9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne Desinformationsgifte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2015. Der Altorientalist Markus Hilgert prangert die Zerstörung von Kulturgütern durch die IS-Milizen im Irak in der NZZ als eine "Form des Genozids" an. Der Medienjournalist Lutz Meier fordert bei stern.de ein Gütesiegel für Journalismus. Heinz Bude kritisiert in der taz die deutsche Öffentlichkeit, die den dramatischen Wandel im Land seit zwanzig Jahren nicht thematisiere. In der Welt erinnert Dan Diner an ein frostiges Treffen vor fünfzig Jahren, das die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel in Gang brachte. Außerdem: ein Hintergrundvideo über Kevin Spaceys gefälschten Südstaatenakzent in "House of Cards".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.02.2015 finden Sie hier

Politik

Der Altorientalist Markus Hilgert erklärt im Gespräch mit Daniel Steinvorth von der NZZ, was die IS-Milizen zerstören, wenn sie Kulturgüter zerstören: "Wer die Kulturgüter eines Landes vernichtet, zerstört die kulturelle Identität eines Landes, das ist letztlich eine Form des Genozids. Der Begriff ist nicht rechtssicher, man kann damit nicht vor Gericht ziehen, doch empfinden es die Länder ja selbst so. Für den Irak sind es nicht nur Museumsstücke, es sind Zeugnisse einer gemeinsamen Vergangenheit. Dabei geht es nicht nur um das irakische, es geht um das universale Menschheitserbe." In der SZ schreiben Sonja Zekri und Thomas Avenarius zum Thema.

Der Rhetorikforscher Karl-Heinz Göttert erklärt im Gespräch mit der Welt (Interviewer unbekannt) anhand der Einführung von Lautsprechern in den Zwanzigern den Unterschied zwischen demokratischer und extremistischer Rhetorik. Die Nazis "haben so weitergebrüllt wie zuvor. In Amerika wurde Mitte der Zwanzigerjahre der Lautsprecher ebenfalls eingeführt. Da ist man dann sofort dazu übergegangen, die Stimme zu schonen. Die Nazis haben die Technik benutzt, um mit ihr zusätzlich zu manipulieren."

Es ist sicher ganz richtig, die "Festung Europa" anzuprangern, aber die Hauptschuldigen an der massenhaften Flucht der Jungen und Talentierten aus Afrika sind die afrikanischen Regierungen, meint David Signer in NZZ. Alles bremse sie in der Heimat: "Die Schulen und Universitäten sind marod, der öffentliche Verkehr, die ärztliche Versorgung, die Verwaltung sind ein Desaster, Arbeitsplätze kriegt man nur durch Beziehungen oder Schmiergeld, verdient man endlich etwas, muss man es verteilen, auch Heiraten kann man nur mit Geld, und überall herrschen Traditionalismus, Konformismus, Sexismus, Autoritarismus, Aberglauben... Aber die meisten Regierungen kümmert das kaum. Das ist der eigentliche Skandal am Flüchtlingsdrama vor Lampedusa." Alex Rühle macht in diesem Zusammenhang in der SZ darauf aufmerksam, dass "Schleuser", die Flüchtlinge nach Europa holen, keineswegs immer kriminelle Motive haben müssen.

(Via dailydot.com) Und hier, aus Anlass von Staffel 3, einige wichtige Details über Kevin Spaceys populistisch gefälschten Südstaatenakzent in "House of Cards":

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Medien

(Via turi2) Der Medienjournalist Kai-Hinrich Renner ging für seine Handelsblatt-Kolumne Gerüchten nach, der Springer Verlag habe Selbstanzeige wegen der Beschäftigung von "Scheinselbständigen" erstattet und erhielt vom Verlag eine Erklärung, die er nur in voller Länge zitieren darf - wir ersparen uns das Vergnügen, lesen Sie hier.

Angesichts immer krasserer Verwischung des Unterschiedes zwischen Redaktion und Werbung in vielen darbenden Medien schlägt der Medienkolumnist (und Perlentaucher-Autor) Lutz Meier in seiner stern.de-Kolumne vor: "Womöglich könnte am Ende sogar eine Art Siegel helfen. So wie Lebensmittelkonsumenten bereit sind, für sauber erzeugte Nahrung mehr Geld auszugeben, wenn auf ihr ein Biosiegel klebt, so muss man vielleicht auch saubere Information inzwischen extra ausflaggen und zertifizieren. Artgerecht aufgezogener Journalismus. Ohne Desinformationsgifte."
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Gesellschaft

Die "Verlierer" der ehemaligen Pegida-Bewegung muss man vor dem Hintergrund des dramatischen Wandels in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren sehen, betont Soziologe Heinz Bude im Gespäch mit Jan Feddersen in der taz: "Viel zu wenig ist der deutschen Öffentlichkeit und auch der intellektuellen Klasse deutlich geworden, dass unsere Gesellschaft ökonomisch und politisch Europa dominiert. Vor zwei Jahrzehnten galt Deutschland als der kranke Mann Europas. In der Zwischenzeit hat Dramatisches stattgefunden, ich würde gar von einer stillen Revolution reden."
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Stichwörter: Bude, Heinz, Pegida

Geschichte

Dan Diner erinnert in der Welt an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel vor fünfzig Jahren: "Zwiespältig war das Unternehmen von Anfang an gewesen. Seinen zeremoniellen Ausdruck fand diese Ambivalenz im abends zuvor von den Delegationsführern der vertragsschließenden Parteien erzielten Einvernehmen, während und unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung weder Reden zu halten noch Vertraulichkeiten auszutauschen. Nach außen hin sollte, trotz der zuvor diplomatisch erzielten Übereinkunft in der Sache, bleibender Dissens demonstriert werden. Einen das Vertragswerk besiegelnden Händedruck galt es zu vermeiden." (Der Text ist ein Vorabdruck aus einem neuen Buch Diners zum Thema.)

In Moskau erinnern kleine Metalltäfelchen an einst in den Gulag Deportierte - eine Aktion, die von den "Stolpersteinen" in Deutschland inspiriert ist, schreibt Elena Chizhova in der NZZ. Allerdings: "Es ist eine kleine Minderheit, die für die einzelnen Menschen, die zum Opfer des Staates wurden, Partei ergreift. Die im "sowjetischen Reagenzglas" erschaffene Mehrheit hingegen ist überzeugt: Die Millionen Opfer, die die Straforgane an ihrer "letzten Adresse" abgeholt haben, schmälern nicht allzu sehr die Errungenschaften des stalinistischen Regimes, dessen Höhepunkt der Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" war." Unterdessen bringt Spiegel Online die Meldung, dass der Oppositionspolitiker Boris Nemzow von gedungenen Mördern auf offener Straße erschossen wurde (hier ein Nachruf bei Radio Free Europe, mehr in der Welt).

Weiteres: Jürgen Gottschlich erinnert in der taz an deutsche Mitverantwortung für den Genozid an den Armeniern. Ebenfalls für die taz porträtiert Lennart Labrenz Alwin Meyer, Autor des Buchs "Vergiss Deinen Namen nicht - Die Kinder in Auschwitz".
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