9punkt - Die Debattenrundschau

Die Möglichkeit zum Besseren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2024. Die Präsidentin des Goethe Instituts, Carola Lentz, äußert sich im FAS-Gespräch doch ein wenig unklar zu den jüngsten Streitereien im Kulturbetrieb - vor allem rät sie doch nicht immer über "einige wenige Fälle" zu reden, wo Probleme auftauchen. Ebenfalls in der FAS findet es Ronya Othmann überhaupt nicht provinziell, sich gegen Antisemitismus zu wehren. In der taz erklärt Gabriel Zuchtriegel, Leiter der archäologischen Stätte von Pompeji, warum der Begriff des "Sklaven" so wichtig ist. Und alle Feuilletons üben sich mit Blick auf Kant im Selbergedenken.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.04.2024 finden Sie hier

Kulturpolitik

Die (scheidende) Präsidentin des Goethe Instituts, Carola Lentz, 69, äußert sich im Gespräch mit Julia Encke von der FAS doch recht eirig in Fragen der Politik des Hauses beim jüngsten Streit um Antisemitismus im Kulturbetrieb und Ausladungen von Kulturakteuren, die dem Israel-Boykott anhängen. Schon im Januar hatte sie im Spiegel eine Atmosphäre des "Kulturkampfs" beklagt und sich ganz im Sinn des "Weltoffen"-Papiers gegen die IHRA-Definition des Antisemitismus ausgesprochen, die auch israelbezogenen Antisemitismus einschließt. Die Positionierung für die eine Seite bedeutet dummerweise nur immer auch eine gegen die andere. Encke fragt Lentz etwa zur Autorin Ronya Othmann, die in Pakistan nicht auftreten konnte, weil sie von einer BDS-Anhängerin, die ihre Veranstaltung moderieren sollte, als islamophob denunziert worden war (unser Resümee). Auf die Frage, ob man noch einen jüdischen deutschen Schriftsteller nach Pakistan einladen könnte, antwortet Lentz ausweichend: "Die Frage der Sicherheit kann man nicht nur aus Deutschland heraus beantworten. Sie muss vor allem vor Ort geklärt werden. Hier ist die Expertise unserer Mitarbeiter vor Ort essenziell." Und betont, dass man diese Fragen doch nicht so in den Vordergrund stellen sollte: "Wir reden jetzt über einige wenige Fälle, wo massive Probleme auftauchen. Wir reden nicht über die 14.090 anderen, wo ganz fruchtbare und wunderbare Begegnungen zustande kommen."

In der selben FAS ist Othmann ziemlich genervt von dem Wort "provinziell", das immer dann ausgepackt wird, wenn kritisiert werden soll, dass israelkritische bis antisemitische Kulturakteure in Deutschland ab und zu ein bisschen Ärger kriegen. "Als wäre der Gipfel der Weltgewandtheit genau dort zu finden, wo irgendwelche Boykottbriefe unterschrieben, israelische Wissenschaftler und Künstler ausgegrenzt werden (auch wenn sie noch so sehr die rechte Regierung Netanjahus kritisieren), wo undifferenziert mit Begriffen wie 'Apartheidsystem' und 'Genozid' hantiert, wo über den Nahen Osten gesprochen wird, als gäbe es keinen Islamismus, keine Diktaturen und keinen jahrzehntelangen iranischen Terrorexport. ... Sieht man genau hin, spricht aus dem Argument, in anderen Kontexten gelten halt andere Sitten, und aus den Provinzialität-Warnrufen auch ein Kulturrelativismus. Man macht es sich damit sehr leicht. Man wolle die Gesprächskanäle offen halten." Gerade hier erkennt Othmann die Selbstprovinzialisierung: "Das Gegenkonzept dazu wäre der offene Streit."
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Stichwörter: Goethe Institut

Europa

Der Gaza-Krieg hat den Ukrainekrieg in den Hintergrund rücken lassen. Und gerade darum kündigt sich jetzt die Katastrophe an, die vor allem mit der seltsamen Taubheit Europas gegenüber der Ukraine zu tun hat, fürchet Stefan Koernelius im Leitartikel der SZ. "Diese Nachlässigkeit hat einen tiefen Grund: Den Europäern fehlt das Bewusstsein, welch historische Zäsur eine Niederlage der Ukraine auslösen würde. Der mangelnden Bereitschaft zur Hilfe geht also eine mangelhafte Analyse der eigenen Betroffenheit voraus. Hier handelt es sich nicht um einen Krieg Russlands gegen die Ukraine, der die Europäer zu Teilzeithelfern wider Willen machte. Dieser Krieg gilt Europa."
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Stichwörter: Ukraine

Ideen

Die FAZ bringt zum dreihundertsten Geburtstag Immanuel Kants ein paar Miniaturen ihrer Redakteure zu verschiedenen Aspekten seines Oeuvres. Jürgen Kaube kommt im Editorial auf Kants Empfehlung zurück, selber zu denken. "Hegel hat sich daran mit der Bemerkung gestört, der selbstdenkerisch auf eigene Rechnung gemachte Irrtum sei nicht besser als der von Autoritäten angenommene. Kant sieht das anders. Man hole sich beim Versuch, selbst zu gehen, gewiss oft blaue Flecken, am Ende aber gelinge es doch. Wer sich aber von vornherein fremder Krücken bediene, so darf man ihn verstehen, bleibe stets auf sie angewiesen."

Gustav Seibt ergründet in der SZ Kants Position zur Französischen Revolution. Kant wollte sich seinen "Enthusiasm" trotz allem nicht nehmen lassen, für ihn verkörperte die Revolution die "moralische Anlage des Menschengeschlechts", so Seibt. Kann man daran nach dem finsteren 20. Jahrhundert festhalten? "Kants Position ist mit bloßer Empirie nicht zu widerlegen, dafür ist sie zu umsichtig und vorsichtig ausgestaltet. Man kann sie als Appell der Vernunft verstehen, an die Pflicht, sich die Möglichkeit zum Besseren nicht nehmen zu lassen. Das Entsetzen, das die Verbrechen des 20. Jahrhunderts (und andere in Vergangenheit und Gegenwart) auslösen, ist der düstere Bruder von Kants 'Enthusiasm'. Oder um es in einem Vers des Kant sehr bewundernden Goethe zu sagen: 'Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.'"

Außerdem unterhält sich in der SZ Jens-Christian Rabe mit dem Kant-Experten Marcus Willaschek. In der taz gedenkt Tim Caspar Boehme. In der NZZ schreibt Otfried Höffe. Zeit online meldet, dass Philosoph Daniel Dennett im Alter von 82 Jahren gestorben ist.
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Stichwörter: Kant, Immanuel

Gesellschaft

Die Sozialforscherinnen Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky führen eine Studie zu den "Auswirkungen des 7. Oktober auf die jüdische und israelische Community" durch. Vielen sei "Indifferenz bis hin zur Billigung der Gewalt" entgegengekommen, sagt Chernivsky im Gespräch mit Frederik Eikmanns in der taz: "Ihnen begegnet emotionale Kälte, wenn es darum geht, die Wirkung des Terrors und die eindringliche Präsenz der Bedrohung anzuerkennen. Interviewpartner*innen nehmen auch den scharfen Kontrast zur erlebten Solidarität mit der Ukraine wahr. Einige haben Familien, die gleichzeitig von zwei Kriegen in der Ukraine und in Israel betroffenen sind. Manche beschäftigt die Verleugnung sexualisierter Gewalt im Zuge des Angriffs und der Geiselnahmen."
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Stichwörter: 7. Oktober, Ukraine

Geschichte

Der Postkolonialismus kommt  auch in der Archäologie und Altertumswissenschaft an, erzählt Gabriel Zuchtriegel, Leiter der archäologischen Stätte von Pompeji, im Gespräch mit Sabine Seifert von der taz, aber teilweise unter falschen Prämissen. In diesem Kontext erklärt Zuchtriegel auch, warum er trotz der Unterschiede zur modernen Sklaverei auch für die Antike am Begriff des "Sklaven" festhalt, nämlich um umzudenken: da waren nämlich "eigentlich wir die Sklaven. ... Die Sklaven der Römer kamen aus dem heutigen Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Es wäre eine Gelegenheit, die eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen. Dieser rassistische Komplex zwischen Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus, der in der Moderne so prägend ist und der es problematisch macht, das Wort Sklave zu verwenden, könnte dadurch unterwandert werden, dass wir für die Antike an dem Begriff festhalten. Wenn wir uns klarmachen: Die berühmten Wurzeln der abendländischen Kultur waren auch das. Wir waren Sklavenbesitzer, aber auch Sklaven, und unsere Kultur kommt aus einer Gesellschaft, die bis zu einem Drittel der Bevölkerung aus Sklaven bestand."

Der Ukrainekrieg ist für den Westen auch eine Geschichtslektion. Unter anderem lernte er, dass es auch einen Imperialismus ohne Eroberung weit entlegener Regionen gibt: Russlands Imperialismus ist ein Expansionismus. Und Völker, die sich der Subsumierung nicht einfach fügten, wurden von den Zaren und dann von Lenin und Stalin auch mit Gewalt gleichgeschaltet. Alim Alijev, Generaldirektor des Ukrainischen Instituts in Kiew und aus einer krimtatarischen Familie stammend, erzählt in "Bilder und Zeiten", der virtuellen Printbeilage der FAZ: "Die Deportation begann am 18. Mai 1944 am frühen Morgen. NKWD-Soldaten klopften an die Tür eines jeden krimtatarischen Hauses und gewährten nur fünfzehn Minuten Zeit zum Aufbruch. Die Aktion dauerte drei Tage, während derer die gesamte Bevölkerung in Viehwaggons verladen und fast drei Wochen lang über zweitausend Kilometer hinweg transportiert wurde, hauptsächlich nach Usbekistan, aber auch nach Kasachstan oder in den Ural. Die Folgen der Deportation waren schrecklich: Sechsundvierzig Prozent der Verschleppten starben in den nächsten Monaten."

Außerdem: In der NZZ erzählen Nikolai Klimeniouk und die Holocaust-Historikerin Ksenia Krimer die Geschichte jüdischen Widerstandsgeistes, vom "Muskeljudentum" des Max Nordau über jüdische Studenten, die sich gegen Antisemiten duellierten, bis zum heutigen Staat Israel.
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