9punkt - Die Debattenrundschau

Kompakt, effizient, transparent

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2015. Putin orientiert sich nicht an Stalin, sondern am alten Zarenreich, meint Orlando Figes in der SZ. Es gäbe nicht so viel Gewalt gegen Frauenkliniken, wenn sich nicht selbst gemäßigte Kreise extremistisch zu Abtreibung äußerten, meint der Guardian. Das offene Netz ist in Gefahr, weil ihm Großkonzerne ihre Strukturen überstülpen, meint Konrad Lischka bei heise.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.11.2015 finden Sie hier

Europa

Russland leidet nicht nur am postimperialen Syndrom, sondern daran, dass es nie eine Nation war, ohne zugleich Imperium zu sein, meint der Historiker Orlando Figes im Interview mit Sonja Zekri in der SZ: "Putins Außenpolitik ist ziemlich klassisches 19. Jahrhundert. Er will, anders als oft behauptet, nicht die Sowjetunion wiederherstellen. Seine Strategie, soweit erkennbar, ähnelt jener von Zar Nikolaus I. Ihm geht es darum, dass Russlands Nachbarn schwach und zerrissen sind. In der Ukraine hat Putin dies zweifellos erreicht, so wie Nikolaus I. alles tat, damit das Osmanische Reich schwach und zerrissen war, etwa indem er die christlichen Minderheiten als ständige Bedrohung für das türkische Reich einsetzte. Vermutlich hätte er das Osmanische Reich 1829 besiegen und aufteilen können, aber er entschied sich dagegen."

Überall in Europa werden wieder Grenzen hochgezogen, schreibt Timothy Garton Ash im Guardian, physische und psychische: "Was wir 2015 erleben, ist die europäische Umkehrung von 1989. Erinnern Sie sich daran, dass die physische Schleifung des Eisernen Vorhang mit dem Zerschneiden von Stacheldraht zwischen Ungarn und Österreich begann."

Eine Repolonisierung von Kultur und der Medien hat sich die neue Regierung in Warshau auf die Fahnen geschrieben, berichtet Gabriele Lesser in der taz. Nach der versuchten Absetzung des Jelinek-Stückes in Breslau wurde prompt die Journalistin Karolina Lewicka suspendiert, die Kulturminister Piotr Glinski im Fernsehen dazu befragt hatte: "Statt sich nun für den Zensurversuch mit einem plausiblen Grund zu entschuldigen blaffte Glinski die Moderatorin an: 'Das ist ein Propagandaprogramm. So wie euer ganzer Sender, der seit Jahren Propaganda und Manipulationen bringt.' Dann drohte er: 'Aber das wird sich ändern! Denn so soll ein öffentliches Fernsehen nicht funktionieren.' Lewicka wurde wieder eingesetzt, doch die Regierung kündigte bereits an, die öffentlich-rechtlichen Medien grundlegend umzustrukturieren.

Weiteres: Rudolf Walther kann sich in der taz auch keinen Reim auf die Ausbrüche des Philosophen Michel Onfray (unser Resümee) machen, der mal Verständnis für den Front National zeigt, mal für den IS. Und Georg Mascolo schwört uns in der SZ auf eine neue Ära ein: "Mit der Angst um die Weihnachtsmärkte begann in Deutschland vor 15 Jahren eine neue Zeitrechnung." Wenigstens bleibt uns die Journalistenrhetorik!
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Politik

Drei Tote, neun Verletzte bei einer Attacke auf die Organisation Planned Parenthood in Colorado Springs, gegen die zuvor mit Horrorvideos von Abtreibungen Stimmung gemacht worden war. Es würden keine physischen Attacken auf Frauenärzte und Organisationen wie Planned Parenthood stattfinden, wenn es nicht bis in gemäßigte Kreise der amerikanischen Politik extreme Diskurse zum Thema gäbe, schreibt Jessica Valenti im Guardian: "Planned Parenthood ist nach allen Untersuchungen freigesprochen worden, die nach der Veröffentlichung der Videos angestellt worden waren, und dennoch musste sich die Präsidentin der Organisation, Cecile Richards, vor dem Repräsentantenhaus in einer schändlichen Befragung rechtfertigen, in der es um alles mögliche ging - vom Einsatz von Musik, über Veranstaltungen bis zum persönlichen Gehalt Richards'."

Sehr streng fertigt der Historiker Gregor Schöllgen in der FAZ sämtliche Institutionen ab, die seiner Analyse nach für das gegenwärtige Schlamassel verantwortlich sind: "Alle Organisationen, die jetzt aufgerufen sind oder sich berufen fühlen, den Terror zu bekämpfen, sind Kinder des Kalten Krieges. Keine von ihnen hat es im vergangenen Vierteljahrhundert fertiggebracht, sich den neuen weltpolitischen Realitäten zu stellen, die Vereinten Nationen nicht, die Nato nicht und die EU schon gar nicht."
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Internet

Das offene Netz ist in Gefahr, weil Großkonzerne ihre Strukturen über das Internet stülpen und Surfer in ein bloßes Konsumverhalten zurückfallen, schreibt Konrad Lischka bei heise.de: "Unternehmen stülpen geschlossene Dienste über das offene Netz. Immer mehr Menschen ziehen geschlossene Alternativen vor. Newsfeeds geschlossener sozialer Netzwerke statt Blogs und RSS. Whatsapp statt E-Mail und erprobter offener und flexible Standards wie dem Extensible Messaging and Presence Protocol (XMPP). Die jetzige Mediennutzung ist nicht mehr maßgeblich von Vielfalt und Autonomie bestimmt, wie jeder Blick auf die Trafficquellen großer Digitalmedien beweist. Das dezentrale Netz der neunziger und frühen nuller Jahre existiert noch, aber es schwindet." Lischka hat zu dem Thema ein Ebook veröffentlicht, das man hier herunterladen kann.

Außerdem: Contanze Kurz prangert in ihrer Maschinenraumkolumne in der FAZ Bestrebungen der Industrie an, Datenschutzregeln aufzuweichen.
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Medien

Im Feuilleton von heute scheint eine Art insiderhafte Nebelwand hochgezogen zu werden, zumindest wenn man dem Medienprofessor Thomas Hecken glaubt, der auf der Grazer Feuilletontagung sprach (unser erstes Resümee). Mit einfachen Fragen fühlten sich die Leser nach Kritiken alleingelassen, schreibt Blogger Jan Drees in seinem Bericht: "Worum geht es in dem Roman, dem Theaterstück oder Film? Ist das rezensierte Werk gut, schlecht, Mittelmaß? Das gegenwärtige Feuilleton windet sich. Hecken führte aus, in welcher Weise dennoch Werturteile explizit gemacht werden, obwohl sich äußerst selten die Deutlichkeit eines Marcel Reich-Ranicki zeigen lässt."

Sephan Russ-Mohl beobachtet in der NZZ, dass der Wissenschaftsjournalismus zunehmend an Unabhägigkeit verliert. Universitäten und Forschungseinrichtungen bauen ihre Kommunikationsabteilungen aus, Medien lassen sich von Stiftungen sponsorn: "Im Blick auf bedrohte journalistische Unabhängigkeit heikler ist indes, dass die Schweizerische Depeschen-Agentur (SDA) sich ihre Wissenschaftsredaktion weiterhin von Swissuniversities, der Nachfolgeorganisation der Schweizer Rektorenkonferenz, und von der ETH Zürich finanzieren lässt."
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Überwachung

Markus Beckedahl erinnert sich in einem Essay für die deutsche Wired an die Ermittlungen gegen ihn und Netzpolitik. Alles fing mit einem großen gelben eingeschriebenen Brief von der Staatsanwaltschaft an: "Gegen mich, meinen Redakteur Andre Meister und unsere journalistischen Quellen würden Ermittlungen wegen Landesverrats laufen - das stand da. Ich erinnere mich genau an diesen Moment, an den gelben Umschlag. Und an dieses Wort, das ich bislang nur aus der Mottenkiste der Historie kannte. Landesverrat."
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Kulturpolitik

Nicola Kuhn berichtet im Tagesspiegel von einer Tagung des neuen Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, wo die Kulturfunktionäre das Versagen der Gurlitt-Taskforce (mehr hier) bereits weit hinter sich gelassen haben: "Aus den Fehlern habe man gelernt, versprach Uwe Schneede gleich zu Beginn der Tagung. Als Stiftungsvorstand leitet der einstige Direktor der Hamburger Kunsthalle das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste. Bei ihm wird nach Auflösung der Taskforce im kommenden Jahr die weitere Erforschung der Gurlitt-Sammlung angesiedelt sein: Man werde fortan 'kompakt, effizient, transparent' arbeiten, kündigte Schneede an."
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