9punkt - Die Debattenrundschau

Einen Eigentümer kann man schließlich nicht entlassen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2019. "Heute fürchtet man die Zukunft und verklärt die Vergangenheit. Das Problem ist nur, welche Vergangenheit", fragt Ivan Krastev in der Welt. In taz und Standard verteidigt Berliner-Zeitung-Herausgeber Michael Maier den neuen Eigner der Zeitung, Holger Friedrich: Die Stasi war nur eine "Mini-mini-Episode". In der NZZ entwrift Zafer Senocak ein Szenario für eine post-erdoganistische Türkei. Der Guardian druckt eine Rede von Sacha Baron Cohen: Facebook hätte auch Reklame für Hitlers "Lösung der Judenfrage" gebracht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.11.2019 finden Sie hier

Medien

Kriegsreporter und vielleicht noch mehr -reporterinnen sind tollkühne Menschen, deren Arbeit oft nicht gewürdigt wird. In der NZZ porträtiert Karin A. Wenger die australisch-libanesische Reporterin Rania Abouzeid, Autorin des Buchs "No Turning Back - Life, Loss, and Hope in Wartime Syria", die für ihre Reportagen heimlich nach Syrien einreist: "Im Buch beschreibt Abouzeid eine Szene, die dem Leser wie ein Fresko an den Wänden des Gedächtnisses haften bleibt. Ein Spital in Sarakeb, Blutlachen am Boden, Schreie von Müttern, die ihre Söhne suchen, hallen durch die Gänge. Eine Krankenschwester schneidet das pinkfarbene, blutdurchtränkte T-Shirt eines kleinen Mädchens auf. In ihrem linken Auge ist ein Splitter, mindestens zwei stecken im Nacken, sie hat einen Schnitt unten am Kopf. Ein Arzt näht die Haut am kleinen Schädel zu. Es gibt kein Narkosemittel, ihr Vater hält ihre Hand, die Schreie des Mädchens füllen den Raum."

Alexander Nabert und Daniél Kretschmar haben für die taz mit Michael Maier gesprochen, Herausgeber der Berliner Zeitung, bei der er schon einmal Chefredakteur war und die "Maierschen Säuberungen" einiger ehemaliger Stasi-IMs zu verantworten hatte. Nun wurde bekannt, dass der neue Eigner der Zeitung, Holger Friedrich, ebenfalls Stasi-IM war, auch wenn er beteuert, niemandem geschadet zu haben. Heutzutage sei Maier zwar versöhnlicher, schreiben Nabert und Kretschmar: "Doch was bedeutet das heute für eine unabhängige Aufarbeitung, die schließlich zu einem vernichtenden Urteil über Holger Friedrich kommen könnte? Einen Eigentümer kann man schließlich weder entlassen noch degradieren. Holger Friedrich könnte trotzdem geschwächt aus der Affäre hervorgehen. Nicht unbedingt, weil er der Stasi zulieferte, sondern vielmehr, weil er diesen Teil seiner Biografie nicht von sich aus öffentlich machte."

Im Interview mit Birgit Baumann vom Standard verteidigt Maier den Eigentümer der Berliner Zeitung: "Friedrich hat länger im neuen Deutschland gelebt als in der DDR. Die Stasi war nur eine Mini-mini-Episode, nicht einmal zwei Jahre. Er hat sehr viel mehr gemacht. Er war Schlosser, Physiker, Software-Unternehmer und McKinsey-Partner. Er hat in einer äußerst schwierigen Lage glaubwürdig reagiert. Er hat die Redaktion bestärkt, dass die ehemalige Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde, Marianne Birthler, und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk die Angelegenheit untersuchen."
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Internet

Viel retweetet wird eine Rede, die der Comedian Sacha Baron Cohen vor der Anti-Defamation League (ADL) gehalten hat und in der er die sozialen Netzwerke scharf attackiert - der Guardian druckt sie ab: "All dieser Hass und diese Gewalt werden gefördert von einer Handvoll Internetfirmen, die zusammen die größte Propagandamaschine der Geschichte bilden... Nehmen wir die Frage der politischen Anzeigen. Glücklicherweise hat Twitter sie endlich verboten, und auch Google nimmt Änderungen vor. Aber Facebook wird, wenn du bezahlst, jede 'politische' Anzeige schalten, die du willst, auch wenn es eine Lüge ist. Und sie werden dir sogar helfen, diese Lügen mit Micro-Targeting an ihre Benutzer weiterzugeben, um einen maximalen Effekt zu erzielen. Diese verdrehte Logik hätte es Hitler in den Dreißigern erlaubt, 30-Sekunden-Videos über seine 'Lösung' der 'Judenfrage' zu schalten."
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Europa

Im Gespräch mit der Literarischen Welt erläutern Ivan Krastev und Stephen Holmes ihre Thesen zur Krise des Liberalismus aus ihrem Buch "Das Licht, das erlosch" und gehen damit weit in die Vergangenheit zurück. Nach vorne sehen, macht Krastev derzeit wenig Spaß: "Es gab 2018 eine europaweite Umfrage, bei der herauskam, dass in allen EU-Staaten eine Zweidrittelmehrheit der Meinung war, früher wäre das Leben besser gewesen, sogar die Mehrheit der unter Dreißigjährigen. Europa wurde erschaffen von Gesellschaften, die die Vergangenheit fürchteten und optimistisch in die Zukunft blickten. Heute fürchtet man die Zukunft und verklärt die Vergangenheit. Das Problem ist nur, welche Vergangenheit? Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinow arbeitet an einem Roman mit folgendem Plot: Die europäischen Führer können sich nicht über eine gemeinsame Zukunft einigen und verhandeln stattdessen über einen Zeitpunkt in der Vergangenheit, zu dem alle gemeinsam zurückkehren müssen. Darüber habe ich viel nachgedacht."

Zafer Senocak entwirft für die Meinungsseite der NZZ schon ein Szenario für  eine post-erdoganistische Türkei. Da müsste sich die säkulare Elite allerdings von dem militaristischen Erbe lösen, meint er. Aber dann: "Es sind am Bosporus in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche theoretische Konzepte auf den Tisch gekommen, welche die westlichen Prinzipien von Pluralismus und Rechtsstaat vor dem Hintergrund einer islamisch dominierten Kultur thematisieren und die Versöhnung von beidem möglich erscheinen lassen. Käme solches zustande, wäre dies nicht weniger als ein weltweit epochaler Schritt hin zum Frieden zwischen Kulturen und Religionen, denn die weltweit größte Unruhe entwächst sein Jahren schon dem Islam."
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Kulturpolitik

Richtig nett chaotisch ging's nach Andreas Fanizadeh von der taz bei einer Debatte über Kolonialkunst und die deutsche Kolonialherrschaft in Kameruns Hauptstadt Jaunde zu, wohin das Goethe-Institut Künstler aus verschiedenen afrikanischen Ländern plus Journalisten aus Deutschland einlud. Zum Beispiel war die Frage, ob die Weißen mit diskutieren sollten: "Die Trennung nach Hautfarben beim Diskutieren irritierte auch zunehmend diejenigen, die sie eigentlich zu verantworten hatten. Sind die Weißen sich etwa hier zu fein, mit den Afrikaner*innen zu debattieren? Die Handvoll vom Goethe-Institut als Beobachter*innen eingeladenen Pressevertreter aus Deutschland, viele von ihnen hellhäutig, sehen sich vorwurfsvollen Blicken ausgesetzt..."

Dresden will Kulturhauptstadt 2025 werden, berichten Michaela Maria Müller und Frédéric Valin in der taz: "Der Slogan 'Neue Heimat Dresden 2025' ist Ergebnis einer Bürgerbefragung, in der zunächst für Dresdner*innen wichtige Begriffe gesammelt wurden. Diese versuchte man dann in den Slogan aufzunehmen. Die Einschätzungen aus der freien Kulturszene zum Ergebnis fallen unterschiedlich aus. Inzwischen ist er in der ganzen Stadt plakatiert, es wird darüber diskutiert."
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Geschichte

Besprochen wird die Humboldt-Ausstellung im DHM in Berlin (SZ).
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