9punkt - Die Debattenrundschau

Die drei Cs

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2020. Nach der Wahlparty wird jetzt so langsam aufgeräumt. Kamala Harris ist zwar "nichtweiß", aber kann das den "Unterprivilegierten" reichen, fragt die taz. Aber so knapp hat Biden gar nicht gewonnen konstatiert Zeit online. Timothy Garton Ash sieht die USA künftig als Primus inter pares in einem Netzwerk von Demokratien, aber nicht mehr als Supermacht. Den Corona-Leugnern, die am Wochenende am Rand des Vulkans tanzten, gibt Christian Drosten laut SZ zu bedenken: "Je mehr ich mich als Individuum aus freien Stücken verantwortlich verhalte, desto weniger Anlass gebe ich dem Staat, ins gesellschaftliche Leben einzugreifen."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.11.2020 finden Sie hier

Politik

So knapp hat Joe Biden gar nicht gewonnen, konstatiert Mark Schieritz auf Zeit online, dass man ihn jetzt schon eine "lame duck" nennen oder seinen Sieg kleinmachen kann, wie Naomi Klein es beispielsweise im Guardian tut. "Biden wird, wenn alle Wahlzettel ausgewertet sind, Schätzungen zufolge knapp 82 Millionen Stimmen auf sich vereint haben. Das ist der höchste Stimmenanteil aller Zeiten in den Vereinigten Staaten. Den bisherigen Rekord hielt Barack Obama mit 69,5 Millionen Stimmen. Der Abstand zu Donald Trump dürfte dann bei vier bis sechs Prozentpunkten liegen. Das ist in einem politisch gespaltenen Land beachtlich. Zum Vergleich: Die Bürger Großbritanniens haben sich im Jahr 2016 mit 52 zu 48 Prozent für den Brexit entschieden, was damals weithin als recht eindeutiges Votum interpretiert worden war. Wenn der US-Präsident nach einer einfachen Mehrheitsregel bestimmt würde, dann hätte Trump gegen Biden keine Chance gehabt." Doch auch bei den Wahlmännern sei Bidens Sieg eindeutig: Statt der benötigten 270 kommt er auf 279 sicher und, wenn er Georgia und Arizona auch noch gewinnt, auf 306. "Genauso viele hatte Trump 2016 erreicht, und das ist damals vor allem in den konservativen amerikanischen Medien als Erdrutschsieg gefeiert worden."

Donald Trump kann die Wahl immer noch "mit Tricks und Tücken" an sich reißen: "Die US-Verfassung und die Wahlgesetze geben ihm dazu Möglichkeiten", warnt Stefan Kornelius in der SZ und malt die möglichen Szenarien aus.

Kamala Harris ist zwar "die erste nichtweiße Person, die das zweitwichtigste Amt der USA besetzt", aber es gibt doch einiges an ihr auszusetzen, findet Gunnar Hinck in der taz, denn trotz ihrer Hautfarbe sei sie womöglich nicht links genug: "Im Gegenteil dürfte Kamala Harris mit ihrem auf Selbstoptimierung getrimmten Habitus und ihrer auf persönlichen Ehrgeiz fixierten Programmatik - 'Dream with ambition!' appellierte sie in ihrer Siegesrede am Samstag an junge Frauen - bei den Unterprivilegierten das Gefühl auslösen, dass der Wille zum Aufstieg sowieso zwecklos sei: weil sie nicht die nötige elaborierte Sprache sprechen, weil sie nicht in die 'richtige' Familie hineingeboren wurden..."

Auch ein Präsident Joe Biden wird die Deutschen auffordern, ihr Verteidigungsbudget zu erhöhen, und er wird die Nord-Stream2-Pipeline bekämpfen, ist sich Richard Herzinger in seinem Blog sicher: "Aber in diametralem Gegensatz zu Trump wird Biden diese Forderungen im Kontext einer substanziellen Stärkung des transatlantischen Bündnisses durchzusetzen versuchen, und nicht um den Preis seiner Zerstörung. Denn Biden vertritt diese Forderungen nicht aus der Perspektive eines bornierten 'America-First'-Nationalismus, sondern weil sie nach seiner zutreffenden Überzeugung im gemeinsamen Interesse aller demokratischen Nationen liegen."

Die Vereinigten Staaten werden ein "führendes Land in einem posthegemonialen Netzwerk von Demokratien sein", hofft Timothy Garton Ash im Guardian. Eine Supermacht aber nicht mehr, schon  weil Trump nach innen die Schwächen der amerikanischen Demokratie offenbart habe. Außenpolitisch ist mehr Hoffnung, findet TGA: Biden "verfügt über ein erfahrenes außenpolitisches Team. Mitglieder dieses Teams bezeichnen ihre größten strategischen Herausforderungen als die 'drei Cs': Covid (einschließlich seiner globalen wirtschaftlichen Nachwirkungen), Climate Change und China. Das ist eine Agenda, auf die sich die Verbündeten in Europa und Asien gerne einlassen können. Die Wiederaufnahme in das Pariser Klimaabkommen, das die USA am Mittwoch formell verlassen haben, wird ein wichtiger erster Schritt sein."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Viel Kritik gibt es an der Demonstration der "Querdenker" in Leipzig am Wochenende. Dort hatten Zehntausende Menschen größtenteils ohne Abstand und Maske gegen die Coronaregeln demonstriert, berichtet Zeit online. Dass hier für "Freiheit" demonstriert worden sei, weist Cornelius Pollmer in der SZ entschieden zurück: "Wer im Lockdown-light-Monat November bundesweit für ein öffentliches Gedränge mobilisiert, wer sich in diesem Gedränge auch noch frei und überlegen fühlt, weil er oder sie keine Maske trägt, der kämpft vielleicht für seine eigene Freiheit - Freiheit im Sinne von Egoismus. Die Freiheit aller anderen aber gefährdet man mindestens mittelbar, insbesondere deren Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." Unverständlich findet Pollmer auch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bautzen, das die Demo im Zentrum Leipzigs zugelassen hatte.

Versagt hat auch die Polizei, findet Julius Geiler im Tagesspiegel: "Von der Polizei unbegleitete Hooligan-Gruppen jagten Journalisten durch die Stadt, Einsatzkräfte wurden mit Flaschen und Pyrotechnik beworfen, mehrfach wurden Polizeiketten durchbrochen. Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union sprach am Sonntag von 38 Medienvertretern, die in Leipzig an ihrer Arbeit gehindert worden seien - neun davon durch Polizeibeamte. Zudem habe man eine völlig neue Dimension der Gewalt beobachtet, heißt es von Seiten der Gewerkschaft."

Die Neonazis haben bei der Demo ein größere Rolle gespielt, als die Veranstalter offiziell zugeben möchten, beobachtete Henrik Merker für Zeit online: "Nach außen hin grenzt sich Querdenken von den Neonazis und Hooligans ab. In den Flyern, mit denen die Bewegung zur Teilnahme aufrief, distanzierte sie sich von Extremismus aller Art. In Reden und Chatgruppen werden Rechtsextreme hingegen regelrecht eingeladen - unter dem Verweis, man dürfe sich als deutsches Volk nicht spalten lassen. Der aufrührerische Verlauf der Versammlung war vorbereitet."

Marie Schmidt hörte für die SZ die Schillerrede des Virologen Christian Drosten und nahm für sich, aber auch für die Querdenker da draußen folgendes mit: "So sehr Drosten immer wieder darauf besteht, dass ihn als unabhängigen Akademiker nichts zu regulatorischen Maßnahmen legitimiert - unpolitisch kann man nicht nennen, wie er sich die Folgen seines Wissens vorstellt. In der Pandemie zeige sich nämlich: 'Je mehr ich mich als Individuum aus freien Stücken verantwortlich verhalte, desto weniger Anlass gebe ich dem Staat, ins gesellschaftliche Leben einzugreifen. Je unbedachter und egoistischer ich aber handle, desto eher muss der Staat meine Freiheit beschränken, um das Gemeinwesen wie auch das Wohlergehen der anderen Menschen wirksam zu schützen.'" Die ganze Rede Drostens kann man bei Zeit online lesen.
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt antwortet in der FAZ auf den Artikel "Ohne Aura" von Herfried Münkler, Hans Walter Hütter und Peter Cachola Schmal, die sich eine hübschere Paulskirche wünschen (unser Resümee). Pehnt verteidigt das Bauwerk in seiner heutigen, kargen Großartigkeit: "Es wird als Ausdruck 'radikaler Bußhaltung' schlechtgemacht, statt als Spiegelbild eines neuen, zweiten Aufbruchs in eine gelebte Demokratie empfunden zu werden. Denn die Paulskirche hat nicht nur eine große Vergangenheit, die des ersten gewählten Parlaments, sondern deren zwei: 1848 und 1948. Der vermutete Abstand zur Nationalversammlung sollte nicht zu einem Abstand zu jener Staats- und Lebensform führen, der das Gehäuse in seiner jetzigen Gestalt dient und wir mit ihm."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Patricia Hecht wundert sich in der taz überhaupt nicht, dass sich die Bundesregierung "mucksmäuschenstill" zum totalen Verbot von Abtreibung in Polen verhält: "Denn was sollen Vertreter:innen der Bundesregierung schon sagen? Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland illegal, wenngleich in den ersten drei Monaten unter bestimmten Umständen straffrei. Die Rechte des Embryos gegenüber denen der Schwangeren gehen vor... Über einen sicheren, legalen Schwangerschaftsabbruch dürfen Ärzt:innen in Deutschland auch nach der Reform des Paragrafen 219a nicht einmal öffentlich informieren. So gern sich die Bundesregierung als Verteidigerin von Frauenrechten geriert, so schwierig wären unter diesen Voraussetzungen argumentative Einwände gegen die polnische Politik."

Im Gespräch mit der NZZ kritisiert Thomas Römer, Leiter des Collège de France, den Stellenwert von Religion in der französischen Bildungspolitik und die Laizität: "Man verstehe mich nicht falsch: Ich bin ein Verfechter der Laizität, natürlich muss der Staat neutral sein, und die Religion zu lobpreisen, liegt mir fern. Nur glaube ich, dass Religion einfach keine reine Privatsache ist. Sie ist ein Teil des öffentlichen Diskurses, sie hat die Geschichte und die Gegenwart stark beeinflusst, sie im Guten wie im Schlechten geprägt. In meinen Augen wäre es deshalb sehr wichtig, zumindest gewisse Grundkenntnisse über die Religionen zu vermitteln und eben nicht alles ins Private abzuschieben."

Ebenfalls in der NZZ antwortet der Theologe Jan-Heiner Tück auf einen Artikel Giorgio Agambens, der den Kirchen ein Versagen in der Coronakrise vorgeworfen hatte (unser Resümee). "Die Begleitung von Covid-19-Patienten birgt ein hohes Risiko, gegen das man sich wappnen muss. Das als Hygienismus abzutun, ist nicht vernünftig. Umgekehrt liegt Agamben nicht ganz falsch, wenn er bemängelt, dass es Situationen gegeben hat, in denen die Kirche aus Angst vor Ansteckung Kranke und Sterbende sich selbst überlassen hat. Selbst in kirchlichen Spitälern soll Menschen der Besuch ihrer sterbenden Angehörigen verweigert worden sein. Das sind ethische Kollateralschäden, die nachdenklich stimmen und Änderungen verlangen."
Archiv: Europa