9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn sich die Seerosen jeden Tag verdoppeln

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2020. Sollen sich die Alten in freiwillige Quarantäne begeben? Die taz zitiert Stimmen, die das fordern - auch weil ihre Generation den Klimawandel zu verantworten hätte. Auch über China wird gestritten: Der Guardian zeichnet das Versagen der Behörden in den ersten Wochen  nach, aber der Mediziner Paul Robert Vogt warnt in einem viel retweeteten Artikel in der Mittelländischen vor "dümmlichem China-Bashing". Die Rolle der Medien in der Krise ist ebenfalls umstritten. Steven Pinker rät in der NZZ trotz allem zu Optimismus und zur Schulung des Kopfes.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Heike Haarhoff hatte in der taz Ende März gefordert, die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus wissenschaftlich zu begleiten (unser Resümee). Daraufhin hätten sich viele ältere Leute bei ihr gemeldet, berichtet sie nun in einem zweiten Artikel. Sie hätten vorgeschlagen, dass Ältere sich in freiwillige Quarantäne begeben, damit die Jüngeren wieder ihren Tätigkeiten nachgehen könnten. Sie zitiert etwa aus einem Brief der Leserin Marianne Erlenbruch: "Dass Unmengen von Menschen in die Vernichtung ihrer materiellen Existenz getrieben werden durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Insolvenz etc. Während wir, die Alten von heute, die reichste Rentner- und Pensionärsgeneration sind, die Deutschland je hatte! Die Alten, die luxuriöse Kreuzfahrten machen und in eigenen Immobilien leben. Die über Alterseinkünfte verfügen, die oftmals exorbitant über dem mageren Einkommen alleinerziehender Mütter liegen. Die den Jungen eine klimaverwandelte Erde hinterlassen, auf der diese kaum noch überleben können. Wir schämen uns für unsere reiche Altengeneration, die die Jungen über jedes erträgliche Maß hinaus belastet."

Ähnlich folgert Michael Maier, Herausgeber der Berliner Zeitung: "Statt Geheimhaltung ist maximale Transparenz aller Daten erforderlich. Das ist anonymisiert und in großer Schnelligkeit über das Internet möglich... Die Gelder, die man nun in Unternehmen stecken muss, die durch die Maßnahmen in die Pleite getrieben werden, wären wesentlich besser verwendet, würde man Pflegeeinrichtungen und Altenheime wirksam finanzieren und menschenwürdig schützen." Und was machen wir mit denen, die nicht freiwillig in Quarantäne gehen?

Die transparenten Daten der Johns-Hopkins-Universität heute: in Frankreich gibt es jetzt 13.000 Tote, in Spanien 16.000, in Italien 19.000, allein in der Region New York 6.000.
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Politik

Wer China für Corona verantwortlich macht, irrt, beteuert Andrew Liu im Guardian. Denn nicht die Kultur, die Globalisierung war's gewesen. "Es stimmt zwar, dass Pangolin-Schuppen und -fleisch auf dem chinesischen Festland als eine Art Volksmedizin angepriesen werden, aber Statistiken deuten darauf hin, dass die wirkliche Schlüsselvariable die Auswirkungen der Globalisierung sind, die die Geschäftsleute des Landes bereichert haben. Die Preise für das Tier sind von 14 Dollar pro Kilo im Jahr 1994 auf heute über 600 Dollar gestiegen, während illegale Lieferungen, die an der Grenze beschlagnahmt werden, regelmäßig zehn Tonnen überschreiten. Kunden, die Wildtiere ordern, tun dies oft, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen oder einen guten Tag an der Börse zu feiern. Aber sie bleiben eine Minderheit: Die meisten Chinesen befürworten strenge Beschränkungen, wenn nicht gar ein Verbot des Konsums von Wildtieren. Der wiederauflebende Pangolinkonsum ist also ein Ergebnis der wirtschaftlichen Liberalisierung in China - für die sich die USA eingesetzt haben - und nicht einfach der traditionellen Kultur." Uff, das war eine lange Beweiskette, aber nun ist der übliche Schuldige überführt.

Etwas anders sieht es Lily Kuo, die ebenfalls für den Guardian ausführlich in Wuhan recherchiert hat: "Peking behauptet, dass seine strengen Sperrmaßnahmen der Welt Zeit verschafft hätten, die von den Gesundheitsbehörden anderer Länder verschwendet worden sei. Doch Interviews mit den ersten Patienten, medizinischem Personal und Anwohnern sowie durchgesickerte interne Dokumente, Berichte von Informanten und Forschungsstudien zeigen Verzögerungen in den ersten Wochen der Epidemie, Fehler der chinesischen Regierung, die weitreichende Konsequenzen hätten."

In einem viel retweeteten Artikel für die Mittelländische in der Schweiz lobt dagegen der Schweizer Mediziner Paul Robert Vogt das chinesische Einschreiten gegen Corona und kritisiert das Verhalten Europas: "Politik und Medien spielen hier eine besonders unrühmliche Rolle. Statt sich auf das eigene Versagen zu konzentrieren, wird die Bevölkerung durch ein fortgesetztes, dümmliches China-Bashing abgelenkt. Dazu kommen, wie immer, Russland-Bashing und Trump-Bashing. Man muss Trump keinesfalls mögen - aber bis die USA bezüglich der COVID-19-Todesfälle pro Kopf gleichauf mit der Schweiz liegt, müssen sie 30.000 Tote haben." Sehr scharf kritisiert Vogt das teure Schweizer Gesundheitssystem, das nicht verhindern konnte, dass die Schweiz heute in Europa die zweithöchste Infektionsrate pro Kopf hat.

Die Corona-Krise führt zu Ausschreitungen gegen Ausländer in der Zentralafrikanischen Republik, berichtet Jack Losh im Guardian: "Seit im vergangenen Monat ein italienischer Missionar als erster Coronavirus-Fall in der ZAR identifiziert wurde, ist die Fremdenfeindlichkeit auf dem Vormarsch. In den Zeitungen des Landes und in den sozialen Medien verbreitete Geschichten haben Ausländer als unwillkommene Importeure einer Krankheit porträtiert, die das Land weiter verarmen lassen könnte."
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Kulturmarkt

Ist freien Autoren durch die öffentlichen Gelder wirklich geholfen worden? Der Buchreport zitiert ein Papier des zu Ver.di gehörenden "Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller" (VS), das Nachbesserungen fordert. "Die vom VS beklagten Punkte: Schriftstellern ist mit Liquiditätshilfen, die nur für Geschäftsmiete und Leasingraten gedacht sind, nicht geholfen. Die Umsetzung ist in vielen Bundesländern erratisch gewesen. Welche Bedingungen für Förderung im Rahmen der Corona-Hilfe gelten, ist an manchen Stellen täglich verändert worden. Anpassungen erfolgten meist zum Nachteil der freien und soloselbständigen Antragsteller. In den meisten Bundesländern fallen dadurch viele Schriftsteller durch das Netz der Unterstützungsfonds. Vielen von ihnen bleibt aktuell nur, das erleichterte Arbeitslosengeld II zu beantragen."
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Stichwörter: Coronakrise, Corona, Corona-Hilfen

Ideen

Fürs Einkommen freier Künstler vielleicht nicht so. Aber für die Kreativität ist die Stille gut, schreibt Manfred Schneider, emeritierter Professor für deutsche Literaturwissenschaft, in der NZZ: "So kehren in diesen Tagen der Menschenleere die publikumslosen Künste in eine Art kreatives Frühstadium zurück. Es wird ihnen nicht schaden. Denn aus dieser Kafka-Stille und Kafka-Nacht kommen die Innovationen, die Erfindungen, die ästhetischen Revolutionen."

Im Interview mit der NZZ ermuntert der Psychologe Steven Pinker, angesichts von Corona den Kopf nicht hängen zu lassen, sondern ihn lieber zu schulen. Zum Beispiel um zu verstehen, was genau exponentielles Wachstum ist: "Die mächtigste im Falle des Coronavirus ist zweifellos der 'exponential growth bias'. Wir können uns nicht auf unser Gefühl verlassen auch nicht auf das, was unser Gehirn vorrechnet - die Ansteckungsraten verlaufen nicht linear, sondern exponentiell. Für solche Intuitionen ist unser Organismus nicht gemacht. Wir brauchen Modellrechnungen und Mathematik, um zu verstehen, was in solchen Fällen geschieht. Kennen Sie den Cognitive Reflection Test, den kürzesten Intelligenztest der Welt? ... Eine der Fragen ist die folgende: Wenn sich die Seerosen jeden Tag verdoppeln und der See nach 48 Tagen komplett mit Seerosen bedeckt war, wie lange hat es gedauert, bis er zur Hälfte bedeckt war?"

Außerdem in der NZZ: Plötzlich gibt es wieder eine formbare Zukunft - auch ein Ergebnis der Corona-Krise, meint der Kulturtheoretiker Jan Söffner. Und der Philosoph Maurizio Ferraris nutzt die Krise, über die Bedingungen des Menschseins im digitalen Zeitalter nachzudenken.
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Medien

Steffen Grimberg feiert in der taz die erhöhten Einschaltquoten der öffentlich-rechtlichen Sender (auch die Zeitungen und auch Internetmedien wie der Perlentaucher können von höherer Nutzung berichten, aber was soll's) und fordert gleich ganz in ihrem Sinne eine Ausweitung ihrer Befugnisse: "Womit wir endlich beim Thema wären: Was macht eigentlich die Medienpolitik? Sie hat die geplante Reform des öffentlich-rechtlichen Systems und seiner Finanzierung überwiegend verstolpert. Ja, es gibt Fortschritte beim 'Medienstaatsvertrag', der ARD, ZDF und Deutschlandradio neue, erweiterte Möglichkeiten im Netz eröffnet. Sie waren lange überfällig. Und sind schon jetzt durch die Coronakrise und die in ihr freigesetzte Kreativität auch in den Anstalten teilweise schon wieder überholt."

Die Medienwissenschaftler Klaus Meier und Vinzenz Wyss kritisieren die Corona-Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien in Deutschland und der Schweiz bei Meedia: "Die Medien berichteten weitgehend ohne Distanz im Einklang mit der Kommunikation des Bundes und der Bundesländer. Sie transportierten eher kritiklos und kaum mit eigenen Recherchen flankiert die Analysen und Forderungen weniger dominanter Virologen und die Entscheidungen der Regierungen. In Deutschland wurde die Wegnahme grundlegender Freiheitsrechte in journalistischen Kommentaren größtenteils gefeiert oder sogar noch mehr davon gefordert."

Keine bella figura machen derzeit unsere Intellektuellen und Denker, meint Josef Joffe in der NZZ. "Das totalitäre Monstrum des 20. Jahrhunderts hat der Westen abgeschüttelt. Nun wird die chinesische Variante als Vorbild im Virus-Krieg gefeiert, derweil die Demokratien blind und tumb durch die Menschheitskrise torkelten. Auf der entgegengesetzten Seite sind die Händler der Angst aufmarschiert. Diese Meisterdenker sehen im Machtstaat nicht den Erlöser, sondern den Usurpator. Der werde den Notstand einbetonieren. Sozusagen: 'Ein Volk, ein Reich, ein Heiler.' Descartes, für den Ideen 'clare et distincte' - 'klar und deutlich' - sein mussten, ist schon lange tot, jedenfalls im postmodernen 'anything goes'. Seine Möchtegern-Erben parlieren, raunen und stellen bedeutungsschwere Fragen, die sie nicht beantworten."
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