9punkt - Die Debattenrundschau

Was soll der Schwergewichtsboxer dann tun?

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2020. In Thüringen, mitten in Deutschland, ist die Mitte eingestürzt. Und überall (vor allem aber am einen Ende des Hufeisens) wird jetzt die so genannte "Hufeisentheorie" verabschiedet, bei Spiegel online von Margarete Stokowski, in der SZ von Gustav Seibt. Bei libmod.de erzählt der Historiker Jan Claas Behrends, wie die Geschichte in Russland schon sehr bald nach der Wende wieder von der Politik einkassiert wurde. Die NZZ ruft Juden, die gehen wollen, zu: "Bleibt hier, packt nicht die Koffer!"
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.02.2020 finden Sie hier

Ideen

Ganz neue Mode! Überall (das heißt vor allem am einen Ende des Hufeisens) wird jetzt die so genannte "Hufeisentheorie" verabschiedet, die mehr oder weniger besagt, dass sich die Extreme berühren. Vertreten wird der Begriff vom Politologen Eckhard Jesse als vulgarisiertes Modell der Totalitarismustheorie. Noch vor der Thüringer Affäre wurde der Begriff von Johannes Schneider in Zeit online (hier) für obsolet erklärt, neulich von Lothar Müller in der SZ (hier), dann von Maximilian Fuhrmann im Tagesspiegel (hier) und nun auch von der Spiegel-online-Kolumnistin Margarete Stokowski (hier), die die "Mitte" gleich mit verabschiedet: "'Mitte' ist, ähnlich wie 'bürgerlich', nicht mehr als eine hohle Phrase. Was sollte etwa die 'Mitte' sein zwischen der 'linken' Annahme, dass alle Menschen dieselben Rechte und Freiheiten haben sollten, dass Diskriminierung und Privilegien aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Sexualität und so weiter abgeschafft gehören ('links' in Anführungszeichen, weil das das Grundgesetz ist) und der rechten Annahme, dass - zum Beispiel - Leute mit bestimmter ethnischer Herkunft dümmer und unkultivierter sind als andere und Homosexualität 'unnatürlich' ist? Es gibt dazwischen keine Mitte."

Und auch Gustav Seibt sieht heute in der SZ die Theorie vom Hufeisen widerlegt. Er stellt im SZ-Feuilletonaufmacher die Geschichte des Begriffs dar. Und kommt ebenfalls zu dem Ergebnis: Auch die Mitte kann extremistisch sein, das habe schon Goethe gewusst. Am Ende gehe es doch nur um die Frage: "Wo sitzen die Kräfte, die den zivilisierten Streit überhaupt unmöglich machen wollen?"
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Europa

Einzelne EU-Länder bekommen oft nicht genug Rückhalt von der EU, wenn sie Probleme mit China haben, erzählt Charlie Duxbury in politico.eu im Blick auf den schwedischen Buchhändler Gui Minhai, der aus Thailand verschwand und in China wieder auftauchte, wo er wegen eines Verkehrsunfalls angeklagt wurde. Proteste wurden vom chinesischen Botschafter in Schweden als "Einmischung in innere Angelegenheiten" abgetan. "In einem Interview mit dem schwedischen Staatsfernsehen verglich er die schwedische Medienberichterstattung über den Fall Gui auch mit einem Leichtgewichtsboxer, der immer wieder ein Schwergewicht zu einem Kampf herausfordert und nicht zurückschreckt. 'Was soll der Schwergewichtsboxer dann tun?' Diese Kommentare lösten Bestürzung in Schwedens Politik, Diplomatie und Wirtschaft aus und wurden vom Außenminister als 'inakzeptabel' verurteilt." Viele Städte, so Duxbury, geben nun ihre Städtepartnerschaften auf - die EU habe bisher trotz einiger Äußerungen Ursula von der Leyens noch keine klare Position und lasse die Mitgliedsländer allein.

Wenn heute behauptet wird, Juden könnten in Deutschland wegen des wachsenden Antisemitismus nicht mehr leben, dann stellt sich die Frage, wo sie denn hingehen sollen, meint Burkhard Liebsch mit Blick auf die Anschläge in Halle in der NZZ. Denn Antisemitismus hat mit dem Judentum, wie es real existiert, nichts zu tun. Und das wiederum bedeutet: "Jeder kann durch andere willkürlich zum 'Juden' erklärt werden, ohne einer zu sein. Aus der Erfahrung der Juden entspringt eine allgemeine Einsicht, die jedermann betrifft. Sich über diese Einsicht klarzuwerden, muss und kann nicht darauf hinauslaufen, sich etwa den besonderen Schmerz derer, die dem Antisemitismus zum Opfer gefallen sind, irgendwie zu eigen machen zu wollen. Dennoch möchte man ihnen zurufen: Bleibt hier, packt nicht die Koffer! Anderswo drohen die gleichen Probleme. Und sie drohen auch allen anderen, Nichtjuden. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Leichtigkeit, mit der sich der Attentäter von Halle sozusagen ersatzweise zwei andere Opfer suchen konnte, nachdem er, offenbar frustriert, realisiert hatte, dass die Tür zur Synagoge nicht nachgeben würde. So wie es ihm im Grunde vollkommen egal war, wer sich dahinter befand, Männer, Frauen, Kinder, so war es ihm vollkommen gleichgültig, wer an deren Stelle für seinen Hass herhalten sollte."
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Geschichte

Schon ziemlich bald nach dem Mauerfall gab Russland die Idee der Vergangenheitsbewältigung auf und unterstellte die Geschichte wieder der Politik, schreibt der Historiker Jan Claas Behrends bei libmod.de: "Kaum jemand wollte erfahren, wie der Fleischwolf genau funktionierte, durch den die russische Gesellschaft für Jahrzehnte gedreht wurde. Die Verstrickungen waren komplex. In derselben Familie konnte es Täter und Opfer geben, die eigene Biografie konnte zugleich die eines Täters und Opfers sein. Deshalb fokussierte sich die staatliche Geschichtspolitik bereits unter Boris Jelzin auf das eine Ereignis, im dem die Rollen klar verteilt schienen: der Zweite Weltkrieg oder in sowjetischer Diktion, der 'Große Vaterländische Krieg'. Hier gab es Invasoren und Befreier, Verteidiger der Heimat kämpften gegen ruchlose Kriegsverbrecher. Außerdem verschwand hinter dem Heroismus der Terror der dreißiger Jahre."
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Politik

Die taz-Kolumnistinnen Ronya Othmann und Cemile Sahin, beide kurdischer Herkunft, schreiben: "Ohne einen Staat für die Kurden" (zu denen sie "Atheisten, Aleviten, Christen, Juden, Eziden, Zorastrier, Yaresan, Shabak, Sunniten, Schiiten" zählen)  gebe es keine Stabilität: "Oft wird gesagt, ein kurdischer Staat würde zur weiteren Destabilisierung der Region beitragen, sieht man sich aber die Länder an: 1. Türkei - Islamofaschismus, 2. Syrien - Bürgerkrieg, 3. Irak - Failed State, 4. Iran - islamistische Diktatur: Dann ist die Region alles andere als stabil."

Früher waren die Faschisten Vorbilder für den Hindu-Nationalismus, heute ist es um gekehrt, schreibt der Historiker Don Sebastian bei geschichtedergegenwart.ch: "Tatsächlich hat Indien die weltweit zweitgrößte muslimische Bevölkerung. Ihre Kultur und Geschichte haben das Land genauso geprägt wie der Hinduismus oder die britische Kolonialzeit. Das historische Narrativ der Eroberung und Herrschaft des indischen Subkontinents durch die Muslime und der damit einhergehenden Unterwerfung der Hindus während der Mogul-Zeit hat die Hindutva-Politik massgeblich geprägt. Immer wieder taucht in der Rhetorik der Hindu-Nationalisten das Motiv der Restauration einer glorreichen, antiken Hindu-Kultur auf. Dafür müssen erst einmal die Symbole der muslimischen Vergangenheit verschwinden."
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