9punkt - Die Debattenrundschau

Genau wie ein normales Wasserstoffatom

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2018. Im Perlentaucher kritisiert Wolfgang Ullrich den Missbrauch von Urheberrechten als Kontrollinstrument. Politico.eu schildert das Denken der "No-Deal-Jakobiner", während sich die Brexit-Verhandlungen einem möglichen Kompromiss nähern. Der Guardian beleuchtet in zwei Artikeln  die russische Häme bei der Inszenierung der mutmaßlichen Skripal-Mörder. Le Monde entdeckt eine lange vergessene Art der Fortbewegung: zu Fuß gehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.09.2018 finden Sie hier

Europa

Tom McTague schildert in politico.eu die Seelenlage der von Boris Johnson angeführten "No-Deal-Jakobiner" bei den Brexit-Verhandlungen: "Im Kern der Polarisierung steht nach Ansicht von Politikwissenschaftlern, Psychologen und Ministern die revolutionäre Natur der Brexit-Abstimmung selbst. Wie jede Revolution entwickelt Brexit eine eigene Dynamik, denn diejenigen, die diese Revolution betrieben haben, suchen immer radikalere Lösungen, um Ziele zu erreichen, die über das Verlassen der EU hinausgehen. Im Grunde genommen, so sagen sie, ist Brexit ein Instrument, um tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen, die der chaotische Charakter der Verhandlungen aber nicht liefern zu können scheint." In einem zweiten Artikel zeichnet sich für politico.eu-Autoren aber schon ab, wie ein Brexit-Deal aussehen könnte.

Angesichts der chaotischen Verhandlungen fordert Sadiq Khan, der Bürgermeister von London, im Guardian unterdessen ein zweites Referendum: "Nach reiflicher Überlegung bin ich der Überzeugung, dass die Leute das letzte Wort haben müssen. Das bedeutet eine öffentliche Abstimmung über jeden Deal oder über ein No-Deal, inklusive der Möglichkeit, in der EU zu bleiben. Als Bürgermeister würde ich meinen Job nicht tun, wenn ich mich nicht für die Londoner einsetzen würde und jetzt nicht sagen würde, dass wir noch einmal über diese wichtige Entscheidung nachdenken sollten."

Auch die freche Inszenierung der mutmaßlichen Skripal-Mörder, die in einem Russia-Today-Interview behaupteten, sie seien wegen der Kathedrale nach Salisbury bekommen, beschäftigt den Guardian. "Russland macht sich über uns lustig", schreibt Carole Cadwalladr. "Dies ist Krieg, der sich als politisches Theater verkleidet. Informationskrieg. Und wir sind zu naiv, es zu erkennen oder gar eine kohärente Strategie dagegen zu entwickeln. Die triumphale Durchbruch der letzten Woche ist in dieser Woche zur Demütigung geworden." Schon am Freitag hatte Jonathan Freedland die russische Attitüde so beschrieben: "Wir haben auf eurem Territorium gemordet. Und nun lachen wir über euch."
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Gesellschaft

Eine lange übersehene Fortbewegungsart könnte dazu beitragen, die Luftqualität der Städte zu verbessern und die Verkehrsprobleme zu bewältigen: zu Fuß gehen, berichtet  Eric Béziatin in Le Monde und bezieht sich auf eine mobilitätsökonomische Studie einer Forschungsgruppe namens Cerema: "In den wichtigsten französischen Städten stiegen Fortbewegungen zu Fuß von den neunziger Jahren bis 2010 um zehn Prozent, wahrend sie zwischen den Siebzigern und Neunzigern um dreißig Prozent zurückgegangen waren. Dies gilt für sehr große französische Städte, aber der Trend wird laut Cerema in kleineren Ballungsräumen beobachtet."

Niklas Maak resümiert im FAZ-Feuilletonaufmacher die katastrophale Lage auf dem Wohnungsmarkt: "Der Ausstieg aus dem sozialen Wohnungsbau, eine Politik, die geförderten Wohnbau massenweise verhökerte und in Renditeobjekte umgewandelt hat, ohne für Neubauten zu sorgen, kurz, der Rückzug des Staats von jeder Form von Gestaltung ermöglichte erst den Ausverkauf der Stadt und die aktuelle Krise des Wohnens." Der Argument, man könne doch in die entleerten Dörfer ziehen, verfängt bei Maak nicht. Dort gibt es weder Arbeit noch Internet.

Georg Seeßlen schreibt auf Zeit online zum siebzigsten Geburtstag der Neckermann KG, deren Gründung auch die Geburtsstunde des Versandhandels in Deutschland war: "In den Neckermann-Waren spiegelten sich die Stabilisierungen wie die Fragmentierungen der bürgerlichen Familie in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Tatsächlich also war der Neckermann-Katalog auch insofern ein wenig 'höllisch', als er es ermöglichte, rigide, alte, reaktionäre Familienmodelle und liberale, neue, progressive Warenwelten miteinander zu versöhnen."
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Ideen

Die Philosophin Christina Hoff Sommers bezeichnet sich als klassische Feministin. Mit dem Gender-Feminismus hat sie ein Problem, erklärt sie im Interview mit der NZZ, weil er an Fakten nicht interessiert ist, sondern alles bisher Erreichte abwertet: "Bei den Fortschritten für Frauen kommt man doch kaum noch mit. Frauen können nicht nur Karriere im Top-Management machen, sie machen sie. Frauen sind als CEO und auf höchster Ebene in der Corporate Leadership tätig. Im US-Erziehungssystem sind Frauen, einschließlich Afroamerikanerinnen und Latinas, eine einzige Erfolgsgeschichte. Frauen sind Männern auf Bachelor-, Master- und PhD-Ebene zahlenmäßig weit überlegen. In der Schule stellen Mädchen die Jungs mit besseren Noten, mehr Auszeichnungen, höherer Wahrscheinlichkeit auf einen Hochschulabschluss überall in den Schatten."

Im Interview mit der FR glaubt der Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter nicht, dass Computer je wirklich denken lernen werden. Sie sind dafür einfach zu linear, Analogien können schon kleine Kinder besser: "Zum Beispiel wenn ein zweijähriges Mädchen sehr stolz sagt: 'Ich habe die Banane ausgezogen!' Man sieht, dass sie eine süße und sehr gute Analogie gemacht hat. In der Vergangenheit hat sie ihre Puppe ausgezogen und ist sie von ihrer Mutter ausgezogen worden. Sie weiß also sehr genau, was sie unter 'ausziehen' zu verstehen hat. Und wenn sie sieht, was sie selbst bei der Banane macht, erkennt sie, dass das etwas Vertrautes und Ähnliches ist. Die Auswahl jedes Wortes hängt mit einer Analogie zusammen."

Hin- und hergerissen zwischen den Verfechtern des Sachzwangs und der Hyperindividualisierung zieht der Philosoph Dieter Thomä in der SZ in einen "Zweifrontenkrieg": "Politiker, die sich hinter dem Sachzwang verstecken, müssen als Demokratiefeinde bloßgestellt werden, denn sie entziehen Entscheidungen der Willensbildung von unten. Manager, die Mitarbeiter in die Spirale der Alleinstellungsmerkmale treiben, müssen als Saboteure der Demokratie angegriffen werden, denn sie zerstören die Bereitschaft der Menschen zur Kooperation. Nur wenn das demokratische Wir wieder flott gemacht wird ... kann die Demokratie ihre Abwehrschwäche überwinden."
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Urheberrecht

Am Wochenende fand im Marta Herford das Kolloquium "Gebt die Bilder frei" statt, in dem Museen eine Liberalisierung des Urheberrechts forderten, um wenigsten alle ihre Bilder und Reproduktionen gemeinfreier Werke zeigen zu können. Im Eröffnungsvortrag, den er im Perlentaucher veröffentlicht, legt Wolfgang Ullrich dar, wie Urheberrecht heute nicht mehr als Schutz-, sondern als Kontrollrecht missbraucht wird und kunstwissenschaftliche Forschung behindert. Ein Beispiel sind für ihn Nachlassverwalter, die mit der Vergabe von Rechten das Image ihres Künstlers steuern wollen: "Gewiss gehört es zu den Aufgaben von Nachlassverwaltern, sich um Quantität und Qualität des Andenkens zu kümmern, doch stellt sich die Frage, wie legitim es ist, deshalb die Arbeit anderer zu behindern. Was bedeutet es, wenn ein Ausstellungshaus keinen Katalog und keine Kunstvermittlungsprogramme anbieten kann, weil ein Nachlassverwalter Reproduktionsgenehmigungen verweigert?"
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