9punkt - Die Debattenrundschau

Wir machen mal 'ne Nullnummer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2023. In der SZ plädiert Slavoj Zizek für Verhandlungen mit Russland, aber nicht für Kompromisse. Ebenfalls in der SZ fordert der Politologe James W. Davis mehr Waffenlieferungen und Sanktionen. Die taz schildert die türkische Politik der "Bauamnestien", die mit zu den Tausenden Erbebentoten beitrug. Die taz preist zwei Tage vor den Berliner Wahlen das schöne Neukölln.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.02.2023 finden Sie hier

Europa

Die Politik ist mit schuld an den vielen Erdbebentoten in der Türkei - Erdogan sicherte sich seine Klientel durch Immobilien- und Baupolitik. In der taz beschreibt Marion Sendker die Fehler, die gemacht wurden. "Dass höher als erlaubt gebaut wird, ist in einigen Gegenden der Türkei keine Ausnahme. Genauso ist es üblich, dass alle paar Jahre Amnestien durchgeführt werden - auch für Gebäudeteile ohne Sicherheitsgenehmigung. Laut einer Untersuchung der Ingenieur- und Architektenkammer der Stadtplaner Istanbul sollen bis zu 75.000 Gebäude in der Erdbebenzone solche Bauamnestien erhalten haben."

Im großen SZ-Interview mit Andrian Kreye spricht Slavoj Zizek über seine Fassung der Antigone, die Grenzen des Universalismus und eine ganz von "Wokeness" besessene Linke, die andere ausschließt. Außerdem spricht er sich für eine Bewaffnung der Ukraine aus, aber auch dafür, das Gespräch mit Russland zu suchen: "Der Krieg ist schon fast in einer Sackgasse. Es gibt keinen Sieger, kann keinen mehr geben. Auch wenn sich die Fronten noch verschieben. Das Ende der Sackgasse aber ist der Moment für Verhandlungen. Doch nicht für Kompromisse. Es kann ja nicht darum gehen, dass wir Putin die Krim überlassen. Aber wir müssen Russland auch ein paar Garantien geben. Zum Beispiel, dass das Ziel für uns als Westen nicht die Zerstörung Russlands ist, sondern das Überleben der Ukraine. Jürgen Habermas hat das vor ein paar Monaten sehr gut in Ihrem Feuilleton formuliert. Wir helfen einem Land, sich zu verteidigen. Und ohne diese Hilfe wäre die Ukraine nicht an diesem Punkt."

Für Waffenlieferungen plädiert ebenfalls in der SZ auch der Politologe James W. Davis, aber ein ukrainischer Sieg auf dem Schlachtfeld würde "Putins Fähigkeit zur Terrorisierung der Ukrainer nicht beeinträchtigen", meint er und fordert: "Erstens braucht die Ukraine ein Luftverteidigungssystem, das aus Lang-, Mittel- und Kurzstrecken-Flugabwehrwaffen besteht. Da diese Mangelware sind, sollten bereits heute jene Anstrengungen unternommen werden, die zur Erhöhung der Produktion führen. Zweitens sollten westliche Bauingenieure mit ihren ukrainischen Kollegen zusammenarbeiten, um die gesellschaftliche Resilienz zu erhöhen: Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Wiederaufbau kritischer ziviler Infrastruktur gewidmet werden, da diese das bevorzugte Ziel russischer Angriffe sind. Drittens muss Putins Fähigkeit, seine Raketenarsenale wieder aufzufüllen, dramatisch verringert werden. Dies bedeutet, die Sanktionen gegen die russische Verteidigungsindustrie fortzusetzen und ausländische Lieferungen kritischen Materials sowie Munition dorthin zu unterbrechen."
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Geschichte

Bei der Berliner Konferenz "The Politics of Memory as a Weapon: Perspectives on Russia's War against Ukraine" wird aktuell darüber diskutiert, ob der Krieg gegen die Ukraine hätte verhindert werden können. Die Berliner Zeitung hat mit den Organisatoren der Konferenz gesprochen, darunter Rafal Rogulski vom polnischen European Network Remembrance and Solidarity. Er verweist auf die Teilung Polens am Ende des 18. Jahrhunderts durch Preußen, Russland und Österreich, ein polnisches Trauma, und natürlich auf den Hitler-Stalin-Pakt. "Noch tiefer wurde Polen durch die russische Aristokratie in zaristischen Zeiten geprägt, die weitgehend deutscher Herkunft war, Katharina die II. war selbst Deutsche. Die DDR entstand aus der sowjetischen Besatzungszone des Verlierers Deutschland heraus, der gleichzeitig durch die Sowjets befreit wurde - die Sowjetunion bestimmte also weitgehend die Beziehungen. Dann kam noch Gorbatschow der Held, der die deutsche Einheit ermöglichte. In Polen wurden die Russen und die Sowjets immer meistens als diejenigen gesehen, die uns unsere Freiheit genommen haben und die es jetzt gerne wieder tun würden."
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Kulturpolitik

Cary Leibowitz, Do These Pants Make Look Me Jewish?, 2001 © Cary Leibowitz; Photo Courtesy The Artist New Directions


Bisher wurde die Debatte vor allem in Österreich geführt, nun erreicht sie das deutsche Feuilleton. Barbara Staudinger, neue Leiterin des Jüdischen Museums in Wien wird neben viel Lob vorgeworfen, mit ihrer ersten Ausstellung "100 Missverständnisse über und unter Juden" nationalsozialistische Inhalte zu propagieren. In der SZ fragt heute Cathrin Kahlweit, was so viel Erregung hervorruft: Die Ausstellung will Stereotype über Juden aufbrechen - und zwar "mit einem Augenzwinkern": "Infrage gestellt werden Identitäten und ihre Konstruktionen, Fremdbeschreibungen und Selbstverleugnung. Die Ausstellung thematisiert teils naheliegende, teils schräge Ansätze und Klischees - von der besitzergreifenden jüdischen 'Mame' über das romantisierte Schtetl und die Mystik der Kabbala, über jüdische Witze und jüdische Nasen, über besonders kluge Juden und besonders schwächliche Juden, über jüdischen Gemeinschaftssinn und jüdischen Geschäftssinn. Und macht auch vor der Shoah nicht halt: Sie fragt, was Vergangenheitsbewältigung ist und darf, ob ein 'Schlussstrich' legitim ist und ob der Begriff 'Endsieg' als Vokabel der nationalsozialistischen Kriegs- und Mordmaschine in ein Jüdisches Museum gehört."
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Medien

Schon mit der Integration von Gruner + Jahr in RTL war Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda (SPD) nicht glücklich, sagt er im SZ-Gespräch mit Anna Ernst. Überhaupt sei die Innovationsfreude in der Medienbranche "unterausgeprägt. Dabei ist der Veränderungsdruck in den privaten Medien enorm hoch. Andere Branchen wären schon längst dabei, Innovationsökosysteme zu bauen: Auch mit wissenschaftlicher Begleitung, die man braucht um neue Ideen für die Transformation zu entwickeln und auszuprobieren. In dem ein oder anderen Verlagshaus hat man immer noch das Gefühl, dass sich ein wesentlicher Bestandteil der Innovationsperspektive immer noch darauf bezieht, wie vor dreißig Jahren zu sagen: Wir machen mal 'ne Nullnummer und gucken, ob die am Kiosk gekauft wird und dann gucken wir weiter."

Für den Zeitraum von 2025 bis 2028 hat die ARD 250 Millionen Euro angesetzt, um in digitale Angebote zu investieren, meldet Joachim Huber im Tagesspiegel. Der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke kündigte "eine 'Portfoliobereinigung' an, die bei den linearen Angeboten, aber auch bei den Social-Media-Auftritten stattfinden solle. Im April werde es dazu einen ersten Ideenaustausch geben. Dabei werde auch die kommende gesetzliche Möglichkeit genutzt, lineare TV-Sender zu einem digitalen Angebot zu machen oder gar einzustellen, bekräftigte der SWR-Intendant. Die Einstellung könnte den Sender One betreffen, das Umswitchen die Programme tagesschau24 und ARD alpha. Kooperationen unter den Sendern des Verbunds werden laut ARD zum Regelfall werden, um mehr Kräfte für 'journalistische Exzellenz und hohe Recherchetiefe' zu bekommen."

Schön, wenn man mal so eben 250 Millionen Euro für die Digitalisierung ausgeben kann, kommentiert Michael Hanfeld in der FAZ und staunt über Losungen des öffentlich-rechtlichen Wandels: "Nicht mehr 'alle machen alles' lautet die Devise, sondern - überall anders würde man das für selbstverständlich halten - 'Kooperation wird der Regelfall'."

Der WDR hat eine Umfrage in Auftrag gegeben und herausgefunden, dass nur 41 Prozent der Bevölkerung das Gendern richtig und wichtig finden. Nun soll es nicht mehr die Regel im Sender sein, freut sich Matthias Heine in der Welt "Überzeugende sprachwissenschaftliche Argumente fürs Gendern hat es ohnehin nie gegeben. Die immer wieder angeführten psychologischen Studien, die beweisen sollten, dass bei der Verwendung der im Deutschen üblichen Verwendung des 'generischen Maskulinums' als geschlechterneutrale Form Frauen 'ausgeblendet' oder 'unsichtbar' würden, sind wissenschaftlich äußerst anfechtbar. Und eine Petition gegen die genderpositive Praxis der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender wurde im Juli zunächst von siebzig renommierten Sprach- und Literaturwissenschaftlern unterzeichnet. Mittlerweile ist die Zahl der Forscher, die unterschrieben haben, auf 470 gewachsen."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Am Sonntag sind in Berlin wahrscheinlich Wahlen. Die taz bringt ein Dossier zu Neukölln und insbesondere zur Sonnenallee, deren Multikultiflair unter anderem Jan Feddersen preist: Aber "Sonnenallee, das ist auch eine Straße, auf der Themen ausgespart werden, wie überall. Dass zum Beispiel abends Frauen arabischer Prägung nur selten in den Cafés und Essenslokalen zu sehen sind; dass die Jugendlichen, die zu Silvester aggressiv böllerten, eher nicht vom Rande dieses Teils der Straße kommen, sondern aus den Siedlungen am Ende, wo es ins Terrain des früheren Ostberlin übergeht, Endstation Baumschulenweg. Die Polizei sagt, rund um die Sonnenallee gäbe es im Alltag nicht mehr Kriminalität als anderswo, etwa in Mitte, Schöneberg oder Kreuzberg, man versuche, die Nervosität wegen der materiell dürftigen Lebenslagen der Bürger*innen im Zaum zu halten." Auch Jörg Sundermeier, Verleger des Verbrecherverlags, verteidigt in dem Dossier die Sonnenallee.

In Amerika liegt die Müttersterblichkeit während der Schwangerschaft oder nach der Geburt bei 17 Toden pro 100.000 Lebendgeburten. In Deutschland sind es drei Tote, in Norwegen 1,7, schreibt Adrian Beck bei hpd.de. In amerikanischen Staaten mit restriktiver Abtreibungspolitik liegen diese Zahlen noch wesentlich höher, so Beck, der sich auf eine zuerst hier besprochene Studie "Gender Equity Policy Institute" bezieht. "Knapp sechs von zehn Frauen (59 Prozent) in den USA leben in Bundesstaaten, die den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen stark eingeschränkt oder de facto komplett verboten haben. Wie die Daten des Gender Equity Policy Institute zeigen, sterben diese Frauen mehr als doppelt so häufig während oder nach der Schwangerschaft, verglichen mit abtreibungsermöglichenden Bundesstaaten wie Kalifornien. Die Muttersterblichkeit in abtreibungsfeindlichen Bundesstaaten liegt mittlerweile bei 47,5 Toden pro 100.000 Lebendgeburten und damit höher als in Schwellenländern wie Mexiko, Argentinien oder Ägypten."
Archiv: Gesellschaft