9punkt - Die Debattenrundschau

Arbeit am großen Nein

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2016. Salah Abdeslam, der letzte noch gesuchte Paris-Attentäter, ist gefasst. Im Merkur streift Ekkehard Knörer durch die Betonwüsten der Pariser Banlieue. In der FR fragt Rafik Schami, wo eigentlich Sloterdijk und Safranski waren, als er an der israelisch-palästinensischen Versöhnung arbeitete. Die NZZ fragt, wo eigentlich die Kritische Theorie geblieben ist. Im NYRB-Blog beschreibt Masha Gessen in Russland einen Mafia-Staat. Die taz begrüßt die Krise des deutschen Schweinesystems.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.03.2016 finden Sie hier

Europa

Die Flucht von Salah Abdeslam ist beendet, der letzte Attentäter vom 13. November in Paris ist in Brüssel gefasst worden, ganz in der Nähe seines Elternhausen. Aktuelle Berichte gibt es zuhauf in Liberation und Le Monde.

Für das Merkur-Blog hat Ekkehard Knörer Eindrücke von einem Streifzug durch Sarcelles geschickt, einer jener Orte der Pariser Banlieue, in denen nur Trostlosigkeit und Dschihadismus gedeihen: "Es dominiert, durch die partielle Begrünung eher noch akzentuiert, der Beton. Ich denke an Marzahn, dort fühlte ich mich bei Erkundungen ähnlich von der baulichen Umgebung nicht gemeint, ohne mir den (da sozialistischen) Menschen vorstellen zu können, der von dieser Art Raumordnung adressiert gewesen sein könnte. Rechts auf der Seite ist ein bunkerartiges Ding, Beton, grob verputzt, die noch vorhandenen Buchstaben 'O' und 'UM' verweisen darauf, dass da einst etwas war, das 'FORUM' hieß. Jetzt aber: verfallen, verlassen, unzugänglich gemacht durch einen Zaun, der das Ding und das begrünte Gelände darum abschließt. Vieles ist kaum lesbar für mich, Räume mit fremd bleibenden Zügen; fremd für mich, der ich als Tourist hier so fehl am Platz bin, wie man im inneren Paris überall mit mir rechnet. Sarcelles: Niemand wartet auf mich. Nichts lädt mich ein."
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Ideen

Von den letzten verbliebenen Vertretern der Kritischen Theorie hat Joachim Güntner in der Flüchtlingsdebatte gar nichts gehört. In der NZZ wertet er das als Zeichen, dass ihr dialektisches Denken und ihre radikale Negativität passé seien: "Die zeitweilige kulturelle Dominanz der Linken ist gebrochen. Sie haben sich im Überbau totgesiegt; der Kapitalismus funktioniert munter weiter. Eine ganze Reihe von Stichworten, welche die - in sich sehr heterogene - Frankfurter Schule dem Zeitgeist gab, sind verblasst. Wer prangert heute noch den universalen 'Verblendungszusammenhang' an, für wen sind 'Entfremdung' und 'Verdinglichung' noch Kategorien sozialphilosophischer Kritik, wer hegt noch messianische Hoffnungen auf die Versöhnung aller Widersprüche? Die Arbeit am großen Nein ist out, und die Zurückhaltung kritischer Theoretiker in der Flüchtlingsdebatte zeigt an, wie vorsichtig sie gegenüber komplexen Problemen geworden sind."

Der Westen hat sich nicht um Syrien gekümmert, Europa lässt die Flüchtlinge im Stich, klagt der Schriftsteller Rafik Schami im Interview mit Martin Oehlen in der FR und empört sich auch über die deutsche Debatte: "Hervorgetan haben sich in dieser Misere Männer mit echten deutschen Namen wie die Fernsehphilosophen Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski, der Schriftsteller Reinhard Jirgl, der professionelle 'letzte deutsche' Salonprovokateur Botho Strauß und Last but not least der Salon-Anarchist a.D. und heutige Anhänger der Pegida, Frank Böckelmann. Die Islamphobie ist der salonfähige Antisemitismus. Es klingt lächerlich, wenn diese Hasser die Sorge um die 'jüdischen Mitbürger' als Grund ihrer Verachtung der Muslime in diesem Land angeben. 40 Jahre meines Lebens im Exil bemühte ich mich, mit jüdischen, arabischen, israelischen und palästinensischen Freunden, die Palästinenser und Israelis zu versöhnen. Nie war einer dieser Herren auch nur in Sichtweite anzutreffen."
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Politik

Im Blog der NYRB sieht Masha Gessen Putins Russland zu einem Mafia-Staat verkommen: "Wie die Mafia selbst morden auch Mafia-Staaten - aber sie töten nur Menschen, die für Nötigung und Erpressung unempfänglich sind: Journalisten zum Beispiel, oder widerspenstige Akteure wie der Oppositionspolitiker Boris Nemzow, der vor einem Jahr in Moskau erschossen wurde. 'Die Morde und selbst die Inhaftierungen sind jedoch nicht so zahlreich wie in traditionellen Diktaturen, weil sie gar nicht nötig sind', sagt der ungarische Soziologe Bálint Magyar. Meist genügt die Nötigung, Mafia-Staaten sind pragmatisch, sie morden nicht um der Sache selbst willen.""

Im Guardian bemerkt Jonathan Freedland, dass Labour unter Jeremy Corbyn allmählich ein Problem mit dem Antisemitismus bekommt: "Niemand wirft ihm vor, ein Antisemit zu sein, Aber viele Juden bereitet es Sorge, dass er bei denjenigen, die er als mögliche Verbündete in der palästinensischen Sache ansieht, alles übersieht, was sie an Hässlichem über Juden von sich gegeben haben, bis hin zur Holocaust-Leugnung und der Legende vom Ritualmord."

In Print und Online finden sich natürlich unzählige Nachrufe auf Guido Westerwelle, auf Zeit Online schreibt überraschender Weise die Schriftstellerin Nora Bossong, die bei ihm zwar jegliche Empathie vermisste, nie aber Verbundenheit zu Europa: "Europa hat nicht nur seinen Preis, es hat auch seinen Wert", zitiert sie ihn.
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Kulturmarkt

In der SZ berichtet Bernd Graff, wie die Leiziger Buchmesse im Café Europa über die Flüchtlingsfrage diskutiert. In der Welt erkennt Marc Reichwein in der "Heimat" zugleich Gastland und Schwerpunktthema der Messe. Als schrecklich wohlfeil erlebte Joachim Güntner (NZZ) den Appell, bei der Buchpreis-Verleihung Pappschilder mit Freiheitsbekundungen hochzuhalten: "Alle gehorchten, denn wer möchte schon als Freiheitsfeind dasitzen."
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Stichwörter: Leipziger Buchmesse

Medien

Der Wrestler Hulk Hogan hat eine spektakuläre Klage gegen Gawker gewonnen, berichtet Jeremy Stahl auf Slate. Für die Veröffentlichung eines Sexvideos, das den Wrestler mit der Frau eines Freundes zeigt, muss Gawker ihm 115 Millionen Dollar Entschädigung zahlen: "55 Millionen für wirtschaftliche Einbußen, 60 Millionen für die seelische Belastung."

In der Welt überlegt Chrstian Meier in Erwartung des lösungsorientierten Portals Perspective Daily, wie konstruktiver Journalismus funktionieren kann.

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Stichwörter: Gawker

Gesellschaft

Das deutsche Schweinesystem ist in der Krise, freut sich Jörn Kabisch in der taz, zumindest wenn es um die industrielle Fleischproduktion geht. In einem großen Report zum Schwein in Politik, Literatur und Maststall schreibt er: "Über 50 Millionen Tiere schlachten Betriebe wie die in der Gegend um Versmold pro Jahr, gemästet werden sie meist in abgeschirmten Stallanlagen, in denen über 1.000 Tiere stehen. Weltweit liegt Deutschland an dritter Stelle, nur China und die USA produzieren noch mehr Schwein. Wenn die Deutschen Fleisch essen, wenn sie grillen, ist es meistens Schwein, 38 Kilogramm im Jahr, fast doppelt so viel wie Rind, Lamm und Geflügel zusammen. Der Pro-Kopf-Verbrauch ist EU-weit nur in Spanien noch höher."

Weiteres: In der FAZ ärgert sich Edo Reents über die Pseudo-Debatte zur bereuten Mutterschaft: Reine "Dünnbrettbohrerei". In der SZ empört sich Peter Richter im Feuilleton-Aufmacher über die schwindende Luxuriösität seiner Apple-Produkte.
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