9punkt - Die Debattenrundschau

Die angenommene originäre Gefährlichkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2015. Es hat keinen Sinn in Begriffen herumzustochern, meint Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen, es ist Krieg. Der Hass auf Paris hat durchaus Geschichte, auch in Deutschland, erinnert Thomas von der Osten-Sacken in der Jungle World. Warum Molenbeek?, fragt der belgische Autor Stefan Hertmans in der SZ. Im Perlentaucher antwortet Katharina Hacker auf Necla Kelek. Iris Radisch wundert sich in der Zeit über die "gespenstisch ungerührten" Reaktionen in den deutschen Feuilletons. Charlie Winter und Peter Pomerantsev fragen in Politico.eu, was der ISIS-Propaganda entgegenzusetzen wäre.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.11.2015 finden Sie hier

Europa

Warum Molenbeek? Was ist schief gelaufen in diesem Brüsseler Viertel, in dem die Pariser Attentäter Unterschlupf fanden? Der belgische Autor Stefan Hertmans macht dafür zwei Gründe aus: Zum einen den Einfluss des saudischen Regimes, das "den Salafismus in unseren Problemvierteln mit Petrodollars sponsort". Und zum anderen die Naivität belgischer Integrationspolitiker: "Das französischsprachige Belgien und zumal Brüssel sind fast integraler Teil der frankophonen Welt, haben aber nicht die gleiche postkoloniale kulturelle Verbindung zur arabischen Welt wie Frankreich. Mit anderen Worten: Die Belgier waren naiv, sie waren nicht darauf vorbereitet, dass sich die sozialen Probleme der Banlieues, ein Erbe, das bis zum Algerienkrieg zurückreicht, in das französischsprachige Belgien exportieren würden, wo ehemalige Syrienkämpfer aus Frankreich leichter vom Radar der Polizei verschwinden können."

Der Hass auf Paris hat durchaus Geschichte, erinnert Thomas von der Osten-Sacken in der Jungle World: "Der Abscheu, den das Paris der Französischen Revolution, der civilisation, der freien Liebe und des savoir vivre hervorruft, ist auch in Europa nur zu wohlbekannt. Schon in all der antiwelschen Propaganda deutschvölkischer Provenienz im 19. Jahrhundert gegen die leichtlebige Marianne drückte sich ein ganz ähnliches antiemanzipatorisches und antimodernes Ressentiment aus."

Wenigstens einer der Kolleginnen fällt die Kälte des in deutschen Feuilletons bisher betriebenen Pazifismus auf, Iris Radisch in der Zeit: "Während man sich in Frankreich solcherart enragiert, bleiben die deutschen Stimmen gemäßigt, wenn nicht gespenstisch ungerührt. Nach dem ersten Schock besinnt man sich darauf, dass die westliche Lebensart am wirksamsten zu verteidigen sei, indem man sie stoisch weiter praktiziere... Und übt sich im Übrigen in staatsbürgerlichem Pragmatismus, indem man den Kampf gegen die islamistischen Terrorkommandos zu einer Angelegenheit polizeilicher Ordnungskräfte heruntermoderiert ('es geht eigentlich um Verbrechensbekämpfung', Gustav Seibt in der SZ)... In der deutschen Hauptstadt vertraut man noch auf das geregelte Glück einer Normalität, die einem im verwundeten Paris gerade um die Ohren fliegt."

Katharina Hacker wendet sich im Perlentaucher gegen Necla Keleks in der NZZ geäußerte Vorstellung von einer Säkularisierung im Islam und stimmt Gustav Seibt zu, der in der SZ dazu rät, nicht für "Aufklärung" als "Wert" zu kämpfen, da dies nur zu Streit führe: "Was die angenommene originäre Gefährlichkeit des Islams angeht, kann ich keine Position beziehen und will es nicht. Die Mehrheit der Menschen, die sich als Muslime bezeichnen, sind indes Menschen, die in Frieden leben wollen, wage ich zu behaupten, nicht nur an wechselseitigem Respekt ein Interesse haben, vielleicht in westlichen Ländern ein besonderes daran, dass sie einmal respektiert werden, sondern auch an Barmherzigkeit."

Es hat doch keinen Sinn sich um Vokabeln herumzudrücken oder erstmal nach Ursachenforschung zu rufen, meint Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen. Es gibt nur einen Grund für den Terrorismus: den Terroristen selbst. "Er ist es, der die Bombe zündet, mit Maschinenpistolen auf wehrlose Menschen schießt oder ahnungslose Passanten niedersticht. Ihn gilt es an allererster Stelle an seinem mörderischen Tun zu hindern, ob defensiv durch Ausbau der Sicherheitsvorkehrungen oder offensiv durch militärische Ausschaltung. Das nennt sich Krieg."

Auch Michel Houellbecq äußert sich - leider ziemlich wirr - zu den Attentaten. Die New York Times publiziert den Text, in dem der Autor vor allem französische Politiker angreift, auf französisch und auf englisch.

Etwas deplatziert wirkt heute in der FAZ ein weiterer Beitrag zu der schon fast vergessenen, von Lukas Bärfuss angestoßenen Schweiz-Debatte (unsere Resümees). Heute äußert sich (pro Schweiz) Michael A. Gotthelf, "Gründer und Vorsitzender der Frank-Schirrmacher-Stiftung in Zürich und der Ludwig-Börne-Stiftung in seinem Geburtsort Frankfurt am Main".
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Medien

Yassin Musharbash versucht in einer bei zeit.de publizierten Rede Kriterien für eine Berichterstattung über Terrorismus zu entwickeln: "Unsere Aufgabe besteht nicht darin, Terroristen zur Strecke zu bringen, aus dem Verkehr zu ziehen oder mundtot zu machen. Auf die Spitze getrieben bedeutet das, dass es uns sogar egal sein muss, ob der 'Islamische Staat' sich heimlich darüber freut, dass wir etwas Bestimmtes berichten - solange der analytische Nutzen für unser Publikum klar überwiegt, ist das Rechtfertigung genug."
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Stichwörter: Islamischer Staat

Gesellschaft

In der NZZ beschreibt Daniela Tan den neuen Trend zum Minimalismus in Japan, der mit Konsumverzicht einhergeht: "Der Nutzen des Vorhandenen tritt zurück hinter den Reiz des Nichtvorhandenen - und wo nichts ist, erfüllt das Versprechen nach Leere mit seinem Leuchten den Raum wie der Glanz eines Schatzes eine verborgene Schatzkiste."
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Internet

Charlie Winter und Peter Pomerantsev denken in Politico.eu darüber nach, wie eine effektive Gegenpropaganda zu den perfiden Botschaften von Daech funktionieren könnte und meinen, dass ausschließlich von Bürgern ausgehende Netz-Initiativen wie "Not in My Name" eine Chance hätten. Regierung und Organisationen wie die UN könnten helfen, indem sie diese Initativen einfach laufen lassen und "unterstützen, indem sie soziologische und Datenanalyen der ISIS-Propaganda-Trends erstellen, Training für Aktivisten organisieren und regelmäßige Treffen zwischen Aktivisten, Journalisten und Bloggern in gefährdeten Gebieten arrangieren, die helfen, Netzwerke des Vertrauens zwischen Leuten in Beirut und London, Tunesien und Paris aufzubauen, sodass eine Internationale der Akvitisten entsteht."

Mit seinen Reserven könnte Apple Griechenland zweimal kaufen. Wie wäre es also, wenn man Apple, Google oder Facebook als Staaten denkt?, fragt sich Peter Glaser in einem kleinen Selbstgespräch in der Berliner Zeitung: "Wie wäre es damit: Griechenland kann seine Schuldenlast deutlich verringern und Apple darf dafür mit Steuervergünstigungen rechnen, so wie das bisher in Irland der Fall war. Das Europa-Hauptquartier von Apple wird nach Athen verlegt und durch die niedrigen Löhne eine boomende IT-Industrie in Gang gesetzt."
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Kulturpolitik

Nach Dirk Schümer plädiert jetzt auch Hermann Parzinger in der Welt dafür, Flüchtlinge in die Museen zu schicken und macht Angebote: "Wirklich interessant wird es dann, wenn Flüchtlinge und Zuwanderer nicht nur zu Besuchern, sondern auch zu Multiplikatoren werden. Das Museum für Islamische Kunst hat dabei ein Rezept gegen die vermutete Schwellenangst gefunden: Geflüchtete aus dem Irak und Syrien sollen in den nächsten Monaten das Angebot erhalten, als freiwillige Guides durch das eigene Kulturerbe - das ja auch ein gemeinsames ist - zu führen. Sie werden ihren Landsleuten dann auf Arabisch erklären, was diese Objekte ihnen und uns bedeuten. ... Die Flüchtlinge erfahren Stärke durch Bildung und Anerkennung ihrer kulturellen Identität, die uns viel bedeutet."

Ebenfalls in der Welt verabschiedet Dankwart Guratzsch das Eigenheim als deutsche Utopie.
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