9punkt - Die Debattenrundschau

Bisher unbekannte Hohlräume

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.01.2023. Es scheint sich eine ähnliche Debatte anzubahnen wie nach der Kölner Silvesternacht 2015: Sollte über ein Böllerverbot diskutiert werden, fragen die einen. Müssen wir nicht eher die Probleme benennen, die zu der Gewalt an Silvester führten, fragen die anderen. Annalena Baerbock hat das Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt umbenannt, und das zu Recht, findet der Historiker Eckart Conze in der FAZ.  "Das Böse" ist ein Begriff, auf den wir in der politischen Debatte nicht verzichten können, schreibt Richard Herzinger in der Zeitschrift Internationale Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.01.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Zu Silvester ist es zu massiven Angriffen gegen Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen gekommen wie zuletzt bei Demonstrationen von Querdenkern, Reichsbürgern oder auch beim G20-Gipfel in Hamburg. Aber die Medien diskutieren nicht über die Frage, woher die Gewalt kommt, sondern ob sie mit einem Böllervebot zu verhindern wäre. In der SZ hält Georg Ismar das für Unsinn: "Es braucht dringend mehr Ehrlichkeit in dieser Debatte, eine schonungslose Analyse auch der Bundesregierung, wie man der Tatsache begegnen will, dass gerade junge Männer - in Berlin oft aus dem migrantischen, woanders verstärkt auch aus dem rechtsextremen Milieu - den Staat als Feindbild sehen und in dem Kontext dann diejenigen angreifen oder sogar in Hinterhalte locken, die nur helfen wollen. ... In die Irre führt die Debatte um Böllerverbote - denn sie erfasst nicht den Kern des Problems: Die Angriffe in Berlin und anderen Städten sind schließlich kein reines Silvesterproblem. Zumal ein Böllerverbot in einer Stadt wie Berlin flächendeckend kaum durchzusetzen wäre."

Das Böllerverbot soll kommen, fordert hingegen Ariane Lemme in einem Pro und Contra in der taz: "Das dümmste Argument gegen ein Böllerverbot ist das mit der Freiheit. Welche Freiheit ist da gemeint? Die Freiheit zu feiern, wie es einem gefällt? Die Freiheit, den Nachtdienst im Rettungswagen halbwegs unbeschadet zu überstehen?" Gegen ein Böllerverbot plädiert Lukas Wallraff, der die Gewaltszenen einer allgemeinen Stimmung in der Bevölkerung zuordnet: "Die Volksabstimmung am ersten Silvester nach der Coronapause hat klar ergeben, dass das sinnentleerte Feuerwerk quer durch alle Bevölkerungsschichten offenkundig immer noch sehr beliebt ist. In den stigmatisierten Problemvierteln der Großstädte ebenso wie auf dem geistig angeblich flachen Land. Das einfach zu ignorieren, wäre elitär und kontraproduktiv."

Bei Twitter wird gestritten, ob ein Zeit-online-Artikel, in dem es zunächst heißt "die Ausgangspunkte der Gewalt sind schwer auszumachen" oder eine Youtube-Reportage des "Team Reichelt" das Problem genauer eingrenzen. Am Ende benennen aber beide durchaus, dass es sich bei den Tätern häufig um junge Männer mit Migrationshintergrund handelt - bei Reichelt kommen sie allerdings direkt zu Wort.

Rückhaltlose Aufklärung auch in der "Tagesschau":

Eigentlich geht's uns gut hier in Europa, dennoch haben immer mehr Menschen Angst - vor dem Klimawandel, dem Ukrainekrieg, Corona, Angst um die Demokratie oder um den Sozialstaat, Angst, nicht zu genügen. Der Philosoph Robert Pfaller findet das im Interview mit der NZZ besorgniserregend: Zwar hätten sich auch früher schon Menschen geängstigt, aber die Angst heute sei anders. "Selbst in den schlimmsten Zeiten des 20. Jahrhunderts haben die Menschen geglaubt, dass es ihnen morgen besser gehen würde. Die Moderne vertraute auf den Fortschritt. Wir Postmodernen dagegen haben diese Hoffnung verloren. Gerade in den reichsten Ländern glauben die wenigsten Menschen, dass es ihnen oder ihren Kindern morgen besser gehen wird." Und während Menschen früher "unter innerpsychischen Konflikten" litten, so Pfaller, empfinden sie sich heute "anscheinend eher als ganze Person peinlich oder haben Angst, so wahrgenommen zu werden".
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Kulturmarkt

Der Absatz der Buchbranche sank um 4,6 Prozent, meldet die FAZ unter Bezug auf Äußerungen Peter Kraus vom Cleffs vom Börsenverein. Die Branche sieht sich dennoch gezwungen, die Preise zu erhöhen. "Der durchschnittliche Buchpreis stieg dem Börsenblatt zufolge deutlich an: insgesamt um 4,9, in der Belletristik um 5,9 Prozent. Vor allem Kinder- und Jugendbücher wurden demnach deutlich teurer, Vorlesebücher um siebzehn, Bilderbücher um dreizehn Prozent. Wie schon im Vorjahr ist der entscheidende Kostenfaktor der gestiegene Papierpreis. Papier wird unter anderem deshalb knapp, weil laut Bundesverband Druck und Medien viele Hersteller inzwischen auf Kartonagen umgestellt hätten."
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Stichwörter: Buchbranche

Ideen

Richard Herzinger plädiert in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik für "das Böse" als eine Kategorie, um bestimmte Regimes oder Akteure zu beschreiben. Er wendet sich damit gegen Harald Welzer, der den Gebrauch des Begriff durch Serhij Zhadan kritisiert hatte. Aber gerade demokratische Regimes müssen die "Realität des Bösen" anerkennen lernen und ihm nicht eine Rationalität zuschreiben. Herzinger will eine Säkularisierung des Begriffs im Sinne von André Glucksmann, der "die Anfälligkeit der modernen Zivilisation für den Einbruch der äußersten Unmenschlichkeit nicht in ihrer Abkehr von religiöser Tradition und Transzendenz, nicht also im Verlust metaphysischer Anbindung an die Idee des Guten begründet, sondern in ihrer zunehmenden Weigerung, an die Existenz des Bösen zu glauben. Eine Zivilisation, argumentierte Glucksmann, gründe sich nicht auf das Streben nach dem besten Gesellschaftszustand, sondern auf den gemeinsamen Willen zur Ausgrenzung des Bösen. Lässt dieser Wille nach, weil das Böse relativiert wird, bahnt es sich seinen Weg."
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Geschichte

Annalena Baerbock hat das Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt umbenannt, das dazugehörige Birmarck-Porträt wird womöglich in eine Bonner Dépendance abgeschoben. Die Entscheidung hat Kritik auf sich gezogen. Aber der Historiker Eckart Conze kann die Aufregung in der FAZ nicht nachvollziehen. Der Bezug zu Bismarck sei schon in der Bonner Republik distanziert gewesen. Baerbock hat das Zimmer jetzt wohl aus postkolonialen Rücksichten umbenannt - unter Bismack entstand der deutsche Kolonialismus -, aber Conze plädiert auch für einen  kritischen Blick auf Bismarcks Europa-Politik. Die viel gelobte Bündnispolitik nach 1871 sei kein "europäisches Sicherheitssystem, das diesen Namen verdient hätte". Vor allem war da die Ursünde der Reichsgründung durch den deutsch-französischen Krieg: "Ein stabiler, von allen Seiten akzeptierter europäischer Frieden war unter diesen Bedingungen nicht möglich. Was phasenweise wie Frieden aussah, war nie mehr als ein stets prekärer Nichtkrieg unter dem Grundvorbehalt der deutsch-französischen Feindschaft."
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Kulturpolitik

Die Stadt Köln macht kulturpolitisch meist eher mit einstürzenden Stadtarchiven von sich reden. Da ist es ja vielleicht ein Glück, dass die Erweiterung des Wallraf-Richartz-Museums, die seit zwanzig Jahren geplant wird, bisher nicht zustande kam. Für Johannes Novy, der für die taz berichtet, ist das nur ein Beispiel für eine weithin verfehlte Stadtentwicklungspolitik: "Als die Stadt das dafür vorgesehene Grundstück neben dem bestehenden Museum und unweit des historischen Rathauses erwarb, gab es die D-Mark noch. Eigentlich hätte die Realisierung des Erweiterungsbaus, dessen Entwurf auf einen 2013 (!) entschiedenen Architektenwettbewerb zurückgeht, schon längst beginnen sollen, doch im August wurde bekannt, dass es dazu auch dieses Jahr nicht mehr kommen würde. Die Stadt sprach von bisher unbekannten Hohlräumen im Baugrund, die Kritiker davon, dass sie es schlicht versäumt hat, den Baugrund früher zu untersuchen - Zeit genug hätte sie ja gehabt."
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