9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser diebische kleine Mann in seinem Bunker

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2021. Alexei Nawalny ist zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Zeit online fragt, ob er nun zu einem Symbol wie einst Nelson Mandela werde. Ebenfalls auf Zeit online erklärt ein russischer Lehrer, warum er für Nawalny demonstriert. Das Online-Portal Meduza bringt Nawalnys Statement beim Prozess auf Englisch. Julia Reda antwortet bei Netzpolitik auf Mathias Döpfner, für den die Demokratie am Ende ist, falls er nicht allein trackingbasierte Werbung machen darf. Die Überwachung der AfD durch den Verfassungsschutz wäre ein Desaster für die Partei, meint der Rechtsextremismus-Experte Alexander Häusler in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.02.2021 finden Sie hier

Politik

Ein BBC-Team spricht mit der Uigurin Tursunay Ziawudun, die von systematischen Vergewaltigungen in Lagern in Xinjiang berichtet - sie selbst konnte nach Amerika fliehen. Sie sei mehrfach von Männern in Zivilkleidung vergewaltigt worden. Ihre Erzählung lässt sich nicht hundertprozentig belegen, aber alle Ortsangaben und Angaben über Lager, die sie machte und die sich verifizieren ließen, stimmen, so die Reporter: "Einige der Frauen wurden nachts aus den Zellen geholt, und manche kamen nie zurück, erzählt Ziawudun. Den Frauen wurde eingeschärft, den anderen nicht zu sagen, was mit ihnen geschehen ist. 'Man kann niemandem etwas erzählen, man kann sich nur still hinlegen', sagt sie. 'Sie tun es, um den Geist der Menschen zu zerstören.'"
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Europa

Alexej Nawalny ist wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen - weil er nach Deutschland geflogen wurde, um ihn vor seiner Vergiftung zu retten - zu über zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Das Internetmagazin Meduza stellt eine englische Übersetzung seines Statements im Prozess online: "Die Erklärung liegt im Hass und der Angst eines Mannes, der sich in einem Bunker versteckt. Ich habe ihn tödlich beleidigt, weil ich überlebt habe. Ich überlebte dank guter Menschen, dank Piloten und Ärzten. Und dann beging ich ein noch schwereres Vergehen: Ich lief nicht weg und versteckte mich. Dann geschah etwas wirklich Schreckliches: Ich nahm an den Ermittlungen zu meiner eigenen Vergiftung teil, und wir bewiesen tatsächlich, dass Putin mit Hilfe des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes für diesen Mordversuch verantwortlich war. Und das treibt diesen diebischen kleinen Mann in seinem Bunker in den Wahnsinn."

Der Kreml ist "in Sachen Polittechnologie auch nicht mehr, was er mal war, seit Wladimir Putin seinen erfindungsreichsten und skrupellosesten Ideologen und Berater ... entließ", meint Sonja Zekri in der SZ angesichts der plumpen Einschüchterungsversuche der Opposition in Russland. "Wladislaw Surkow hatte Parteien, Jugendorganisationen und politische Fantasieattribute wie die 'souveräne' Demokratie erfunden, er hat Medien und Kreml-Gegner manipuliert. Das Ergebnis seiner Rochaden und Maskeraden war neben einer Machtvertikale ein Branding, das Putin für alle Schichten und jedes Alter anschlussfähig machte. Diese virtuosen Ränkespiele der Autokratie sind unbeholfeneren Methoden gewichen." Wirklich schaden wird es Putin aber dennoch nicht, fürchtet sie.

Wird Alexej Nawalny der Nelson Mandela Russlands? Ausgemacht ist das nicht, aber Maxim Kireev hegt auf Zeit online leise Hoffnungen. Denn "in der russischen Gesellschaft wirkt das Urteil fast wie ein kleiner Ritterschlag für Nawalny, der in Russland zuletzt an Beliebtheit gewonnen hat, obwohl er umstritten bleibt. Die Propaganda hatte ein leichtes Spiel, dem Oppositionellen vermeintlich unlautere Motive oder Verbindungen zu ausländischen Geheimdiensten vorzuwerfen. Nach dem freiwilligen Gang ins Gefängnis, zu dem seine Rückkehr nach Russland nun geworden ist, wirken diese Vorwürfe haltloser denn je. Für die einfachen Russen beweist die Gefängnisstrafe nur Nawalnys Redlichkeit und macht ihn dadurch beliebter."

Welchen Mut immer wieder einzelne Menschen aufbringen, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu demonstrieren, zeigt uns auf Zeit online Irina Chevtaeva, die Stimmen von Demonstranten in Russland gesammelt hat. Darunter ist ein Schullehrer, der erzählt: "Am 23. Januar protestierte ich in meiner Kleinstadt für die Freilassung von Alexej Nawalny. Ich stand ganz alleine auf dem Hauptplatz neben dem Lenin-Denkmal mit meinem Plakat. Ich hatte große Angst. Vorher habe ich mich sehr oft gefragt: 'Soll ich wirklich demonstrieren?Ä Aber die Antwort ist klar. Ich habe viele Gründe. Ich bin für Gerechtigkeit und ich möchte meinen Schülerinnen und Schülern ein Vorbild sein. Auf der Arbeit habe ich eine Rüge bekommen. Meine Kollegen haben in den sozialen Netzwerken von meinem Protest erfahren. Bei einem zweiten Verweis werde ich entlassen. Außerdem kam die Polizei zu mir nach Hause und warnte mich, nicht mehr an den Aktionen teilzunehmen, sonst würden sie ein Verfahren gegen mich eröffnen."

Auch in der Türkei werden Oppositionelle massiv bedroht. Die Regierung Erdogan tun das allerdings nicht direkt, sie stachelt einfach andere dazu auf und lässt sie straffrei, erklärt Can Dündar mit vielen Beispielen auf Zeit online. "Ein Grund für diese plötzliche und gefährliche Eskalation liegt darin, dass Erdoğan von Monat zu Monat in den Umfragen weiter zurückfällt. Wären heute Wahlen, würde der Stimmenanteil des Regierungsblocks wohl nicht zur Wiederwahl Erdoğans ausreichen. In Meinungsumfragen liegen die beiden Bürgermeister von Ankara und Istanbul, deren Sterne im Aufstieg befindlich sind, erstmals mit Erdoğan gleichauf."

Sowohl das belarussische Regime als auch die Opposition bedienen sich mit teilweise recht zweifelhaften Referenzen aus dem Symbolfundus der Geschichte, um die Gegenseite des "Faschismus" zu beschuldigen, schreibt Felix Ackermann in der FAZ. Oppositionelle zeigten sich vor der Holocaustgedenkstätte Jama mit Davidsternen, so Ackermann: "Die Leute, die jetzt an der 'Jama'-Grube mit weiß-rot-weißem Davidstern gegen staatliche Verfolgung protestieren, scheinen tatsächlich zu glauben, dass sich ein Genozid anbahnt. Doch statt sie an die Konvention der Vereinten Nationen zu erinnern, wonach diese Definition nicht zutrifft, sollte man die Chiffre 23.34 als Hilferuf verstehen, der sich auch an die europäische Öffentlichkeit richtet: Seht auf dieses Land, die Lage der Menschen spitzt sich weiter dramatisch zu!" Die Ziffernfolge 23.34 bezeichnet den Paragrafen, der als Vorwand für zahlreiche Festnahmen dient.

Die EU ist gut darin, Regeln für legitimes Verhalten aufzustellen. Schnell handeln ist nicht ihre Stärke. Daraus sollte man lernen, meint der Politikwissenschaftler Jan Zielonka auf Zeit online angesichts des Impfdebakels. "Ich schlage nicht vor, eine europäische Armee von Epidemiologen zu schaffen, aber die EU könnte ein System entwerfen, das die diplomatischen, militärischen, rechtlichen, finanziellen, medizinischen und ökologischen Ressourcen des Kontinents zusammenführt, um den neuartigen Sicherheitsbedrohungen zu begegnen. Vielleicht hilft uns ein Streit mit AstraZeneca und Großbritannien, die EU für die nächste Krise besser zu rüsten."

Die AfD droht unter die Überwachung des Verfassungsschutzes gestellt zu werden. Für die Partei wäre das ein Desaster, meint der Rechtsextremismus-Experte Alexander Häusler im Gespräch mit Sabine am Orde von der taz, denn es hat direkte Konsequenzen für Mitglieder: Polizisten oder Beamten in der AfD etwa würden "Konsequenzen drohen, wenn sie bei einer Partei aktiv sind, die in der Rubrik Rechtsextremismus geführt wird", so Häusler. Und die Widersprüche in der Partei würden zutage treten: "Die AfD ist ja eine Art eine Sammlungsbewegung aus verschiedenen Kernmilieus: der nationalliberalen Richtung mit marktradikalen Wirtschaftsansichten, dem nationalkonservativ gesinnten Milieu von früheren Unionsanhängern und den völkischen Nationalisten und offen Rechtsextremen. Die drei Strömungen haben eine Art Burgfrieden geschlossen, und dank der permanenten Erfolge bei Wahlen konnten die Konflikte unter den Teppich gekehrt werden. Aber jetzt brechen sie aus."
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Internet

Google und Facebook wären verloren, wenn trackingbasierte Werbung verboten wird (an der den klassischen Medienkonzernen allerdings auch viel liegt), meint die  grüne Abgeordnete Alexandra Geese im Gespräch mit Svenja Bergt von der taz. Und die Demokratie wäre gerettet: "Jedes Datenprofil besteht aus 20.000 bis 50.000 Datenpunkten. Darunter sind sensible Daten wie Religion oder sexuelle Orientierung oder Vorlieben erfasst. Die meisten Nutzer:innen werden kaum wollen, dass Dritte darüber Bescheid wissen. Und dieselben Daten werden genutzt, um Hass, Hetze und Desinformation zu verbreiten. Wer im Netz einem Trump-Anhänger folgt, dem werden per Algorithmus auch andere und immer radikalere Inhalte zugeführt. Im Kern geht es deshalb darum, unsere Demokratie zu schützen." Ebenfalls warnt in der taz warnt Adrian Lobe vor überwachung, weil Fluggesellschaften und andere Unternehmen jetzt digitale Impfpässe fordern.

Julia Reda antwortet bei Netzpolitik auf die neue Lobby-Kampagne Mathias Döpfners, der sich jüngst in einem offenen Brief an Ursula von der Leyen als Lordsiegelbewahrer der Demokratie im Angesicht von Google und Faceoobk aufspielte (unser Resümee). Aber auch hier geht es nur um trackingbasierte Werbung, erläutert Reda: Döpfners "Forderung nach der Werberegulierung ist nicht nur deshalb perfide, weil der Verband der Presseverleger, dessen Präsident Döpfner ist, durch Lobbying in Brüssel Seite an Seite mit den Online-Plattformen und Telekomkonzernen seit Jahren jegliche Regulierung des Online-Trackings durch die ePrivacy-Verordnung blockiert. Die Forderung ist auch ein Rückschritt gegenüber den Plänen zahlreicher Europaabgeordneter, die sich für ein allgemeines Verbot von personalisierter Werbung mittels Tracking und Targeting einsetzen, das - anders als von Döpfner gefordert - natürlich auch für Presseverlage wie Axel Springer gelten muss."

Es gibt Konzentrationstendenzen in der bisher recht chaotischen Welt der Podcasts, die die meisten Nutzer über Apps auf ihrem Handy nutzen, schreibt Serafin Dinges bei Netzpolitik. Aber längst sind große Internetkonzerne aktiv: "Spotify hat als Thronanwärter in den vergangenen Jahren besonders auf sich aufmerksam gemacht. Eine knappe Milliarde Dollar hat der schwedische Konzern bisher ausgegeben und sich von der Produktion bis zur Vermarktung und Bewerbung überall ein Stück vom Kuchen einverleibt. Deals mit exklusiven, teuren Podcaster:innen nicht inbegriffen. Spotify könnte zum YouTube der Podcasts werden, fürchten Beobachter:innen. Auf der eigenen Plattform hätte die Firma dann die Kontrolle über Werbung und Monetarisierung, Empfehlungen und Nutzungsdaten. Die Weichen für ein Quasi-Monopol sind gestellt."
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