9punkt - Die Debattenrundschau

Vornehmlich moralische Fragen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2019. Die Juden von Halle haben das Attentat nur deshalb überlebt, weil sie sich selbst geschützt hatten, wirft das Tabletmagazine deutschen Behörden vor. Die taz begibt sich auf Erkundungsreise durch die jüdischen Gemeinden in Deutschland, wo das Attentat als neue Qualität gesehen wird. Franziska Giffey schlägt zur Lösung des Problems im Tagesspiegel ein bisschen mehr staatliche Demokratieförderung vor. Die NZZ fragt sich, warum Klimaaktivisten so religiös reden, obwohl sie sich auf Wissenschaft berufen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.10.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

In Halle haben die Behörden "die Juden alleingelassen", schreibt  Andrew Mark Bennett in einem Artikel über das Attentat von Halle im Tabletmagazine - obwohl die Gemeinde zumindest für die Feiertage um Polizeischutz gebeten hatte. "In Halle blieb den Juden nichts anderes übrig als sich selbst zu retten. Dafür stützten sie sich auf das Sicherheitssystem der Synagoge, die von der Jewish Agency for Israel gespendet worden war, mit Unterstützung des Helmsley Charitable Trust. Diese Sicherheitskameras ermöglichten es den Juden im Inneren, schnell informierte Entscheidungen zu treffen, um an Ort und Stelle Schutz zu finden und die Türen zu verbarrikadieren. Der frustrierte Terrorist, der die Tür nicht öffnen konnte, hoffte laut, 'vielleicht kommen sie ja raus'. Dank des Sicherheitssystems war das nicht möglich."

Zum gleichen Thema schreibt Ariane Lemme in der taz: "Teil des Problems ist, dass sich uns nicht der Magen umdreht angesichts der Tatsache, dass es diesen Schutz überhaupt braucht." Drei taz-Reporter begeben sich auf Erkundung in jüdischen Gemeinden in Deutschland. Marian Offman von der jüdischen Gemeinde in München sagt: "Mein erster Gedanke, als ich von dem Attentat hörte, war, dass wir uns jetzt in eine neue Phase hineinbewegen, was den Antisemitismus und die Bedrohung der jüdischen Bevölkerung angeht.

Auch in den Schulen nimmt der Antisemitismus immer mehr zu, berichtet der Lehrer Rainer Werner in der Welt. Da paart sich oft der muslimische Antisemitismus mit linken antiisraelischen Affekten. "Während arabische Schüler Israel als 'Kindermörderland' verunglimpfen, argumentieren deutsche Schüler differenzierter, weil sie wissen, dass Judenhass in Deutschland ein Tabu darstellt: 'Gegen die Juden in Deutschland habe ich nichts, aber wie sich die Israelis in Palästina aufführen …' Als der ehemalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) die Politik Israels im besetzten Westjordanland ein 'Apartheitsregime' nannte, pflichteten ihm Schüler bei: 'Endlich mal einer, der es wagt, die Wahrheit zu sagen.' Diese Haltung kennen wir eigentlich nur von der extremen Rechten. Anscheinend schlummern ähnliche Ressentiments auch in den Köpfen junger Menschen, die sich dem linksliberalen Spektrum zuordnen und sich für tolerant halten."

Eher beunruhigend liest sich das Getöse der Leerformeln, das Bundesfamilienmiministerin Franziska Giffey im Tagesspiegel serviert. "Niemand stellt die Krebsvorsorge infrage. Genauso selbstverständlich muss es für uns sein, unsere Demokratie vor Angriffen zu schützen und zu verteidigen. Halle muss dafür der letzte Weckruf gewesen sein. Und wir fangen nicht bei Null an, sondern wir haben dafür ein europaweit einzigartiges Instrument: Das Bundesförderprogramm 'Demokratie leben!', mit dem die Bundesregierung seit 2015 Projekte zur Stärkung unserer Demokratie und zur Extremismusbekämpfung unterstützt, angefangen mit 40 Millionen Euro in 2015 mittlerweile mit über 100 Millionen Euro pro Jahr." Na, dann.

Den gegenwärtigen Irrsinn politischer Auseinandersetzung dokumentiert Götz Aly in seiner Kolumne für die Berliner Zeitung. Eine Studentin aus dem "RefRat" der HU (entspricht dem Asta) verklagt den Historiker Jörg Baberowski wegen eines Facebook-Posts, in dem er sie als dumm bezeichnete. Die ganze Auseinandersetzung liest sich bei Aly so: "Die Studentin Bafta Sarbo, hatte im September einen auf die aktuelle Berichterstattung der Bild-Zeitung bezogenen Tweet als 'sehr gut' bezeichnet, der frei nach Ulrike Meinhof so lautete: 'Wir sagen natürlich, die Springer-Journalisten sind Schweine, wir sagen, der Typ an der Tastatur ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen… und natürlich kann geschossen werden.' Baberowski bezeichnete das als unfassbar dumm, linksextrem und antidemokratisch. Worauf Frau Sarbo im Tagesspiegel verbreiten durfte: 'Wenn ich mir einmal so anschaue, mit was für Personen Herr Baberowski sich umgibt, bezweifle ich stark, dass er die Fähigkeit besitzt, zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten zu unterscheiden.'" Die taz berichtet hier über den neuen Streit um Baberowski.
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Überwachung

Eine an chinesische Verhältnisse gemahnende Überwachung von Arbeitnehmern am Arbeitsplatz wird in Deutschland immer üblicher, berichtet Alexander Fanta in Netzpolitik: "Bildübertragung über WLAN und Videokameras mit eingebauten Sim-Karten machen es einfacher denn je, die Beschäftigten ständig im Blick zu halten. Überwachungskameras werden inzwischen zum Dumping-Preis bei Discountern angeboten. Häufig ist Misstrauen gegenüber den eigenen Angestellten im Spiel. In einem Fall installierte eine Firma in Baden-Württemberg zehn Kameras am Werksgelände, die so gut wie alle Arbeitsplätze erfassten - eine faktische Dauerüberwachung."
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Europa

Paul Ingendaay schildert in der FAZ die verfahrene Lage in Katalonien, wo die Proteste immer gewalttätiger und der Dialog immer unmöglicher werden - und kein anderes Thema mehr zählt: "Die linke Feministin Lidia Falcón, inzwischen 83 Jahre alt, hat angemerkt, hinter dem katalanischen Separatismus stecke das Kapital, also das nackte Wirtschaftsinteresse. Klar ist jedenfalls, dass der Separatismus sich bis auf weiteres sämtliche anderen gesellschaftlichen Themen einverleibt oder als nutzlos beiseitegeschoben hat. Mann oder Frau, arm oder reich, grün oder schwarz - nichts davon zählt angesichts der nationalen Identitätsfrage."
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Stichwörter: Katalonien

Ideen

In der NZZ fragt sich Claudia Mäder, warum Klimaktivisten und -warner bis hin zum Uno-Generalsekretär António Guterres eine Sprache benutzen, die in ihrer bildlichen Aufgeladenheit fast religiös zu nennen ist: "Egal, wie stark unsere Sprache zum Bildhaften und Anthropomorphen neigt: Heute ist niemand mehr gezwungen, so zu reden. Wer es tut, trifft eine Wahl, und es ist bemerkenswert, dass Menschen in hochdekorierten Ämtern wie António Guterres sich dafür entscheiden - wo sie sich doch zugleich auf ein wissenschaftlich fundiertes Weltbild berufen. Innerhalb dieses vernünftigen Gefüges auf eine wütend agierende, zum richtenden Subjekt erhobene Natur zu treffen, ist dabei mehr als nur verwunderlich. Es ist absolut widersinnig, einerseits mit der Wissenschaft kritisch aufs 'Anthropozän' zu blicken und andererseits vor der vereinten Welt die Natur zu vermenschlichen. ... Indem der Uno-Generalsekretär von Strafaktionen der zürnenden Natur redet, unterstellt er, dass es zuvor aufseiten der Menschen ein schändliches Verhalten gegeben habe - und erweckt damit den Eindruck, dass wir vor vornehmlich moralischen Fragen stünden."
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