9punkt - Die Debattenrundschau

Meine zynische Antwort eines alten Orientalisten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2024. Wird es zu einem großen Krieg im Nahen Osten kommen? Im Großen und Ganzen befürchten das weder Olivier Roy (FR) noch Michael Wolffsohn (Welt) noch Gilles Kepel (FAZ) und zwar vor allem deshalb, weil die meisten arabischen Staaten den Iran nicht unterstützen würden. Der Daily Mail fragt allerdings, was Britannien tun würde, regneten 150 Drohnen, 30 Cruise Missiles und etwa 120 ballistische Missiles auf es herab. In der Welt diagnostiziert der Schriftsteller Artur Weigandt eine Art Patho-Russophilie der Serben. § 218 ist ein Unrechtsparagraf, der abgeschafft gehört, fordert die FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.04.2024 finden Sie hier

Politik

Wird Israel auf den iranischen Angriff antworten? Und wenn ja, wie? Und wird sich daraus ein Flächenbrand entwickeln, der die ganze Region, vielleicht sogar die ganze Welt an den Abgrund führt? Im Interview mit der FR schließt der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy das aus: "Der Iran ist durch seine Stellvertreter und durch die Revolutionswächter militärisch stark. Aber er wird die Armee nicht außerhalb des Irans einsetzen, weil das einen starken Protest in der Bevölkerung auslösen würde. Der Iran kann sich also selbst verteidigen, aber nicht, wenn er in einen echten Territorialkrieg im Nahen Osten verwickelt wird. Russland und China werden vielleicht etwas Unterstützung leisten, aber nicht mehr als das. Und das Wichtigste: Die arabischen Staaten werden sich nicht auf einen Krieg einlassen, weder gegen Israel noch gegen den Iran."

In der taz glaubt Klaus Hillenbrand nicht, dass Israel den Iran angreifen wird, einfach, weil es das nicht nötig habe. Und auch der Iran würde keinen Krieg führen, den er nicht gewinnen kann, schon gar nicht für die Palästinenser: "Vor allem möchte das Mullah-Regime mit seinen Satelliten von den jemenitischen Huthis über die libanesische Hisbollah bis zur palästinensisch-sunnitischen Hamas die eigene Rolle als Regionalmacht ausbauen, um damit den arabischen Raum dominieren zu können. Genau deshalb drohen die Palästinenser wieder zu Objekten herabzusinken, denen man für ihren Terror herzlich zugeneigt ist, deren Tod man aber billigend in Kauf nimmt. Zugleich führen die iranischen Ansprüche dazu, dass Staaten auf der Arabischen Halbinsel näher an Israel heranrücken, weil sie nicht von Teheran dominiert werden möchten. Insofern hat der Iran mit dem Angriff auf Israel das Gegenteil dessen bewirkt, was in seinem Interesse steht."

Im Daily Mail (ausgerechnet) sieht das Andrew Neil ähnlich. Anders als Hillenbrand glaubt er allerdings nicht, dass die Israelis den iranischen Angriff unbeantwortet lassen werden. Und warum sollten sie auch, fragt er: "Wenn so viele Zerstörungswaffen auf Großbritannien niederregnen würden, würden wir dann auf diejenigen hören, die zur Vorsicht mahnen, nachdenklich nicken und zustimmen, dass es wahrscheinlich für alle Beteiligten das Beste wäre, wenn wir einfach die Hände in den Schoß legen würden? Ich behaupte, dass jede britische Regierung, die sich darauf einlassen würde, schnell aus dem Amt gejagt würde." Doch mahnt auch er zu Vorsicht: "Wie und wann Israel darauf reagiert, ist seine Sache. Es muss nur das Gesamtbild im Auge behalten. Es kann dem Iran nicht ohne Verbündete entgegentreten."

In der Welt skizziert der Historiker Michael Wolffsohn einen "neuen Nahen Osten": Israel könne sich im aktuellen Krieg auf die informelle, amerikanisch gesteuerte Anti-Iran-Allianz verlassen, bestehend aus Saudi-Arabien, Bahrain, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Auch Länder wie Ägypten, Jordanien, Marokko, Mauretanien und der Suden haben Frieden mit Israel geschlossen: "Das bedeutet, dass die Mehrheit der arabischen Welt den Expansionsgelüsten des Iran widersteht - und nicht nur Israel allein. Hinter dem niederschmetternd kriegerischen Iran-Hamas-Israel-Krieg ist also ein neuer Naher Osten erkennbar. Abgesehen von Irans Stellvertretern im Libanon, Syrien, Irak, Jemen und Gaza besteht faktisch ein israelisch-arabischer Frieden. Es gibt aus Sicht der meisten arabischen Regierungen allerdings einen entscheidenden 'Störfaktor', nämlich das Schicksal der Palästinenser. Das entfaltet erhebliche politische und psychologische Wirksamkeit in der arabischen Welt." Wolffsohn glaubt daher: "Einen Staat 'Palästina' dürfte es mittelfristig, vielleicht sogar relativ bald geben."

"Die einzige Option für irgendeine Art von Lösung ist in erster Linie, dass Netanjahu abgelöst wird", meint der französische Arabist Gilles Kepel, der gerade das Buch "Holocaustes" veröffentlicht hat, im Interview mit der FAZ zum Nahostkonflikt. Dass sich in der arabischen Welt so viele auf die Seite der Hamas stellen, die den Terrorismus am 11. September noch verurteilt haben, beunruhigt ihn weniger als die Vorliebe westlicher Akademikerkreise für die Hamas: "Wissen Sie, ich bin alt genug, um miterlebt zu haben, wie stark die öffentliche Meinung und die großen Stimmen der sogenannten Zivilgesellschaften in dieser Region schwanken. Ich nehme das mit einer gewissen Gelassenheit zur Kenntnis. Auch weil die öffentliche Meinung in den meisten arabischen Ländern nicht frei ist." Gleichzeitig ist er "verzweifelt", dass an westlichen Universitäten "das Wissen über die Region nahezu durch Ideologie ersetzt wurde. Ich habe selbst in Sciences Po im großen Amphitheater Emile Boutny unterrichtet - damals hatte mich der IS mit dem Tod bedroht. Am Eingang standen meine Sicherheitsleute. Heute ist derselbe Ort in 'Amphitheater Gaza' umbenannt worden."

"Was sind schon Menschenrechte wert, wenn unsere Energiepreise oder die Lieferketten gefährdet sind", fragt in der SZ die Journalistin Natalie Amiri, die eine "Doppelmoral" der Politik in Deutschland und den USA gegenüber dem Iran diagnostiziert: "Der Islamischen Republik, die in Washington gebrandmarkt und sanktioniert ist, wird dennoch der illegale Ölverkauf an China erlaubt. Indem man wegsieht, lässt man zu, dass dem Regime in Teheran Milliarden in die Kassen gespült werden. Nicht in den Staatshaushalt, sondern auf die Konten der Revolutionsgarde - die mit diesem Geld wiederum ihre Ableger-Organisationen in der Region bezahlt. Islamistische Terroristen, die die Vernichtung Israels im Fokus haben. Pendeldiplomatie für alle: Auch Israel bekommt, trotz öffentlicher Aufrufe zur Mäßigung in Gaza, weiterhin Massen an Waffen geliefert. Das iranische Regime amüsiert sich vermutlich prächtig, wie sehr hier Worte und Handeln auseinanderklaffen, und freut sich über die konsequenzfreie Politik des Westens."
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Europa

In der Welt berichtet der Schriftsteller Artur Weigandt von seinem 24-stündigen Aufenthalt in Belgrad, das aus seiner Nähe zu Russland keinen Hehl macht: "Nationalismus liegt in der Luft. So stelle ich mir Russland zu Kriegszeiten vor, wahrscheinlich ist es noch schlimmer. (…) In der Innenstadt erstreckt sich ein großes Wandgemälde, wo die Farben der serbischen und der russischen Flagge ineinander verschmelzen. Dort steht: 'Für die gemeinsame Sache.' Darunter ein Schriftzug von Gazprom. Es ist, als ob sich Serbien tief vor Russland verbeugen würde. Eine Art Patho-Russophilie, eine Art krankhafte Liebe Russland gegenüber."
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Stichwörter: Serbien, Russland, Weigandt, Artur

Gesellschaft

Als die jetzige Bundesregierung antrat, versprach sie, auch den Paragrafen 218 zu ändern, der Schwangerschaftsabbrüche für grundsätzlich rechtswidrig hält, unter bestimmten Voraussetzungen jedoch straffrei stellt. Jetzt hat eine unabhängige Kommission zum Thema einen Entwurf für eine Reform vorgestellt. Im Interview mit der taz erklärt die beteiligte Strafrechtlerin Liane Wörner das Ergebnis: "Derzeit werden zu Beginn von Schwangerschaften rechtswidrige, aber straffreie Abbrüche durchgeführt. Das betrifft die meisten der in Deutschland durchgeführten Abbrüche. Rechtmäßigkeit ist die Ausnahme und bedarf der Feststellung einer Indikation, also zum Beispiel der medizinischen oder kriminologischen. Wir empfehlen: Am Anfang der Schwangerschaft grundsätzliche Rechtmäßigkeit, gegen Ende grundsätzliche Rechtswidrigkeit mit Ausnahmen. Doch auch dann müssen Regelung und Ausnahmen nicht zwingend im Strafgesetzbuch geregelt sein."

"218 ist ein Unrechtsparagraf, der nichts befriedet", kommentiert Bascha Mika in der FR: "Gibt es für Männer irgendein vergleichbares Gesetz, das dermaßen stark in ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung eingreift? Hier wird Machtpolitik über Körperpolitik - den weiblichen Körper - ausgetragen. Seit der Spätantike müssen Frauen um das Recht auf Abtreibung streiten. Die Herrschaft über Frauenkörper ist die älteste und effektivste Form weiblicher Unterdrückung. Wen wundert's, dass Papst Franziskus den Schwangerschaftsabbruch noch vor wenigen Tagen als Verstoß gegen die Gott gegebene Würde des Menschen geißelte. Dabei zeigen alle Untersuchungen: Weder hat die Kriminalisierung der Abtreibung jemals geholfen, Abbrüche zu verhindern, noch sind diese nach einer Liberalisierung gestiegen. 60 Länder haben in den vergangenen drei Jahrzehnten ihre Abtreibungsregeln zugunsten der Frauen liberalisiert."

Die Expertinnenkommission hätte in ihren Forderungen noch weitergehen müssen, meint Ronen Steinke in der SZ: "Die Pflicht, dass eine Schwangere sich einen Beratungsschein holen und drei Tage warten muss, bevor sie in den ersten zwölf Wochen abtreiben darf, wird schon lange kritisiert - die Kommission aber hält sich hier auffallend bedeckt."

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Die Philosophin Theodora Becker, die gerade das Buch "Dialektik der Hure" veröffentlicht hat, hat selbst zehn Jahre als Prostituierte gearbeitet, worauf aber weder sie noch der Verlag gerne eingehen. Ihr Buch solle für sich sprechen, erklärt sie im NZZ-Gespräch, in dem sie sich auch deutlich gegen ein Prostitutionsverbot ausspricht: "Schweden wird immer als Vorbild genannt. Dort ist die Prostitution aber nicht verschwunden. Das Verbot hat zu einer noch stärkeren Diffamierung und Diskriminierung der Frauen geführt, die trotzdem dieser Tätigkeit nachgehen. Es findet eine Remoralisierung der Gesellschaft statt. Wer für ein Prostitutionsverbot ist, will einen Aspekt der Sexualität verbannen, der einem schmutzig, unkorrekt, gewaltsam, gefährlich oder überschreitend vorkommt. Das Überschreiten von Normen ist nicht nur positiv, aber es ist ein Teil der Sexualität, der sich in der Prostitution gesellschaftlich auf sehr sichtbare Weise äußert."
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Ideen

Alan Posener veröffentlicht auf seinem Blog starke-meinungen.de einen der besten Texte zu den finsteren Diskursformationen, die sich seit dem 7. Oktober (und nicht erst seitdem) aufgebaut haben - es handelt sich um einen Vortrag, den er vor der Gesellschaft für Sicherheitspolitik e.V. gehalten hat. Die Hamas steht für ihn klar in der Kontinuität der Nazis - die Pogrome des 7. Oktober sind die "Fortsetzung des Holocausts" mit anderen Mitteln, die Postkolonialisten die nützlichen Idioten dieser neuen Nazis. Unter anderem analysiert Posener die Losung "Free Palestine from German Guilt!" als eine handgreifliche Verlängerung von Thesen à la Dirk Moses. "Nach dieser Lesart sind die Deutschen schuld an dem Elend der Araber. Der Holocaust habe erst zur Massenauswanderung der Juden aus Europa und also zur Masseneinwanderung der Juden nach Palästina geführt, wodurch erst die Juden demografisch stark genug wurden, sich gegen die Araber zu behaupten und sie sogar 1948 teilweise zu vertreiben. Palästina von deutscher Schuld befreien hieße also konsequent, Palästina von den Juden zu befreien. Die Losung unterstellt aber auch, die Deutschen würden vor lauter schlechtem Gewissen wegen des Genozids an den Juden sich nicht trauen, Israels Genozid an den Palästinensern zu kritisieren. So muss man logischerweise dieses schlechte Gewissen attackieren, damit sich Deutschland einreiht in die Phalanx der Staaten des globalen Südens, die Israel als Apartheid-Staat, als Staat weißer Siedler, als neokolonialistisches Projekt bekämpfen."

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In seinem aktuellen Buch "Epistemic Courage" denkt der amerikanische Philosoph Jonathan Ichikawa über den Einfluss von Skeptizismus auf die Politik nach. Im ZeitOnline-Gespräch erklärt er: "Ich glaube, dass die Überbetonung von Skepsis zu einem greifbaren politischen Problem beiträgt: Wir handeln zu langsam und zu konservativ, weil sich viele Menschen nicht zu einer klaren Meinung in Sachfragen durchringen können. Der Skepsis will ich den Begriff vom 'epistemischen Mut' entgegenhalten." Wie "epistemischer Mut" laut Ichikawa aussieht, erfahren wir im Buch auch: Er schreibt unter anderem, Impfstoffe hätten während der Pandemie viel früher an freiwilligen Probanden getestet werden sollen: "Natürlich ist es eine schwerwiegende Entscheidung, medizinische Versuche durchzuführen, die den Probanden schaden könnten. Aber es ist eben auch eine schwerwiegende Entscheidung, eine Pandemie einfach weiterlaufen zu lassen. Und diesen zweiten Aspekt hat man zu wenig berücksichtigt."
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