9punkt - Die Debattenrundschau

Sakralisierung der Differenz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2018. Warum nicht "aufstehen", fragt Ingo Schulze in der SZ. Sahra Wagenknecht selbst legt in der FAS dar, dass sie an das Gute im AfD-Wähler glaubt.  Die FAS analysiert auch die innere Spaltung der Linken insgesamt. David Grossman zweifelt in der NZZ an Friedensaussichten im Nahen Osten. In der Berliner Zeitung spricht Ilko-Sascha Kowalczuk  von der Stasi-Unterlagenbehörde über die Enttäuschung des Ostens nach dem Mauerfall. Die taz bereitet laut turi2 den Ausstieg aus dem Print vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.08.2018 finden Sie hier

Europa

Im Gespräch mit Ralph Bollmann legt Sahra Wagenknecht noch einmal dar, dass sie an das Gute im AfD-Wähler glaubt, um den sie mit ihrer "Aufstehen"-Bewegung werben will: "Statt über Sternchen in Worten zu debattieren, sollten wir uns auf die sozialen und ökonomischen Fragen konzentrieren. Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass Unzufriedene in die Arme der AfD getrieben werden, weil sie sich bei allen anderen nicht mehr verstanden fühlen. Viele wählen die AfD aus Protest, das sind keine Rassisten, sondern Menschen, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen."

Mark Siemons benennt im Feuilleton der FAS gleichzeitig die Spaltung in allen linken Strömungen zwischen modischem Kulturalismus und einem altmodischem Beharren auf der sozialen Frage: Es gebe "einen Konflikt zwischen denen, die den linken Fortschritt vornehmlich kulturell und moralisch interpretieren, als Emanzipation aus den Grenzen der Nation, der Ethnie, des Geschlechts und der überkommenen Konvention; und jenen anderen, die darauf beharren, dass sich das Links-Sein in der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und der von ihm geprägten Weltordnung bewähren müsse."

Warum nicht "aufstehen", fragt Autor Ingo Schulze in der SZ. Es fehlt doch sonst an jedem Gegenentwurf zum "Neoliberalismus" der großen Parteien. "Bereits eine auf unseren Alltag angewandte Provenienzforschung, also eine Dokumentation, woher die Dinge unseres täglichen Lebens stammen ... würde belegen, wie unauflöslich wir mit dem Wohl und Wehe der Welt verstrickt sind und wir daher Mitverantwortung tragen, nicht nur für den Klimawandel. ... Angesichts dieser Situation müsste es doch im Bundestag einen regelrechten Überbietungswettbewerb an Vorschlägen geben, durch welche Veränderungen von Finanz- und Handelsabkommen, von Gesetzen, Zöllen, Subventionen und Verordnungen, von Gesundheits- und Bildungsprogrammen etc. wir beitragen können, um das, was wir Bekämpfung von Fluchtursachen nennen, tatsächlich in die Tat umzusetzen. Ich weiß nicht, warum es diesen Wettbewerb nicht gibt."

Die Mentalität der Grünen, die an Unis und in Medien herrsche, macht Necla Kelek in einer Reihe von Regionalzeitungen für Asymmetrien der Migrationsforschung verantwortlich: "Unterstützt durch die Migrationsforschung wird mit stattlichen Beträgen der Rassismus der Deutschen erforscht, keine Forschungsgelder werden ausgegeben, um die Rolle der Moscheen in den Schulen zu ermitteln oder Verwandtenehen zu thematisieren. Die Liste der Konflikte ist lang und die Sozialforschung hätte die nächsten Jahrzehnte zu tun, um Migranten die Chance zu eröffnen, in der Welt, in die sie hineingeboren wurden, auch anzukommen. 'Neue Männer braucht das Land, ich schreib's an jede Wand' hat Ina Deter mal gesungen, ja, eine neue Migrationsforschung und -politik braucht das Land."

Der türkische Präsident Erdogan war während der Özil-Debatte schnell mit dem Rassismus-Vorwurf an Deutschland bei der Hand. Und wie siehts bei Sportlern mit Migrationshintergrund in der Türkei aus? Klemens Ludwig hat für die Welt mal hingeguckt: "Yasemin Can, die Gold über 5000 und 10.000 Meter gewann, Ali Kaya und Kaan Özbilen heißen die Stars der türkischen Leichtathletikszene. Drehen sie ihre Runden, ähneln sie indes mehr den alles dominierenden kenianischen Langstreckenläufern. Tatsächlich, Yasemin Can hieß einmal Vivian Jemutai. Ali Kaya kam als Kiprotich Mukche auf die Welt und Kaan Özbilen als Kipruto Kigen." Bevor sie für die Türkei an den Start dürfen, werden die Sportler "turkisiert, eine Vivian Jemutai läuft nun einmal nicht für die Türkei. ... Man stelle sich vor, Mesut Özil hätte sich in Meinrad Oswald germanisieren müssen, bevor er für Deutschland auflaufen durfte!"

Peter Schneider versucht in der NZZ zu erklären, warum die Flüchtlingsdebatte in Deutschland so verquirlt ist: Weil niemand - nicht von links, nicht von rechts - über die Grundfrage reden will: Wie viele Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge "kann ein Land wie Deutschland - auch zum eigenen Nutzen - aufnehmen und integrieren, und wo liegt die Grenze der Belastbarkeit? Es ist höchste Zeit, dass sich die Deutschen mit Herz und Verstand für die epochale Herausforderung der längst eingesetzten Völkerwanderung öffnen. Ohne sich den freien Blick darauf durch unverbesserliche Fremdenhasser aus der AFD oder durch deutsche Selbsthasser verstellen zu lassen, die sich und ihnen nur noch eine Identität als 'Biodeutsche' zubilligen. Es wäre niemandem gedient, weder den Flüchtlingen noch den Einheimischen, wenn wir die Grenzen der Aufnahmebereitschaft ignorieren und die demokratischen Regeln unseres Zusammenlebens aus falscher Toleranz aufgeben würden."
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Gesellschaft

Sehr instruktiv spricht Ilko-Sascha Kowalczuk von der Stasi-Unterlagenbehörde im interview mit Markus Decker von der Berliner Zeitung über rechtspopulistische Tendenzen in der "Aufarbeitungsszene" und von vielen Enttäuschungen gerade auch bei Leuten, die sich in der DDR aufgelehnt hatten: "Der Westen hofierte nach 1989 Markus Wolf, Gregor Gysi, jetzt die nationale Sozialistin Sahra Wagenknecht - kein ehemaliger politischer Verfolgter hat auch nur ansatzweise die Chance gehabt, sich so dauerhaft in den Medien darstellen zu können. Sie sind nicht quotenträchtig. Wir mögen die Unangepassten nur auf der Kinoleinwand, nicht im Sessel neben uns."

Anja Maier schreibt in der taz über die psychische Konstitution von nicht mehr ganz jungen Ossis und ihren Kampf mit der der Identität: "Ich hatte dort ein Leben. Eine erste Identität. Und ich möchte von dieser Person erzählen können, ohne mich für ihr Leben rechtfertigen zu müssen. Es ist wie ein Phantomschmerz: Mir ist vor Jahrzehnten etwas amputiert worden, etwas Schwärendes, das mir nicht guttat. Doch noch heute schmerzt die Narbe. Ich müsste eigentlich froh sein, schließlich hätte ich ohne die Operation nie meine zweite Identität entwickeln können. Trotzdem fehlt mir etwas."

Außerdem: Ebenfalls in der taz schreibt die Regisseurin Simone Dede Ayivi über Rassismus in der Arbeitswelt.
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Medien

Perlentaucher Thierry Chervel macht sich Gedanken über die Aufmachung von Patrick Bahners' jüngstem Artikel zur Rassismus-Debatte in der Sonntags-FAZ. Obwohl kaum vom Islam und gar nicht vom Kopftuch die Rede ist, wird der Artikel mit einem Foto garniert, das kleine Mädchen in Kopftuch zeigt. Ist es also auch das Kopftuch, das vor Rassismus zu schützen wäre?, frag Chervel: "Das ist, was mir an der Inflation und Expansion des Rassismus-Begriffs so suspekt ist: Der Antirassismus führt paradoxer Weise zu einer Sakralisierung der Differenz, ja, zu immer neuen Differenzen, die an immer neue Merkmale geheftet werden, und zu einer absichtlichen Vermischung unterschiedlicher Sphären: Schon die Kritik am Kopftuch, gerade bei kleinen Mädchen und an Schulen, gerät so unter Rassismusverdacht. 'Islamophobie', Rassismus, alles eins."

Die taz bereitet den Ausstieg aus der Printausgabe vor, berichtet Jens Twiehaus von turi2 und zitiert aus einem Schreiben des noch amtierenden Geschäftsführers der taz, Karl-Heinz Ruch, an die Genossenschafter: "Die Verlage registrieren es an den Rückläufen vom Kiosk, die aus dem Zeitungsvertrieb eine aufwändige Art von Papier-Recycling gemacht haben: die Zeitungen werden am frühen Morgen an die Kioske ausgeliefert, um am Abend zu neunzig Prozent wieder als Altpapier dort eingesammelt zu werden." Ruch wird zwar nächstes Jahr in Rente gehen, bereitet aber ein "Szenario 2022" vor, nach dem die taz nicht mehr als Printprodukt exisiteren würde: "Unser Szenario 2022 zeigt, dass mit den Umsätzen der täglich gedruckten taz auch erhebliche Kosten für Druck und Vertrieb wegfallen." (Hier der Link zum taz-Mitgliederinfo 28 als pdf-Dokument).
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Politik

Wenn der Schriftsteller David Grossman in die Zukunft blickt (nicht allzuweit), sieht er für Israel keinen Grund zum Optimismus, bekennt er im Interview mit der NZZ: "Wissen Sie, ich bin jetzt 64 Jahre alt - und auf diesem Kampfplatz seit 40 Jahren aktiv. Ich zweifle mehr und mehr an der Fähigkeit der unterschiedlichen Lager, einen echten Dialog zustande zu bringen. Wir vertiefen nur das Problem, verkomplizieren es weiter und fixieren seine Unlösbarkeit. Und unglücklicherweise arbeiten die Palästinenser an diesem wirklich bedrohlichen Szenario hervorragend mit. ... In der jetzigen Situation kann ich nicht dauerhaft zuversichtlich sein, dass Israel die Chance auf eine Zukunft hat. Vielleicht verstehen das nur Israeli. Wenn ich in einer Zeitung lese, dass Deutschland sein Straßennetz für die nächsten dreißig Jahre plant, klingt das ganz natürlich. Kein Israeli, der seine Sinne beisammen hat, würde Pläne für die nächsten dreißig Jahre machen. Oder über das Land in dreißig Jahren sprechen. Selbst wenn ich es täte, spürte ich ein Ziehen in meinem Herzen: Als ob ich ein Tabu verletzte, indem ich mir erlaubte, mir so eine große Spanne Zukunft vorzustellen."
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