9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser Balanceakt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2014. In der SZ erklärt Ulrich Beck, wie man Israel richtig kritisiert. Im Tagesspiegel wütet Harald Martenstein gegen Dieter Graumann, der in seiner Deutschlandkritik jedes Maß verliere, und darum ist in Israel auch kein Friede. Amazon ruft die Leser auf, gegen Hachette zu protestieren, während 900 Autoren in der New York Times einen Aufruf gegen Amazon publizieren. In Russland stirbt man noch als Untertan, schreibt Boris Schumatzky in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.08.2014 finden Sie hier

Geschichte


Gilmar Mattos" Bild vom Ypern-Memorial ist unter CC-Lizenz bei Flickr veröffentlicht.

Die Autorin Alena Wagnerová ist zu den Kriegsfeldern Flanderns gereist, nach Ypern, wo eine der gewaltigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs geschlagen wurde: "Winston Churchill, der damalige englische Kriegsminister, wollte Ypern als Denkmal des größten Blutvergießens in der Geschichte des Commonwealth im Zustand der Zerstörung belassen. Seine Bewohner haben aber anders entschieden: Ohne jemanden zu fragen, kehrten sie in die Ruinen zurück und begannen den Ort mit der Unterstützung des Architekten Jukes Coomans in seiner alten Form wiederaufzubauen. Innerhalb von zehn Jahren gelang ihnen das Kunststück. Es war ihre Antwort auf die Vernichtung ihrer Heimat."
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Internet

Voilà, 900 Autoren haben die Anzeige gegen Amazon und pro Hachette, die schon von sich reden machte (unsere Links, auch zum Text der Anzeige), in der New York Times veröffentlicht. Kostenpunkt laut Times: 100.000 Dollar. Alison Flood schreibt im Guardian: "Beide Seiten haben ihren Ton nach und nach verschärft. Hachette sagt, es wäre selbstmörderisch, die Vorschläge von Amazon zu akeptieren. Und Amazon, dass Hachette aufhören solle, "seine Leser als menschlichen Schutzschild zu benutzen"." Inzwischen hat das Amazon Books Team eine readersunited-Seite ins Netz gestellt, in der es seine Leser auffordert E-Mails unter anderem folgenden Inhalts an Hachette zu schicken: "Wir haben Ihre illegalen Absprachen zur Kenntnnis genommen. Arbeiten Sie nicht so hart an zu hohen Preisen für Ebooks. Sie können und sollten preiswerter sein." Mehr auch bei Mashable und Engagdet (hier und hier).

Nicht zur Beruhigung, eher zur Untermauerung der nackten Panik empfiehlt der Kleinverleger Jörg Sundermeier in der taz zwei Bücher über Amazon und die "Bücherdämmerung": "Katja Spichal etwa schreibt, dass in Deutschland seit einiger Zeit jährlich rund 80.000 Erstauflagen von Büchern veröffentlicht werden. Das entspreche, so Spichal, einer Datenmenge von rund 40 Gigabyte. Diese immense Datenmenge wird in Deutschland im Netz jedoch "an jedem Tag in weniger als 3 Minuten produziert"."

Joachim Huber kommentiert dazu im Tagesspiegel: "Amazon ist nicht amoralisch, Amazon ist Händler, es geht um 9,99 Dollar für Literatur und nicht um Literatur für 9,99 Dollar."

Netzpolitik wird zehn! Perlentaucher gratuliert. Und Netzpolitik sich selbst auch: "Wir haben schon über die Totalüberwachung durch Geheimdienste berichtet, als Edward Snowden noch nicht für die NSA gearbeitet hat. Und wir werden weiter darüber berichten, wenn andere Medien das Interesse verloren haben."
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Politik

Der Antisemitismus hat in Europa eine "neue Entflammbarkeit" gewonnen, stellt der Soziologe Ulrich Beck in der SZ fest und wünscht sich von Europas Intellektuellen eine Form der Israelkritik, die zwischen Juden und Israelis zu unterscheiden versteht: "Engagement und Einmischung sind eine Tradition der europäischen Intelligenzija. Warum dann dieses Schweigen der Intellektuellen über Nahost? Dieses Schweigen resultiert wiederum aus der Unfähigkeit zu unterscheiden, dieses Mal zwischen einer Israelkritik und einem klaren Engagement gegen Antisemitismus und für die europäischen Werte, die auch viele Bürger jüdischen Glaubens als ihre Werte verteidigen. Dieser Balanceakt, im Milieu des wiedererstarkten Antisemitismus dreierlei Kritik zu üben: an dem Fanatismus der Hamas, an Israels Monomilitarismus und an der Unfähigkeit zu unterscheiden, die den Antisemitismus in Europa neu entfacht, wirkt möglicherweise überheblich, kostet Mut, erzeugt Missverständnisse auf allen Seiten."

Probe aufs Exempel: Harald Martenstein ärgert sich im Tagesspiegel sehr über Dieter Graumanns Äußerung im Guardian, für Juden sei es gerade "die schlimmste Zeit seit der Nazi-Ära": "Jeder, der ein paar Jahre in Deutschland gelebt hat, weiß, wie absurd dieser Satz ist. Er ist eine Ohrfeige für die vielen, die jahrzehntelang und nicht ohne Erfolg daran gearbeitet haben, dieses Land zu verändern. Der Satz ist maßlos. Im Zorn jedes Gespür für das rechte Maß zu verlieren - dieses Problem gibt es auch in Israel und in Palästina, und deshalb wird dort alles immer schlimmer."

Außerdem erinnert der Zeithistoriker Josef Foschepoth in der SZ daran, dass für die Mitarbeiter des amerikanischen Militärs in Deutschland amerikanisches Recht gilt, nicht deutsches, was eventuell auch Edward Snowden zu spüren bekommen könnte, wenn er hierhier käme.
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Ideen

Der Soziologe Armin Nassehi fragt in einem Essay in der SZ, woher die Gleichgestimmtheit des Antisemitismus bei extremen Linken, extremen Rechten und Islamisten rührt: "Es sind keine offenen Koalitionen. Diese sind kaum gewollt. Es sind eher Projektionen, mit denen da koaliert wird. Es ist die Koalition mit einer arabischen Welt, die vollends gescheitert ist und die an sich selbst merkt, dass sie die zivilisatorischen Standards einer westlichen Demokratie nicht erreichen kann."
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Europa

Sehr beeindruckend schreibt Boris Schumatsky in der FAZ über den Tod seines Vaters in Moskau und informiert uns nebenbei, dass Sterbende in Russland gegen die Schmerzen so gut wie kein Morphin erhalten, weil dieser Stoff als Droge tabuisiert wird: "Die Ärzte haben Angst vor der Drogenpolizei. Einige machen sich auch die althergebrachte Einstellung des russischen Staates zu eigen, wonach der Untertan leiden muss. In der Sowjetunion waren Abtreibungen oder Zahnbehandlungen ohne Betäubung die Norm. Um der staatlich verordneten Tortur zu entgehen, besorgen sich einige heute Heroin bei echten Drogendealern, oder sie fliehen in den Freitod."

Außerdem: EX-Verfassungsrichter Dieter Grimm, laut FAZ "einer der angesehensten Juristen der Welt", erzählt, wie er die EU reorganisieren würde.
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