9punkt - Die Debattenrundschau

Solche Herablassung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.02.2023. Heute startet die Münchner Sicherheitskonferenz. Ihr Chef Christoph Heusgen fordert in der FAZ ein Sondertribunal für Putin. Mit Abscheu liest Richard Herzinger für den Perlentaucher den Wagenknecht-Schwarzer-Aufruf. Im Spiegel laden die beiden auch Rechtsextreme zu ihrer Demo ein, sofern sie "ehrlichen Herzens für Frieden" sind. Der Habermas-Text provoziert noch einige tiefschürfende Analysen. Die New York Times hat gerade eine Menge Ärger wegen angeblicher Transfeindlichkeit. Die Debatte sollte schon aus gesundheitlichen Gründen in ihrem Sinne beendet werden, warnen Aktivisten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.02.2023 finden Sie hier

Europa

Heute startet die Münchner Sicherheitskonferenz, berichtet Pascal Beucker in der taz. Vier Demos sind geplant, nur eine solidarisiert sich mit der Ukraine, drei warten mit fast gleichlautenden Aufrufen (Stopp der Waffenlieferungen) auf, eine des linken "Aktionsbündnisses gegen die Nato-Sicherheitskonferenz", das immerhin noch Putins Angriffskrieg verurteilt, eine von Rechtsextremen und der AfD. Und eine "dritte Demo, die von einem Bündnis aus der Corona-Leugner:innen- und der sogenannten Querdenker-Szene organisiert wird, die für sich inzwischen den Ukrainekrieg zum neuen Aktionsfeld auserkoren haben. Hauptredner dort sind der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete und heutige Kleinstparteigründer Jürgen Todenhöfer sowie der Ex-Linken-Parlamentarier und Musikmillionär Diether Dehm, der wohl seinen Song 'Ami go home' zum Besten geben will."

Wladimir Putin war früher Gast bei der Münchner Sicherheitskonferenz. 2007 hielt er dort eine berüchtigte Rede, die die westlichen Politiker schockierte, bevor sie wieder zur Tagesordnung übergingen und ihre Gasgeschäfte mit ihm intensivierten. Heute schreibt der neue Chef der Siko, Christoph Heusgen, in der FAZ: "Dieses Jahr haben Wladimir Putin und Sergej Lawrow keine Einladung erhalten. Sie haben alle Verhandlungsangebote abgelehnt. Das Ziel ihrer Regierung bleibt die Auslöschung der Ukraine als eigenständiger Staat. München darf nicht Plattform sein für Propaganda, wo unsägliche Reden vorgelesen werden, deren wirklichkeitsfremde Inhalte bereits sattsam bekannt sind." Heusgen fordert ein über die UN einzurichtendes Sondertribunal, "das über Putin und Lawrow richten kann".

Mit Abscheu liest Richard Herzinger im Perlentaucher den Schwarzer-Wagenknecht-Aufruf, der ein Einknicken der Ukraine für einen deutschen Frieden fordert - und fühlt sich ungut an die Debatten im Bosnienkrieg erinnert: "Die Argumente der damaligen Interventionsgegner waren mit denen der heutigen Widersacher einer militärischen Unterstützung der Ukraine weitgehend identisch. Bestand ihre Hauptsorge doch darin, eine 'einseitige' Parteinahme des Westens könnte zu einer 'Eskalation' des Konflikts führen. Die Furcht davor, dass etwas so Archaisches wie der Krieg auch in die eigene Oase zivilisierter Friedfertigkeit eindringen könnte, stand über der Empathie gegenüber den Opfern einer völkermörderischen Aggression."

Im Spiegel-Interview verteidigen Schwarzer und Wagenknecht ihr Interview nochmal und laden auch Rechtsextreme ein: "Auf unserer Kundgebung ist jeder willkommen, der ehrlichen Herzens für Frieden und für Verhandlungen demonstrieren möchte", so Wagenknecht. "Rechtsextreme Flaggen oder Symbole dagegen haben auf ihr nichts zu suchen und werden nicht geduldet. Mehr ist dazu nicht zu sagen."

Im Tagesspiegel verteidigt David Ensikat, der 1987 Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee leistete, wie er eingangs klarstellt, das Manifest von Schwarzer und Wagenknecht: "Keine Frage, dass die Sympathien auf der Seite der Ukraine stehen. Sie sagen, sie wollen weiterkämpfen. Wir wissen, dass die Erfolgschancen gering sind. Wir liefern ihnen Waffen, und wir wissen, dass es nicht genug sein werden, um das Kriegsziel zu erreichen. Was soll man denn tun, wenn nicht verhandeln? (…) Weil die Gefahr besteht, dass der Krieg sich über die Ukraine hinaus ausweitet, kann nicht die Ukraine über unsere Haltung bestimmen."

Es wird auch weiter über Habermas diskutiert.

"Für eine politische Analyse, die auch Sicherheitsgarantien des Westens für eine Ukraine in den Grenzen vom 23. Februar 2022 behandeln müsste, ist das, was Habermas an Analysen und Argumenten bietet, … zu wenig", meint Mladen Gladic, der heute in der Welt nochmal auf einige Probleme im Habermas-Text aufmerksam macht: "Ganz offensichtlich ist der Krieg eine Überforderung für Habermas' noch immer am Ideal gelingender Kommunikation ausgerichtetes Denken. Eine Aussage, wie die der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, wonach wir 'mit unseren Waffen Leben retten', muss Habermas in zweifachem Sinne als monströs erscheinen. Monströs auch, weil dort, wo Waffen sprechen, die kommunikative Vernunft schweigen muss."

Deutliche Worte findet auf ZeitOnline auch der Osteuropa-Historiker Jan C. Behrends, der es ebenfalls für ziemlich "gefährlich" hält, dass Habermas Putin "kommunikative Vernunft" unterstelle. Zudem wirft er Habermas einen kolonialen Blick auf die Ukraine vor, da der Philosoph übersehe, dass Deutsche andere Erfahrungen mit militärischer Besatzung gemacht hätten als Ukrainer: "Habermas' Text kippt schließlich ins Absurde, als er die Ukraine zur 'allerspätesten' Nation Europas erklärt. Wenn schon Superlativ wäre die Ukraine die 'allereuropäischste' Nation, weil sie in diesem Krieg stellvertretend für Europas Werte kämpft. Doch dafür gibt es hier keine Empathie, die Ukraine sei schließlich nur eine 'Nation im Werden'. Doch wo ist die Nationsbildung denn vortrefflich abgeschlossen? Hatte die Ukraine nicht auch im 19. Jahrhundert eine Nationalbewegung und 1918 eine Republikgründung wie Deutschland? Teilen wir nicht die Erfahrung der totalitären Diktatur?"

"Frieden herrscht erst dann, wenn Russland uns nicht weiter bedroht. In unseren Augen sind daher einige im Westen vorgetragene Ideen - etwa, dass wir einen Kompromiss mit Moskau suchen, Territorium abgeben sollten -, sehr naiv", stellt Wolodymyr Jermolenko, Präsident des ukrainischen PEN-Clubs gleich zu Beginn des SZ-Gesprächs mit Cathrin Kahlweit klar. Er hofft auf den Zerfall des russischen Imperiums, befürchtet aber zugleich ein "Jahrhundert, in dem der Westen in der Defensive" ist: "Geschichte bedeutet, dass alte Strukturen zerfallen und neue Strukturen entstehen. Francis Fukuyama glaubte 1989, dass sich westliche Strukturen und Denkmuster ausbreiten würden. Im Kreml versuchte man jedoch, die eigene Schwäche auf den Westen zu übertragen - durch die Schwächung internationalen Rechts, internationaler Institutionen. Das ist der Schlüsselgedanke hinter den diversen russischen Angriffen auf fremde Staaten: Wenn ihr unsere Welt, unsere Ordnung zerstört, dann zerstören wir eure Ordnung. Dieser Prozess begann nach dem Fall der Mauer, und Wladimir Putin bestätigt das ja auch immer wieder."

Giuliano da Empoli hat mit "Der Magier im Kreml" einen Roman über die Faszinationskraft des Putinismus geschrieben. Im NZZ-Gespräch stößt er damit auf kritische Nachfragen: Ist das alles zu distanzlos? "Ich habe versucht, mich in die Gedankenwelt von Putins Chefpropagandisten hineinzuversetzen. Das ist doch der Witz eines Romans." Die Russen sehnen sich nach Autorität, vermutet er: "In den 1990er Jahren implodierte das alte System. Obwohl es nicht funktionierte, hatte es für die Leute immerhin eine gewisse Berechenbarkeit. Dann brach das Chaos aus, Moskau wurde zu einem Disneyland für Erwachsene mit Kalaschnikows. In so einem Umfeld wünschen sich die Menschen eine Wiederherstellung der Autorität, oder wie es Putins Leute ausdrücken: Vertikalität. Diesen Wunsch nach Ordnung, Autorität und Kontrolle kann man aber nicht nur in Russland beobachten. Die Popularität von Putin im Westen zeigt sehr klar, dass es diese Bedürfnisse auch bei uns gibt."
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Medien

Ärger bei der New York Times, auf den Tom Jones im Poynter hinweist (mehr auch in der Daily Mail): Die New-York-Times-Redakteurin Pamela Paul hat ein Editorial "In Defense of J.K. Rowling" geschrieben. Hier  weist sie auf ein Podcast hin, in dem Rowlings selbst ausführlich über die äußerst scharfe Debatte um sie sprechen wird und kommentiert gegen die Angriffe aus der Trans-Community: "Diese Kampagne gegen Rowling ist ebenso gefährlich wie absurd. Die brutale Messerattacke gegen Salman Rushdie im letzten Sommer ist eine eindringliche Erinnerung daran, was passieren kann, wenn Schriftsteller dämonisiert werden. Und im Fall von Rowling stimmt die Charakterisierung als Transphobikerin nicht mit ihren tatsächlichen Ansichten überein." Diesem Editorial war ein Offener Brief von 200 New-York-Times-Mitarbeitern vorausgegangen, in dem "ernste Sorgen über redaktionelle Voreingenommenheit in der Berichterstattung der Zeitung über Transgender, nicht-binäre und geschlechtsuntypische Menschen" vorgebracht wurden. Dieser Brief wurde auch von namhaften JournalistInnen wie Roxane Gay, Dave Itzkoff und Ed Yong unterzeichnet.

Auf die Kampagne ist die LGBT-aktvistische Gruppe GLAAD um einige bekannte Celebrities aufgesprungen, die mit einem Plakatwagen vor dem Times-Gebäude demonstriert und ebenfalls einen Offenen Brief publiziert hat. Sie warnt schon aus gesundheitlichen Gründen vor anderen Debattenstandpunkten als dem eigenen: "Die Times hat wiederholt gleichgeschlechtlichen (nicht-transgender) Menschen eine Plattform geboten, die ungenaue und schädliche Fehlinformationen über transgender Menschen und Themen verbreiten. Dies schadet der Glaubwürdigkeit der Zeitung. Und es schadet allen LGBTQ-Menschen, insbesondere unseren Jugendlichen, die sagen, dass sich Debatten über die Gleichstellung von Transsexuellen  negativ auf ihre psychische Gesundheit auswirken, was ein Faktor ist, der zu den hohen Selbstmordraten bei LGBTQ-Jugendlichen beiträgt."

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Kulturpolitik

In der NZZ sammelt Thomas Zaugg einige afrikanische und afroamerikanische Stimmen, die kritisieren, dass in Europa die postkoloniale Geschichtsaufarbeitung mitunter in Aktionismus umschlage. Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr erinnere etwa: "Afrikanische Museen … wollten längst nicht alle gestohlenen Objekte restituiert sehen. Außerdem hätten viele der Objekte durch ihre Zeit in Europa an geistiger Bedeutung eingebüßt, die durch erneute Ritualisierung erst wiederhergestellt werden müsse. Ähnlich quer stellt sich Sarr in der Frage der Entwicklungshilfe. Aus afrikanischer Sicht meint er: 'Wir müssen bei all dem Guten, das andere wollen, unser Wörtchen mitzureden haben und 'Nein, danke' sagen können. Wir wollen nicht Mitleidsobjekt, sondern in erster Linie das Subjekt der eigenen Geschichte sein.'"

Ebenfalls in der NZZ kommt Paul Jandl auf die in die Kritik geratene Ausstellung "Missverständnisse über und unter Juden" im Jüdischen Museum in Wien zurück (Unser Resümee). "Missverständlich kann es sein, wenn in der Ausstellung der Leuchtschriftsatz der Künstlerinnen Sophie Lillie und Arye Wachsmuth steht: 'Endsieger sind dennoch wir'. Von Boaz Arad stammt der 'Hitler Rug'. Der erlegte Führer als Bettvorleger. Der israelische Künstler Tamir Zadok parodiert in seinem Video 'The Matza Maker' die antisemitische Legende vom jüdischen Ritualmord an christlichen Kindern, die sich bis heute in nicht wenigen Verschwörungstheorien hält. Ein Knabe wird zu Matzenbrot verarbeitet. Zadoks Werk ist vierzehn Jahre alt. Es wurde schon oft gezeigt, aber in Wien wird es zum Skandal. 'Diese Provokationen werden von einigen im Publikum und Teilen der Kultusgemeinde falsch verstanden', sagt der jüdische Schriftsteller Doron Rabinovici gegenüber der NZZ. 'Die Provokation wird als Affirmation gesehen.'"
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Geschichte

Was Widerstand in dem Moment heißt, in dem man ihn leistet, lange vor der keineswegs garantierten posthumen Heroisierung, versteht man, wenn man Dominik Baurs taz-Interview mit Wolfgang Huber liest. Sein Vater Kurt Huber gehörte zur "Weißen Rose", hatte Flugblätter geschrieben und wurde von den Nazis hingerichtet. Anerkennung gab es dafür nicht. In seinem Abschiedsbrief hatte er an seine Frau, seinen Sohn und seiner Tochter geschrieben, sie sollten sich seiner nicht schämen: "Damals galt er als Vaterlandsverräter. Selbst ein Teil meiner Familie - interessanterweise ausgerechnet der väterlicherseits - sah das so. Onkel Richard beispielsweise, sein Bruder, war in der SA. Mein Vater war das schwarze Schaf in der Familie. Da war seine Sorge schon nachvollziehbar, dass sein damals vierjähriger Sohn auch mit einem solchen Bild aufwachsen könnte. Übrigens hat sich dieses Bild des Hochverräters nach dem Krieg keineswegs sofort geändert."
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Stichwörter: Weiße Rose, Huber, Kurt