9punkt - Die Debattenrundschau

Nahezu ideales Geschäftsklima

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2021. Polen stellt seine gleichgeschaltete Justiz über europäisches Recht. Zeit für Sanktionen der EU gegen Polen, meint die Zeit. Die Niederlande sind zwar noch kein Narco-Staat, aber ein ideales Glacis für die Drogenmafia, fürchtet die FAZ. Jetzt wo sie abtritt, wird mit Angela Merkel abgerechnet werden, meint Monika Maron bei cicero.de. In Itzehoe steht derzeit derzeit die 96-jährige Irmgard F. vor Gericht. Und das hat sehr wohl seine Richtigkeit, findet die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.10.2021 finden Sie hier

Europa

Die EU muss gegenüber Polen endlich mal Farbe bekennen, meint Heinrich Wefing in Zeit online im Streit um das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das polnischem Recht den Vorrang vor EU-Recht einräumt. Juristisch, so Wefing, lässt sich das nicht entscheiden, weil das polnische Verfassungsgericht längst kein unabhängiges Gericht mehr ist: "Der polnische Verfassungsgerichtshof ist nur noch eine leere juristische Hülle, eine bestenfalls rechtsstaatlich anmutende Fassade. Dahinter steckt ein politisch abhängiges Organ, von der Regierung gesteuert. ... Er ist endgültig aus dem Raum des Rechts in die Sphäre der Macht hinübergetreten. Die EU wird mit Paragrafen nichts mehr ausrichten können. Sie muss jetzt auf Sanktionen setzen: Solange Polen nicht die Unabhängigkeit seiner Gerichte wiederherstellt, kann es nicht teilhaben an den Milliardenhilfen aus dem Corona-Fonds."

Angela Merkel hat den Niedergang der CDU nicht allein zu verantworten, aber jetzt, wo sie abtritt, wird mit ihr abgerechnet werden, prognostiziert Monika Maron im Gespräch mit Antje Hildebrandt von cicero.de: "Eigentlich hat sie sich während ihrer ganzen Amtszeit als geschlechts- und herkunftslose Person inszeniert. Aber die Selbstinszenierung entgleitet ihr nun. Sie sieht, dass jetzt schon kritischer über sie geschrieben wird. Wenn sie ganz weg ist, gibt es keine Schonung mehr. Und schon gar nicht, wenn die CDU sich tatsächlich in der Opposition erneuern sollte. Dann darf kein Stein auf dem anderen bleiben, wird ja jetzt schon gefordert. Dann steht auch ihre Rolle zur Diskussion."

Volksparteien wurden im Grunde erst im kalten Krieg zu solchen, meint der Politologe Michael Koß in der taz. Diszipliniert wurden sie durch Drohungen: "Diese Drohungen waren zum einen der Antikommunismus, mit dem Linksabweichler diszipliniert werden konnten. Die letzten Ausläufer dieses Disziplinierungsreflexes haben wir im gerade erst zu Ende gegangenen Wahlkampf erlebt. Zum anderen diente der Appell an den Verbleib im 'westlichen Bündnis' denjenigen als wirksame Drohung, die nach rechts erneut auf deutsche Sonderwege abbiegen wollten. Wer wollte schon mit 'Moskau' gemeinsame Sache machen oder den Schutzschirm der USA verlassen? Diese beiden Drohungen waren der Nährboden, auf dem Volksparteien erst gedeihen konnten, und angesichts der deutschen Vergangenheit ging diese Saat besonders gut auf und blühte im europäischen Vergleich erstaunlich lange."

In den Niederlanden hat die Drogenmafia gezeigt, dass sie zu Morden in aller Öffentlichkeit bereit ist. Nun soll sie sogar den Ministerpräsidenten ausgekundschaftet haben. Ein Narco-Staat sind die Niederlande noch nicht, schreibt Thomas Gutschker in der FAZ, aber dass Rotterdam zum Hauptumschlagplatz für Drogen in Europa wurde, sei "kein Zufall, sondern die Folge eines nahezu idealen Geschäftsklimas, das die Niederlande selbst geschaffen haben. Grund ist die Liberalität oder besser: Laxheit, die sich im Umgang mit Rauschgift zeigt. Cannabis ist seit 1976 legal, jedenfalls für den Endverbraucher im Koffieshop. Der Anbau blieb jedoch verboten, wodurch der Staat illegales Verhalten förmlich erzwang. Die Cannabis-Cafés können sich nur auf dem Schwarzmarkt versorgen. Das wirkt wie ein Konjunkturprogramm für Drogendealer."
Archiv: Europa

Gesellschaft

In Itzehoe steht derzeit die 96-jährige Irmgard F. vor Gericht, der vorgeworfen wird, als Sekretärin des Lagerkommandanten im Konzentrationslager Stutthof Beihilfe zum Mord in 11 412 Fällen geleistet zu haben. Muss man wirklich eine 96-Jährige noch verfolgen, nachdem die Justiz so lange versagt hat? Absolut, meint Wolfgang Janisch in der SZ. "Das Jahrhundertverbrechen zu sühnen, solange es geht, ist Ausdruck des 'Nie wieder', das zur deutschen DNA gehört. Dass es nach so vielen Jahrzehnten dem Zufall überlassen ist, wer noch vor Gericht gestellt wird, nimmt diesen Verfahren nicht ihre Rechtsstaatlichkeit. Gerichte können dies durch milde, symbolische Strafen kompensieren, und sie tun dies. Aber strafbares Unrecht aus Nazizeiten nicht mehr zu verfolgen ist keine Option für Deutschland." Die Prozesse kommen zu spät, sind aber trotzdem richtig, schreibt auch Frederik Schindler in der Welt.

Vor zwei Jahren hat ein rechtsextremer Terrorist einen Anschlag auf die Synagoge von Halle verübt, zwei Menschen, eine Passantin, einen Angestellten eines Döner-Ladenes, hat er ermordet. Konrad Litschko spricht für die taz mit dem Gemeindevorsteher Max Privorozki, der die verbesserte Zusammenarbeit der jüdischen Gemeinde mit der Polizei lobt. Dass eine Polizistin Briefkontakt mit dem Attentäter gesucht hat, will er nicht als Skandal sehen: "Für mich zeigt das, dass die Polizei wirklich Bestandteil unserer Gesellschaft ist. Die Polizei hat ihre Probleme - so wie alle anderen auch. Natürlich ist der Vorfall unglaublich, aber er steht nicht für die ganze Polizei. Dass die Polizei immer alles falsch macht, egal was passiert, das teile ich nicht. Das habe ich auch in dem Prozess gegen den Attentäter so gesagt. Für mich war das größte Problem bei dieser Tat, dass seine Familie nichts gegen die Radikalisierung gemacht hat. Er saß einfach zu Hause, auf Kosten von Mutter und Vater, und wir haben sogar noch erfahren, dass auch die Mutter antisemitische Ansichten hatte - eine Ethiklehrerin, die mit Kindern arbeitet!"

Immer mehr Städte wollen sich von Werbung befreien. Adrian Lobe betrachtet diese Idee in der taz mit Skepsis: "Es stellt sich .. die Frage, wovon die Ad-Free-Bewegung den öffentlichen Raum befreien will. Von kommerzieller Werbung? Von der Konsumlust? Oder auch von politischer Werbung? Was ist mit Wahlplakaten oder Kunstinstallationen? Erfüllt das auch den Tatbestand der 'visuellen Verschmutzung'? Kann es sein, dass die Purifizierung des öffentlichen Raums auch eine kulturelle 'Säuberung' impliziert?"

Im Parteiprogramm der Grünen stehen die beiden folgenden Sätze: "1. 'Alle Menschen haben ausschließlich selbst das Recht, ihr Geschlecht zu definieren.' 2. 'Von dem Begriff 'Frauen' werden alle erfasst, die sich selbst so definieren.'" Chantal Louis erzählt bei emma.de die Geschichte des Grünen-Mitarbeiters David Allison, der sich in satirischer Absicht als Frau auf einen Posten bewarb und prompt von den Grünen gefeuert wurde. Aber übrigens: "Am 26. September wurde die bayerische Landtagsabgeordnete Tessa Ganserer in den Bundestag gewählt. Vor dem Gesetz ist Tessa Ganserer ein Mann namens Markus. Er hat keine geschlechtsangleichende OP gemacht. Er hat auch keine Personenstandsänderung vorgenommen, was er rechtlich auch ohne körperverändernde Maßnahmen könnte. Ganserer definiert sich dennoch 'als Frau' und sitzt als solche für die Grünen im Bundestag. Er erklärt: 'Ein Penis ist nun mal nicht per se ein männliches Genital.' Klappt ja prima mit der Quote."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Gleich Welt und NZZ bringen die Dankesrede, die der Unternehmer Peter Thiel am Donnerstag zur Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises gehalten hat. Die Wolkigkeit seiner Rede erweist ihrem Namensgeber alle Ehre. Deutschland sei im 19. Jahrhundert nicht nur das Zentrum der Wissenschaften gewesen, auch Kommunismus und Faschismus hatten ihren Ursprung in Deutschland, seitdem neige das Land zum "Quietismus", sagt er dort. Statt "deutsche Ideen" für die Welt zu entwickeln, verharre das Land in Ängsten: "Hinter der 'Tür Nr. 1': islamische Theokratie. Jede Frau ist gezwungen, eine Burka zu tragen. Hinter der 'Tür Nr. 2': chinesischer Überwachungskommunismus. Jede Bewegung von jeder Person wird jederzeit von einer zentralen KI registriert. Schließlich, hinter der 'Tür Nr. 3': Gretas grüne Zukunft. Jeder fährt Rad. Es gibt keine 'Tür Nr. 4'."

Die FAZ bringt auch noch ein ganzseitiges Gespräch mit Thiel,in dem er immerhin diese Einsicht formuliert: "Die Smartphones lenken uns von unserer Umgebung ab und auch davon, wie sich unsere Umgebung nicht verändert hat. Du denkst, wenn du in der U-Bahn auf dein Smartphone schaust, du bist in der Gegenwart, und merkst nicht, dass die U-Bahn 50 Jahre alt ist und kaum funktioniert."
Archiv: Ideen

Geschichte

Kurt Kister berichtet in der SZ über den Historikertag, wo unter anderem über die klagefreudige Hohenzollern-Familie gesprochen wurde (auch der Perlentaucher wurde von der Familie teuer zur Unterlassung aufgefordert). Unter anderem lauschte Kister den Ausführungen des Medienrechtlers Wolfgang Schulz: "Den Hohenzollern-Fall kann man als Beispiel dafür verstehen, wie sehr die Freiheit der Wissenschaft (und auch die der Publizistik) in einer klagefreudigen Gesellschaft bedroht sein kann. Der Medienrechtler Schulz erläuterte die sogenannte SLAPP-Strategie von Firmen oder anderen finanziell gut gestellten Klägern; SLAPP steht für Strategic Lawsuits against Public Participation, strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung. Diese Art von oft auch 'präventivem' juristischen Vorgehen soll Einzelpersonen einschüchtern, nicht zuletzt, weil solche Auseinandersetzungen sehr teuer werden können."
Archiv: Geschichte