9punkt - Die Debattenrundschau

Wiederholung des verlorenen Baus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.01.2023. Man kann ja viel Schlimmes über den Kapitalismus sagen, aber ohne geht es irgendwie auch nicht, füchtet Wolfgang Merkel in der FR. Bei Libmod staunt Marko Martin über Oliver Nachtweys Totalitarismusbegriff. Die Berliner Zeitung antwortet auf einen FAZ-Artikel, der nicht mehr existiert. taz und FAZ machen sich Sorgen um die brasilianische Demokratie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.01.2023 finden Sie hier

Ideen

Man kann ja viel Schlimmes über den Kapitalismus sagen, aber irgendwie brauchen wir ihn doch. Auf Bascha Mikas in der FR gestellte Frage, ob sich Demokratie nicht vom Kapitalismus verabschieden muss, um zu überleben, antwortet der Politologe Wolfgang Merkel: "Nein, das ist eine Zwangsverheiratung. Der Kapitalismus folgt zwar einem anderen Prinzip, aber die Demokratie ist auf den Kapitalismus angewiesen, auf seine Effizienz und Innovationskraft, sonst wird sie an Legitimität bei ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern verlieren. Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht, aber die Demokratie braucht den Kapitalismus."

Fortschritt ist passé, Selbstverwirklichung sowieso, prophezeit der Soziologe Philipp Staab im Gespräch mit Stefan Reinecke von der taz. Im Klimawandel sei stattdessen Anpassung gefragt. Und kollektives Glück. Ein Beispiel habe Südkorea in der Zeit der Militärdiktatur gegeben: "Nach dem Koreakrieg war der Süden massiv entwaldet. In den fünfziger und sechziger Jahren gab es eine Reihe von Fluten wie im Ahrtal, mit vielen Opfern. Und danach, zu Zeiten der Militärdiktatur, ein gigantisches Wiederaufforstungsprojekt, an dem die halbe Gesellschaft beteiligt war. Am Wochenende haben Eltern mit ihren Kindern Setzlinge gepflanzt. Südkorea ist heute dichter bewaldet als China, Indien oder das historische Europa. Ich habe in Südkorea kritische Soziologen getroffen, die als Studenten gegen das Militärregime rebellierten und unverdächtig sind, es zu glorifizieren. Ich habe sie nach diesem Wiederaufforstungsprojekt gefragt, und die Antwort war erstaunlich. Sie haben sich angesehen und ein Lied angestimmt, das sie immer sangen, wenn sie mit Eltern, Lehrern, Klassenkameraden Bäume gepflanzt haben. Das war eine Erfahrung kollektiver Freiheit und Mobilisierung."

Schwer angesagt ist das Buch "Gekränkte Freiheit" der Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey. Marko Martin liest es bei Libmod mit Interesse, er staunt aber auch über den eindimensionalen Totalitarismus-Begriff des Buchs: "Die Kenntnis des östlichen Totalitarismus ist bis heute allenfalls löchrig vorhanden; die eindrücklichen Erfahrungsberichte der Dissidenten von damals spielen kaum eine Rolle. Wie anders wäre zu erklären, dass Amlinger und Nachtwey in ihrem Buch schreiben: 'Als der sozialistische Ostblock ab 1989 zusammenbrach, verengte sich der utopische Raum vollends. Mit den sozialistischen Utopien verlor ein Teil des intellektuellen Protests seine normativen Maßstäbe. Ideale wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit büßten zwar nicht an Geltungskraft ein, sie haben sich aber von ihrer 'Zukunftsorientierung' entkoppelt.' Man reibt sich die Augen: mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems ist die sozialistische Utopie verlorengegangen? Bei allem Respekt: Wie entkoppelt von geschichtlichem Basiswissen muss man sein, um so etwas drucken zu lassen?"
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Medien

Hanno Hauenstein, der Doyen der Israelkritik im deutschen Journalismus, antwortet in der Berliner Zeitung auf einen FAZ-Artikel, der gar nicht mehr existiert (er existiert in Wirklichkeit doch noch, im Archiv darf man ihn für 3 Euro kaufen): Es geht um Thomas Thiels offenbar doch ziemlich schnell hingeworfene Kritik an den EU-Positionen zu Israel (unser Resümee), die dann wegen zahlreicher Fehler im Detail von der Zeitung mit überraschendem Brimborium online zurückgezogen wurde - mehr hier. Hauenstein hat den Artikel nochmal gelesen und herausgefunden, dass die Autoren, auf die sich Thiel mit seiner Krtiik an der EU maßgeblich bezieht, offenbar der evangelikalen Rechten der USA angehören. Der Evangelikalismus sei zwar proisraelisch, aber antisemitisch so Hauenstein. Nicht selten koppele sich die antisemitische Haltung "an eine zynische Bewunderung für Nationen wie Israel, wo ethnische Homogenität politisch immer wichtiger wird - fraglos wichtiger ist als staatsbürgerlich verbürgter Pluralismus". Womit erwiesen wäre, dass Israel-Befürworter sich als Antisemiten entpuppen können, während Israelkritiker wie Hauenstein nur aus Sorge um die Juden agieren.

Die "Tagesschau" hat sich verrechnet:
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Kulturpolitik

Etwas wolkig greifen die Denkmalpfleger Uta Hassler und Christoph Rauh in der FAZ in die Debatte um den möglichen Wiederaufbau der Schinkelschen Bauakademie ein: "Was könnte ein erneuerter 'Musterbau Bauakademie' heute dennoch bewirken? Anknüpfend an ihre historische Bedeutung könnte die 'neue' Bauakademie zum Demonstrationsobjekt für eine experimentelle Wiederholung des verlorenen Baus und seiner Details werden - auch als Evokation des verlorenen Ideals einer Erneuerung des Bauwesens und als Schritt zurück in die Langlebigkeit der Konstruktionen selbst."
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Stichwörter: Bauakademie Berlin

Politik

Niklas Franzen und Natascha Strobl blicken in der taz auf die Erstürmung der brasilianischen Regierungsgebäude durch Bolsonaro-Anhänger zurück, ziehen Parallelen zur Erstürmung des Kapitols in den USA und warnen vor einer globalen extremen Rechten: Die sich bildenden Netzwerke seien "keine große Verschwörung, sondern logische Folge einer sich schon lange inter- und transnationalisierenden extremen Rechten, die das Ideal und Kampfbegriff der 'Nation' zugunsten von 'Kultur' aufgegeben und so größere imaginierte Kriegsfelder für sich entdeckt hat. Diese Entwicklung hat sich schon in der Europa-Ideologie der Identitären (und dann der Neuen Rechten) angekündigt und zieht nun größere Kreise. Russland, Brasilien oder Israel sind weitere Projektionsflächen im Kampf 'Globalismus' vs. Traditionalismus. Der Globalismus wird dabei vor allem im Weltwirtschaftsforum, bei George Soros und seiner Open Society oder auch der WHO und jeder nicht-rechtsextremen Regierung vermutet."

Lula hat es vorerst geschafft, die demokratischen Kräfte des Landes gegen die Putschgefahr zu einen. Nur ist er selbst auch keine unproblematische Figur, schreibt Tjerk Brühwiller in der FAZ: "Unter seiner Regierung hat Brasilien zwar eine wirtschaftliche Hochblüte und einen märchenhaften Aufstieg erlebt, gleichzeitig aber den bisher größten Korruptionsskandal der Geschichte, für den viele Brasilianer trotz der annullierten Korruptionsprozesse Lula da Silva verantwortlich machen. Der Hass gegen den ins Amt zurückgekehrten Präsidenten und seine Arbeiterpartei ist einer der Gründe für die Spaltung des Landes, die den Aufstieg Bolsonaros erst ermöglicht hat. Fast die Hälfte aller Wähler hat Bolsonaro wiedergewählt und nicht Lula da Silva."
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Europa

Geben Sie es zu: Er hat schon Charme. Emmanuel Macron spricht vor einer Schulklasse über die Liebe zu seiner ehemaligen Lehrerin.
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Stichwörter: Macron, Emmanuel