9punkt - Die Debattenrundschau

Und das alles klimafreundlich und emissionsfrei

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2019. Herbst. Das Wetter hält sich nicht an den Klimawandel. Gereizte Stimmung  ist überall. Phillip Ruch rechnet in der taz  hoch: 2025 gewinnt die AfD 33 Prozent. Der Rest bildet eine "Rettungskoalition". Blut fließt. Bei den Krautreportern raten Farhad Dilmaghani und Georg Diez den Öffentlich-rechtlichen, gar kein AfD-Personal mehr einzuladen, denn "nie wieder Faschismus". In der NZZ rauft sich Peter Sloterdijk die Haare: Die Polloi mästen sich an der Fiskokratie. Und die Oligoi sowieso. Ein konstruktiver Vorschlag kommt aber aus der Zeit: Rainer Klute fordert eine neue Debatte über Atomkraft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.10.2019 finden Sie hier

Europa

Zum Tag der Einheit hat die Zeit eine Umfrage zur Seelenlage der Bevölkerung in den Neuen Ländern durchgeführt, deren Ergebnisse Martin Machowecz und Heinrich Wefing vorstellen: "Die Befunde sind in weiten Teilen beunruhigend - um es vorsichtig zu formulieren. So finden 41 Prozent der Ostdeutschen, man könne seine Meinung heute nicht freier oder sogar nur weniger frei äußern als vor 1989. Und, noch irritierender: Eine deutliche Mehrheit von 58 Prozent der Ostdeutschen hat das Gefühl, heute nicht besser vor staatlicher Willkür geschützt zu sein als in der DDR."

Immer noch gibt es keine zivilgesellschatliche Übereinkunft über DDR und Mauerzeit in den Neuen Ländern, klagt der Theologe Hagen Findeis in der FAZ-Debatte zu dreißig Jahren Mauerfall. Es müsse eine neue Gesprächskultur entwickelt werden: "Diktaturen basieren auf der Gleichzeitigkeit von Kollektivierung und Atomisierung ihrer Insassen. Die DDR war eine Gesellschaft, die aus Mangel an Öffentlichkeit keine realistische Vorstellung von sich selbst entwickeln konnte. Deshalb müssen die Ostdeutschen ihre Geschichten nicht nur den Westdeutschen, sondern sich auch gegenseitig erzählen. Sie müssen lernen, ihre Verschiedenartigkeit gegenseitig wahrzunehmen und diese auch zu respektieren."

Mit Lust malt sich Philipp Ruch in der taz nach einem Wahlerfolg der AfD im Jahr 2025 mit 33 Prozent und der Bildung einer "Rettungskoalition" durch die übriggebliebenen Parteien bürgerkriegsartige Szene aus: "Kommentatoren wie Jan Fleischhauer werden offen ihre Sympathien für die starke AfD zeigen, die von den Schwachen und Feigen hinterrücks ermordet wird." Und dann bricht die Rettungskoalition: "Vielleicht gelingt es der Koalition, sich der Ungeduld eines Jens Spahn zu entledigen. Vielleicht dümpelt sie so vor sich hin. In jedem Fall kommt es zu Neuwahlen, Neuwahlen und nochmals Neuwahlen. Und die bestätigen immer nur das alte Kräftepatt - zwei-, dreimal. Die 'Unruhen' nehmen zu. Wohnungen, Barrikaden, vielleicht auch das ARD-Hauptstadtstudio (heute schon eine Hassikone des Rechtsextremismus) brennen. Blut fließt."
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Medien

Und bei den Krautreportern  sind es - ausnahmsweise mal frei zugänglich - Farhad Dilmaghani und Georg Diez, die ihre Heldenbrust in den Gegenwind des Faschismus recken. "Nie wieder Faschismus" solle künftig die Leitlinie des Journalismus seien, fordern sie dann auch und sehen sich die Redaktionsstatute der Öffentlich-Rechtlichen und den Pressekodex an, die sie im Dienste dieser Idee ergänzen oder verändern wollen. Die Konsequenzen liegen für Autoren auf der Hand: "Es ist daher überfällig, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk präzise darlegt, vor dem Hintergrund welcher Annahmen und Begründungen er weiterhin eindeutig rechtsradikale AfD-Vertreter einladen möchte - oder wie er künftig die AfD bezeichnen möchte. Rechtspopulistisch ist verharmlosend."

Die französische Zeitung Le Monde, früher der Stolz der Branche, ist heute arg geschwächt und im Besitz von Millionären. Die Redakteure hatten bei Le Monde immer eine gewissen Autonomiestatus gegenüber den Verlegern, den sie sich jetzt erneut erstritten haben, freut sich Benjamin Knödler  im Freitag: "Bei der anstehenden Aufsichtsratssitzung am 3. Oktober soll darüber hinaus ... über eine Stiftung nachgedacht werden, die die Anteile der Hauptaktionäre dauerhaft vor einer Übernahme durch Investoren schützen soll."
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Ideen

In populistischen Reden wird gern behauptet, wir hätten gar keine Demokratie, weil eine kleine Clique der Reichen alles beherrschen würde. Aber es ist genau anders herum, wir leben heute in einer Fiskokratie, erklärt Peter Sloterdijk in einer Rede, die die NZZ heute nachdruckt: "In Wahrheit ist es ein Großteil der vielen, der von der Kreativität der wenigen profitiert, wenn auch um den Preis zunehmender Ungleichheit. Infolgedessen enthüllt sich die aktuelle 'Demokratie' mehr und mehr als ein System, in dem die oligoi ihren Vorteil gegenüber den polloi ausbauen - wenn auch auf ganz andere Weise, als die älteren Ausbeutungstheorien es unterstellten. Aufs Ganze gesehen sind es die vielen, die von den innovativen Impulsen der wenigen in historisch beispielloser Weise Vorteile ziehen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen dürfte evident geworden sein, dass das Wort Demokratie ein intensives Pseudonym für die vielfältigen oligokratischen Strukturen darstellt, die zum System moderner politisch vermittelter Daseinsvorsorge gehören, ob sie sich nun im Lobbyismus der Großunternehmen verkörpern, in den sklerotischen Rängen der Volksparteien, in den Spitzen der Verwaltungsbehörden oder in den Schaumkronen massenmedialer Prominenz. Der Tendenz nach ist auch die Position der akademischen Linkspopulisten oligokratisch verfasst, wenn sie vorgeben, in ihren Schriften fänden die Sprachlosen und Ausgegrenzten der Gesellschaft zu ihrem Ausdruck. In Wahrheit drängen die akademischen wenigen den stillen vielen ungefragt ihre Dienste auf, und dies so gut wie nie zu deren Vorteil."

Im Interview mit der FR plädiert die Integrationsforscherin Naika Foroutan dafür, weniger über Migration und Migranten zu reden. Denn Integrationspolitik und der Streit um Teilhabe gehe in Wahrheit jeden an: "Zum postmigrantischen Wir gehören die Migranten dazu. Viele der Fragen, die wir anhand der Migranten, der Kinder und Kindeskinder von Migranten verhandeln, betreffen in Wahrheit noch ganz andere Gruppen der Gesellschaft. Und noch mehr: Sie betreffen im Kern unser Selbstbild als moderne Demokratie, die eben auf dem Grundsatz von Pluralität und Parität aufzubauen wäre. Zum Beispiel die Vermögensverteilung: Das reichste Prozent der Deutschen verfügt über ebenso viel Vermögen wie die 87 ärmeren Prozent der deutschen Bevölkerung. Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm. Das Problem der Teilhabe an der Gesellschaft, der Integration in sie, ist nicht nur eines der neu hinzugekommenen Migranten. Wir brauchen eine Integrationspolitik für alle."

Für Kleinvermieter kann der drohende Mietendeckel in Berlin problematisch werden. Im Freitag zuckt die Politische Ökonomin Mirjam Büdenbender nur die Schulter und fragt: "Wer sind diese Kleinvermieter, die in den vergangenen Jahren Wohnimmobilien in Berlin erworben haben? Und haben sie ein Recht auf Rendite aus dem Wohnungsmarkt? Auf die erste Frage gibt es keine klare Antwort. Mit Blick auf die Preisentwicklung ist aber anzunehmen, dass Menschen, die in den letzten Jahren eine oder mehrere Wohnungen in Berlin gekauft haben, über finanzielle Mittel verfügen und sich zusätzlich für Fremdfinanzierung qualifizieren." Und was das Recht angeht: "Das Argument für Wohneigentum als Mittel gegen Altersarmut beruht auf einer Dichotomie, die eine neoliberale Marktlogik reproduziert."
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Internet

Der Europäische Gerichtshof hat durch ein viel beachtetes Urteil festgelegt, wie Cookie-Banner zu handhaben sind, bei der Internetnutzer der Verarbeitung ihrer Daten zustimmen müssen. Alexander Fanta erläutert das Urteil bei Netzpolitik: "Das Urteil hat Auswirkungen für Deutschland: Das Bundeswirtschaftsministerium bereitet eine Änderung des Telemediengesetzes vor. Der Gesetzgeber möchte abgestimmt auf das EuGH-Urteil festlegen, wie deutsche Seitenbetreiber mit Cookies umgehen müssen. Einen Entwurf will das Ministerium noch im Herbst vorlegen. Die Entscheidung bedeutet aber nicht das Ende des Cookie-Banners. Das Gericht stoppt zwar die Zustimmung per vorangekreuztem Häckchen, Tracking durch Cookies bleibt aber grundsätzlich erlaubt."
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Gesellschaft

Müsste die Klimabewegung, statt alles vom persönlichen Steak abhängig zu machen, auch die CO2-freie Atomkraft neu in den Blick nehmen? Rainer Klute vom Verein Nuklearia e.V. (und ehemals Piratenpartei) findet ja, zumal sich die Technologie entwickelt hat, schreibt er in der Zeit: "Inzwischen gibt es moderne Reaktoren, die Energie aus bereits angefallenem 'Atommüll' gewinnen können. Allein aus den gebrauchten Brennelementen in den verschiedenen Zwischenlagern könnte Deutschland 250 Jahre lang komplett mit Strom versorgt werden. Die Reaktoren der sogenannten Generation IV würden damit nicht nur die Endlagerfrage lösen, sie würden auch die Menge des nutzbaren Urans um das 50- bis 80-Fache strecken, sodass es für Zehntausende Jahre Stromerzeugung reichen würde - und das alles klimafreundlich und emissionsfrei."

In Deutschland wird Wegschauen als Toleranz definiert, schreibt Necla Kelek in einem Kommentar, der in mehrere Zeitungen abgedruckt wurde: "Polygamie oder Verwandtenehen werden übersehen, man lobt lieber den Zusammenhalt auch von Großfamilien, ohne zu bemerken, dass diese Familien oft ein Gefängnis sind und Frauen und Kinder Gefangene von 'Vaters Staat', einem religiös legitimierten Patriarchat. Man spricht nicht von existenziellen Problemen, sondern lieber von Vielfalt, kultureller Diversität. Aber: Die Hälfte der Frauen, die in Deutschland wegen häuslicher Gewalt Zuflucht in Frauenhäusern suchen, haben vorwiegend muslimischen Migrationshintergrund. Es können jeden Tag junge Frauen und Männer, auch Kinder zwangsweise verheiratet werden."
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