9punkt - Die Debattenrundschau

Jedem seine Leberwurst

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2016. Das Medienkollektiv Inkyfada kritisiert in der taz die Unterdrückung der Presse in Tunesien. Das Filmemacherkollektiv Abounaddara kritisiert in der Zeit die Darstellung entwürdigter Syrer in den internationalen Medien. Die NZZ ist erleichtert über das neue Museum Judengasse in Frankfurt. In der taz plädiert die Politologin Ulrike Guérot für eine Europäische Republik. In der FAZ erklärt der Migrationsforscher Ruud Koopmans Multikulti für gescheitert. Und im Guardian erklären MSF und ICRC: Der Arzt deines Feindes ist nicht dein Feind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.04.2016 finden Sie hier

Medien

Kais Zriba, Mitbegründer und Teil des tunesischen Medienkollektivs Inkyfada, schildert im Gespräch mit Jakob Weingartner (taz) die Attacken, denen er und seine Kollegen sich nach der Veröffentlichung der Panama Papers ausgesetzt sehen: "Es handelt sich um Gegenangriffe von Geschäftsmännern, welche einige Medien kontrollieren und mit mächtigen Politikern zusammenarbeiten. Das ist nicht anders als im Rest der Welt, doch hier in Tunesien besteht eine Kontinuität zur Diktatur von Ben Ali. Die Struktur des Staates hat sich seitdem nicht geändert. Sogar als Ennahda an die Macht kam, also der 'ennemi numéro un' der Diktatur, erkannten diese die Effizienz des Systems und wechselten lediglich die Köpfe aus. Der einzige Unterschied ist also, dass wir heute analysieren können, wie dieses Netzwerk funktioniert, ohne dafür ins Gefängnis zu gehen oder getötet zu werden. Unser Ziel in diesem Konflikt sollte sein, dass wir uns aus dem alten Mediensystem von Ben Ali herausarbeiten und ein neues aufbauen, das unabhängig und gemäß einer journalistischen Ethik als vierte Kraft im Staat agieren kann."

Die internationalen Medien haben keine Hemmungen, entwürdigte und getötete Syrer zu zeigen, kritisiert das syrische Filmemacherkollektiv Abounaddara in der Zeit. Damit machten sie sich zu Verbündeten Assads: "Ein Regime hat sich darangemacht, seine Gesellschaft systematisch zu zerstören, unmittelbar vor den Augen der Medien, die die Bilder des Verbrechens fast schon live übertragen. Der Herrscher dieses Regimes verbreitet seine Ansichten über die Bildschirme in der ganzen Welt - seinen Hunderttausenden von Opfern dagegen wird dieses Recht verweigert. Anders ausgedrückt: Die Bildschirme, die das öffentliche und private Leben bestimmen, geben seit Jahren die Ansichten eines Verbrecherstaats wieder. Das Böse wird hier banalisiert, nicht im Namen einer rassistischen Ideologie wie im 'Dritten Reich', sondern im Namen abgeschmackter Anteilnahme, die inzwischen eine Art Universalreligion geworden ist."

Außerdem denkt Markus Hesselmann im Tagesspiegel über Lesen im Zeitalter der Algorithmen nach und stellt unter anderem fest: "Die Entbündelung publizistischer Angebote durch das Netz bietet große Chancen für besser recherchierten, tiefergehenden Journalismus."
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Gesellschaft

Assimilation, also die Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, ist ein unverzichtbarer Bestandteil von Integration, sagt der Migrationsforscher Ruud Koopmans im Gespräch mit Sven Astheimer von der FAZ. Seit dem Aufstieg des Multikulti-Begriffs in den Siebzigerjahren sei Assimilation jedoch immer mehr zum Tabu geworden: "Es geht darum, dass man in der Lage ist, die Sprache des neuen Wohnlandes zu sprechen, und nicht nur Kontakt innerhalb der eigenen Gruppe hat. Multikulti basiert auf dem Gedanken der Bikulturalität. Aber das hat bei vielen Muslimen nicht funktioniert. Fragen Sie mal in der türkischstämmigen Bevölkerung nach, was sie von Erdogans Bestrebungen halten, die freien Medien nun auch in Westeuropa mundtot zu machen. Die Identifikation mit der Türkei ist bei vielen weitaus stärker als mit Deutschland oder den Niederlanden. Das Problem der Multikulti-Debatte ist, dass die Schuld für diese Umstände immer bei der aufnehmenden Gesellschaft gesucht wird."
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Geschichte

Roman Bucheli besichtigt in der NZZ mit großer Erleichterung das neue Frankfurter Museum Judengasse. Bisher waren die Überreste des jüdischen Lebens der Stadt in seinen Augen erschreckend lieb- und hilflos präsentiert worden: "Nach einem gründlichen Umbau präsentiert sich das Museum nun von einer völlig neuen Seite. Die spektakulären archäologischen Funde der aus mehreren Jahrhunderten stammenden Fundamente verbinden sich mit Einblicken ins Alltagsleben im jüdischen Ghetto, soweit es aus Akten und Überlieferung zu erschließen war. Vor allem aber: Unter der umsichtigen Führung der vom Berliner Jüdischen Museum herkommenden Direktorin Mirjam Wenzel dokumentiert das Museum auch die Geschichte seiner eigenen Entstehung. Denn sie markiert einen fulminanten Wendepunkt in der Erinnerungspolitik. Einer mutwilligen Fortsetzung des Werks von Auslöschung und Zerstörung war Einhalt geboten worden."

Für die FAZ hat Kerstin Holm das Moskauer GULag-Museum besucht und stellt fest, dass es "hinter westlichen Anforderungen an eine Terrorgedenkstätte weit zurückbleibt. Einzelheiten über die Methoden, wie zumal politische GULag-Häftlinge zugrunde gerichtet wurden, bleiben ebenso ausgespart wie Hinweise auf den Verbleib der Gebeine oder eine Analyse, wer für die Verbrechen verantwortlich ist... Vielleicht kann man in Zeiten, da der Stalinkult wieder in Mode ist und das Regime repressiver wird, von einem staatlichen Museum nicht mehr erwarten. Dafür besitzt die Gedenkstätte für Opfer eines Unrechtssystems, das nicht überwunden wurde, eine eigene beklemmende Authentizität."

In Berlin haben sich 19 Institutionen zu einem Netzwerk zusammengetan, das den Schutz von Kulturschätzen und den Wiederaufbau antiker Stätten in Syrien zur Aufgabe hat, meldet Rolf Brockschmidt im Tagesspiegel: "'Wir wissen, dass es im Fall von Syrien eine 'Stunde Null' im Sinne eines singulären Einschnittes nicht geben kann und wird', so Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier beim Empfang... Man solle nicht über der Rekonstruktion beschädigter Tempel brüten, während in Syrien Menschen sterben. Auf der Basis der Erfahrungen der eigenen Geschichte 'wollen wir gemeinsam klügere Konzepte entwickeln helfen als das Ausdrucken und Aufstellen von Repliken'. Gelingen könne das eines Tages nur, wenn die Zusammenarbeit mit den Partnern in der Region, den Nachbarstaaten, der Zivilgesellschaft, Antikenbehörden und staatlichen Institutionen erfolge."

Jeweils unter der Überschrift "Hallo, Lenin" berichten außerdem Michael Pilz (in der Welt) und Jens Bisky (in der SZ) von der Dauerausstellung "Enthüllt - Berlin und seine Denkmäler", die gestern im Proviantmagazin der Zitadelle Spandau eröffnet wurde.
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Politik

Nachdem diese Woche der Beschuss eines Krankenhaus in Aleppo erneut Dutzende Tote gefordert hat, machen Joanne Liu, Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen, and Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, im Guardian darauf aufmerksam, dass Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in den letzten Jahren rasant zugenommen haben: "What we are witnessing is a sustained assault on, and massive disregard for, the provision of healthcare during times of conflict. Under international humanitarian law and principles, health workers must be able to provide medical care to all sick and wounded regardless of political or other affiliation, whether they are a combatant or not. And under no circumstances should they be punished for providing medical care which is in line with medical ethics. The doctor of your enemy is not your enemy."
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Europa

In der taz umreißt die Politologin Ulrike Guérot ihre Vision für Europa, in dem sich die jetzigen Nationalstaaten in kulturell definierte Regionen auffächern, die sich wiederum zu einer Europäischen Republik zusammenschließen: "Normativ gleich, aber kulturell vielfältig, so könnte das europäische Modell der Zukunft aussehen: Bayern und Venedig, Katalonien und Sachsen, Mähren und Brabant, sie alle wären vereint in der Europäischen Republik, bei gleichzeitiger politischer und kultureller Autonomie. VertreterInnen der Regionen könnten in einer zweiten Kammer, ähnlich dem amerikanischen Senat, die regionalen Interessen vertreten, während die erste Kammer nach dem Grundsatz 'Eine Person, eine Stimme', also bei gleichem und direktem Wahlrecht, von allen gewählt würde... Jedem seine Leberwurst, aber eine gemeinsame Ukrainepolitik: Gegen so ein Europa hätten bestimmt auch die meisten Niederländer nichts!"
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