9punkt - Die Debattenrundschau

Brooklyn dehnt sich nicht aus!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2015. Mit Entsetzen aber auch offen eingestandener Ratlosigkeit blicken amerikanische Medien auf das Massaker von Charleston und den nicht endenden Rassismus des Landes. Auch die Debatte um Rachel Dolezal geht weiter: Wer nicht kapiert, dass Jenner selbstbestimmt handelt, während Dolezal lügt, stellt sich aus Ranküne dumm, meint die FAZ. Tabletmag sieht's anders. Die Welt übersetzt Jonathan Franzens Artikel zum Klimawandel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.06.2015 finden Sie hier

Politik

"Ihr vergewaltigt unsere Frauen und übernehmt unser Land", soll der 21-jährige Dylann Roof gerufen haben, bevor er in einer Kirche in Charleston neun Menschen niedermetzelte. Für David Remnik, Chefredakteur des New Yorker, sind diese Worte nicht einfach nur eine Erinnerung an die grausamen Tage der Sklaverei und Lynchjustiz. Im Gegenteil: Sie sind "durch und durch zeitgenössisch", schreibt er. "Man erkennt die Rhetorik der extremen Rechten und des Rassismus wieder, die man in der Ära Barack Obamas so oft gehört hat. Die Sprache [des Attentäters] ist ein Widerhall der kaum verhüllten Beleidigungen, die Obama während seiner Wahlkampagnen 2008 und 2012 entgegengeschleudert wurden ("Wir wollen unser Land zurück!") und der Schlammlawine, die Obamas Twitterfeed (@POTUS) überflutete, den er letzte Woche fröhlich eingerichtet hatte. "Wir hängen immer noch für Hochverrat auf, stimmts?" schrieb ein @jeffgully49, der außerdem ein Bild des Präsidenten in einer Schlinge postete."

Wird Charleston Amerika verändern?, fragt William Saletan bei Slate, um die Frage sogleich resignierend zu verneinen. Verschiedene Amokläufe "haben den Kongress nicht überzeugt, Waffenverkäufe stärker zu kontrollieren. Und die lange Geschichte von Verbrechen gegen schwarze Kirchen hat bei den Weißen nie große Besorgnis ausgelöst. Selbst die schlimmste Attacke auf eine schwarze Gemeinde - die Bombe gegen die 16th Street Baptist Church in Birmingham, Alabama 1963 - hatte keinen messbaren Effekt auf die weiße Öffentlichkeit."

Ebenfalls in Slate nennt Fred Kaplan das Massaker in Charleston zwar einen Akt des Terrorismus, um aber gleichzeitig zu konstatieren, dass Terrorismus in Amerika trotz aller Hate Crimes eine Seltenheit sei.
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Gesellschaft

Eine Gender-Identität darf man sich neu zulegen, eine "rassische" Identität aber nicht? Wer so fragt, stellt sich laut FAZ-Redakteur Dietmar Dath (der in einem Artikel über Charleston eine Nebenbemerkung zum Casus Rachel Dolezal macht) "aus Ranküne dumm": Denn "wer einmal erkannt hat, dass das Material, aus dem gesellschaftliche Verhältnisse gemacht sind, eben nicht vorwiegend genetisch ist, sondern im menschlichen Handeln geformt wird, mag Leute wie Jenner, die selbstbestimmt gegen eine Zuschreibung ihr Leben ändern, eben grundsätzlich lieber als Leute, die andere täuschen und Verwirrung stiften wie Dolezal - da wohnt kein Widerspruch." Ach so, was bei dem Mann Selbstbestimmung ist, ist bei der Frau Täuschung und Lüge? Danke für die Klärung eines Nebenwiderspruchs!

Avraham Osipov-Gipsh erzählt im Tabletmag, wie er als russischer Jude, dessen Familie alle Verbindungslinien zum traditionellen Judentum verloren hatte, sein Jüdischsein gewissermaßen neu lernen musste. "Als ich in Amsterdam einen Rabbi traf, sagte mir jemand aus seiner Gemeinde, dass ich nicht weiß, was es heißt, jüdisch zu sein, dass ich in einer Zeit geringen Antisemitismus geboren sei, nicht "genug" davon mitbekommen hätte. Das gleiche wird über Rachel Dolezal gesagt, dass sie kein schwarzes Mädchen war, bevor sie eine schwarze Frau wurde und dass sie nicht ein schwarzes Leben lebte, sondern nur vorführte. Ich stecke nicht in Dolezals Kopf. Aber ihre Absichten spielen keine Rolle: Niemandem gehört Schwarzheit exklusiv, und niemand kann Rachel Dolezal sagen, wer sie ist oder sie auffordern zu entscheiden, wer sie ist. Nicht nur sie "spielte" schwarz, auch alle anderen um sie herum "spielten" sie als schwarz."

Die Welt hat Jonathan Franzens Essay zum Klimawandel aus dem New Yorker übernommen. Franzen setzt sich darin mit dem Buch "Reason in a Dark Time. Warum der Kampf gegen den Klimawandel gescheitert ist - und was das für unsere Zukunft bedeutet" des Philosophen Dale Jamieson auseinander. Verzweifeln gilt nicht, meint Franzen, aber zum Puritaner muss man deshalb auch nicht werden, das lehrt schon Woody Allen: "In "Der Stadtneurotiker" hört der junge Alvy Singer auf, seine Hausaufgaben zu machen, weshalb ihn seine Mutter zu einem Psychiater schickt. Es stellt sich heraus, dass Alvy gelesen hat, dass sich das Universum ausdehnt, sodass es eines Tages gewiss auseinanderbrechen wird, und für ihn war das ein Grund, keine Hausaufgaben mehr zu machen: "Was hat das noch für einen Sinn?" Im Schatten gewaltiger globaler Probleme und gewaltiger globaler Mittel können kleinere Aktionen zum Schutz der Natur bedeutungslos erscheinen. Aber Alvys Mutter will davon nichts hören. "Du bist hier in Brooklyn!", sagt sie. "Brooklyn dehnt sich nicht aus!""
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Überwachung

Kevin Gosztola meldet in dem Blog firedoglake.com, dass "Google den Journalisten und Techniker Jacob Appelbaum, der mit Wikileaks zusammengearbeitet hat, über die Übermittlung von Daten seines Kontos informiert hat. Die Mitteilung besagt, dass die "Grand Jury" die Daten wollte, weil sie sich Informationen über die Veröffentlichung von Telegrammen des amerikanischen Außenministeriums durch Wikileaks erhofft." Das Dokument, das Google Appelbaum gesandt hat, umfasst immerhin 306 Seiten. Bei Boingboing sind Appelbaums wütende Tweets, die er während der Lektüre dieses Dokuments abgesetzt hat, protokolliert.
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Stichwörter: Appelbaum, Jacob, Wikileaks

Religion

Aiman Mazyek fordert mit seinem "Zentralrat der Muslime" einen ähnlichen Status in Deutschland wie die Kirchen und trifft damit einen Nerv, meint Timo Stein bei Cicero. "Mazyeks Forderung folgt einer Logik, wie sie hierzulande seit Jahrzehnten praktiziert wird. Kirchen und Religionsgemeinschaften suchen staatliche Nähe und Alimentierung. Ist es nicht vielleicht einmal an der Zeit, diese Logik zu durchbrechen? Statt den Religionen und ihren Institutionen immer mehr öffentlichen und politischen Raum zur Verfügung zu stellen, einmal an das Trennungsgebot von Kirche und Staat zu erinnern?"
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Medien

Georg Diez verteidigt in seiner Spiegel-Online-Kolumne die Idee des Zentrums für Politische Schönheit, die Leichen von Flüchtlingen in Berlin zu beerdigen gegen einnen Artikel Sonja Zekris in der SZ, die diese Aktion "pornografisch" findet, womit sie für Diez gerade die Kaltherzigkeit des Journalismus unter Beweis stellt: "Der Stunt, den diese Aktion bedeutet, die Radikalität, auch gedanklich, der Mut, der Schock, all das findet nicht statt in diesem tiefgefrorenen Milieu: Sie sind gern bereit, über Europas Werte und Ideale zu debattieren, wenn es darum geht, die ganze griechische Nation zu erziehen - aber wenn es um Tote und die humanitäre Realität Europas geht, finden sie das pornografisch."
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