der Krim. Sich dies ständig zu vergegenwärtigen, hilft aber auch nicht weiter. Ohne westliche Hilfe können wir den Krieg gegen Russland nicht gewinnen." Sowohl Russland als auch die Ukraine werden durch den Krieg verändert werden, prognostiziert Kurkow am Ende des Gesprächs. Dreißig Prozent der ukrainischen Flüchtlinge werden nicht in das Land zurückkehren, fürchtet er: "Eine halbe Million ukrainische Kinder gehen seit September in Europa in die Schule. Sie integrieren sich, fangen an, eine andere Sprache zu sprechen. Je länger dies dauert, desto schwieriger ist es, sich wieder zu lösen. Die Ukraine wird nach dem Krieg viele Probleme haben. Das halbe Land wird ruiniert sein. Es wird weniger junge Menschen geben. Und auch das Ungleichgewicht in den Erfahrungen wird zu Spannungen führen: Viele Frauen haben im Frieden gelebt, die Männer im Krieg."

Russische Behörden und Soldaten rauben Kunstschätze von der Krim, aber auch aus zur Zeit noch besetzten Gebieten in der Ostukraine, schreibt der ukrainische Kunsthistoriker Konstantin Akinscha in der FAZ: "Ukrainischen Quellen zufolge planten die Russen auch die Exhumierung der mumifizierten Überreste von Fürst Grigorij Potjomkin, dem berühmten Günstling von Katharina der Großen, der in der Katharinenkathedrale in Cherson begraben ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Überreste des Fürsten gestört werden. In den Dreißigerjahren wurden sie ausgegraben und im 'Antireligiösen Museum' ausgestellt. Sie kehrten später ins Grab zurück, als Stalin den bolschewistischen Nihilismus zugunsten des russischen Nationalismus verwarf."

Bisher war nur die Leugnung des Holocaust strafbar, nun hat der Bundestag sehr unauffällig eine Erweiterung des Paragrafen 130 des Strafgesetzbuchs auf die Leugnung aller Genozide beschlossen, berichtet Ronen Steinke in der SZ. "Bis zu drei Jahre Haft drohen nun jedem, der ein solches Verbrechen 'in einer Weise billigt, leugnet oder gröblich verharmlost", die geeignet ist, 'den öffentlichen Frieden zu stören'... Diese neue Strafdrohung ist 'sehr weitgehend', sagt der Strafrechtler Martin Heger, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt und auf Hate-Speech-Delikte spezialisiert ist. Denn damit verabschiedet sich die Bundesrepublik von ihrem bisherigen exklusiven Fokus auf die 'Auschwitz-Lüge', also der Behauptung, der Holocaust habe nie stattgefunden, als einzigem justiziablen Fall von Geschichtsrevisionismus. Anders ausgedrückt: Damit fordert der Gesetzgeber die hiesigen Staatsanwaltschaften auf, sich von nun an in mehr historische Debatten einzumischen als bisher."

Giorgia Meloni bleibt bei der Distanzierung vom Faschismus zwiespältig, schreibt Oliver Meiler, in der SZ, der aus ihrer jüngsten Programmrede zitiert: "Sie sagt, ihr hätten Totalitarismen nie gefallen, auch der Faschismus nicht. 'Ich hielt die Rassengesetze von 1938 immer schon für den Tiefpunkt der italienischen Geschichte, für eine Schande, die unser Volk für immer zeichnen wird.' So deutlich war sie noch nie, es war Zeit. Dann schiebt sie aber gleich nach, dass der militante Antifaschismus auch eine Menge Opfer auf dem Gewissen habe. Es ist ein Wink an ihr Parteivolk, es soll sich nicht betrogen fühlen."
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Politik

In der westlichen Bevölkerungen findet die im Exil lebende iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi viel Sympathie. Aber die Politiker kritisiert sie im Gespräch mit Moritz Baumstieger in der SZ: "Die haben bislang nur geredet. Erst jetzt, wo klar ist, dass Iran Russland gegen die Ukraine unterstützt, schauen sie genauer hin. Nun wollen sie die Sanktionen verschärfen, während die Menschen in Iran schon seit 43 Jahren unter diesem Regime leiden. Ich hoffe, dass jetzt ernsthaftere Sanktionen kommen - gegen die Regierung."

Der BDS ist nicht antisemitisch, sagt der französische Islam-Wissenschaftler Olivier Roy im Gespräch mit Michael Hesse von der FR kategorisch. Es gebe in dieser Frage einen "deutschen Komplex": "Alle sind Antisemiten bis auf uns. Denken Sie an den palästinensischen Autor Mohammed El-Kurd, der vom Goethe-Institut ausgeladen wurde, alle haben darüber gelacht: Er ist nun einmal Palästinenser, er protestierte gegen Israel, seine Eltern wurden von Israel aus dem Haus in Sheikh Jarrah geworfen. Also was? Was erwartet man da?" (Unser Resümee zu dieser Debatte) Im Bezug auf den Iran sagt Roy: "Wir sollten niemals vergessen, dass die iranische Bevölkerung sehr konservativ ist. Es gibt viele Familien, die darauf bestehen, dass die Frauen eine Kopfbedeckung tragen." Ob der Aufstand zur Revolution wird, hänge davon ab, dass sich auch dem Regime nahestehende Gruppen anschließen. Eine neue Qualität hätte der Aufstand aber auf jeden Fall: "Es ist nicht wie vor zehn Jahren, als die Liberalen die Konservativen attackierten. Heute wird der Kern des Regimes angegriffen. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod."
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Geschichte

Während Nikita Chruschtschow in der Kubakrise vor sechzig Jahren eine friedliche Lösung ermöglichte, hätten Fidel Castro und Che Guevara die Atombombe auf Kuba bevorzugt, erinnert der Historiker Lukas Böckmann in der FAZ: "Die Revolutionsführung zog aus Chruschtschows Agieren einen weitreichenden Schluss. In Havanna kam man zu der Überzeugung, dass im Ernstfall kein Verlass auf die sowjetischen Verbündeten war. Noch in den ersten Novembertagen brachte Ernesto Guevara in einem längeren Aufsatz über die Taktik und Strategie der Revolution in Lateinamerika zum Ausdruck, was das politisch für die Zukunft bedeutete. In der zurückliegenden Krise hatte die kubanische Bevölkerung, Guevaras Ansicht nach, 'das fiebererregende Beispiel eines Volkes abgegeben, das bereit war, sich in der atomaren Konfrontation zu opfern, damit seine Asche als Dünger neuer Gesellschaften diene'."
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Gesellschaft

Frauen werden in der Medizin benachteiligt, sagt die Autorin Elinor Cleghorn, die ein Buch über die Geschichte der Gendermedizin geschrieben hat, im Gespräch mit Nicole Opitz von der taz: "Die Medizin war schon immer eines der Machtsysteme, das auf der Binarität von sex und gender bestand. Und die Vorstellungen der Medizin über die Gesundheit und den Körper von Frauen sind heute untrennbar mit diesen sehr geschlechtsspezifischen Varianten verbunden." Würden sie nicht so benachteiligt, wäre der Unterschied zwischen der Lebenszeit der Frauen und der Männer also noch größer?
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Stichwörter: Binarität, Gender

Ideen

taz-Kolumnist Georg Diez bekennt stolz, Faschisten als Faschisten bezeichnen zu wollen. Sein Artikel gilt dabei ganz allein rechten Regierungen wie in Schweden oder Italien - über Putin verliert Diez kein Wort. Faschismus funktioniere heute "oft weniger über sichtbare und mehr über unsichtbare Machtausübung oder besser: Gewalt. Die Werte mögen die gleichen sein, Gott, Familie, Vaterland, wie es die faschistischen Brüder Italiens von Giorgia Meloni formulieren, ganz im Geist von Benito Mussolini - die Wirkweisen aber sind andere. Es ist bislang eine Art Trickle-down-Faschismus, der sich langsam seinen Raum nimmt in den Gesellschaften, eine Grundhaltung des Verdachts statt des Vertrauens."
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