9punkt - Die Debattenrundschau

Achtkantig

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2021. Es gibt nur ein Thema in den Medien: Springer feuert Julian Reichelt. Zehn AutorInnen gehen bei Spiegel online den ungeheuren Vorgängen um Julian Reichelt auf den Grund. Deutsche Medien hatten unter anderem deshalb nichts gegen Springer ausrichten können und brauchten das diskrete Hüsteln der New York Times, weil sie die Klagen des Konzerns fürchten, erläutert die FAZ. Digitalexpertre Enno Park wirft in seinem Steadyblog einen kritischen Blick auf die Position der Verleger in der Debatte um "Online-Ausleihe". In der taz kritisiert Joachim Wagner die deutsche Justiz, die nicht ausreichend gegen rechtsextreme Richter und Staatsanwälte in ihren Reihen vorgeht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.10.2021 finden Sie hier

Medien

Deutsche Medien vermochten nichts gegen Springer oder wurden zurückgepfiffen, aber die New York Times muss nur diskret hüsteln (unser Resümee), da entlässt der Springer Verlag den ehemaligen Chefredakteur der Bild, Julian Reichelt, dem vorgeworfen wird, die Abhängigkeit untergebener Mitarbeiterinnen auch sexuell ausgebeutet zu haben. Spiegel online bringt als Aufmacher eine von gleich zehn Autoren (und Autorinnen!) gezeichnete investigative Meisterleistung zur Entschlüsselung der ungeheuren Vorgänge: "Nach Spiegel-Informationen soll es tatsächlich eine weitere sexuelle Beziehung zwischen Reichelt und einer ihm unterstellten Mitarbeiterin gegeben haben. Bei Springer heißt es, es habe klare Hinweise und Beweise gegeben, dass Reichelt bereits in dem Verfahren die Unwahrheit über die Beziehung gesagt habe." Hier die Pressemitteilung von Springer. Johannes Boie, der seine Sporen bei der SZ verdiente, wird neuer Chefredakteur der Bild.

Die New York Times hatte offenbar das Material übernommen, das vom Investigativteam der Ippen-Verlagsgruppe, zu der unter anderem Frankfurter Rundschau und Münchner Merkur gehören, zusammengetragen worden war. Verleger Dirk Ippen hat die Veröffentlichung in deren Zeitungen aber persönlich verhindert, erzählt Erica Zingher in der taz: "In einem Brief des gesamten Rechercheteams (Chefredakteur Daniel Drepper, Stellvertreter Marcus Engert sowie die Senior-Reporterinnen Juliane Löffler und Katrin Langhans), der mittlerweile öffentlich und an Verlag und Geschäftsführung adressiert ist, zeigen sich die Journalist:innen schockiert, denn die Recherche sei 'redaktionell und juristisch über Monate abgestimmt' gewesen. 'Die Entscheidung ist eine absolute Verletzung des Grundsatzes der Trennung von Redaktion und Verlag', heißt es in dem Brief. Man fühle sich in der Arbeit als Investigativteam beschnitten." Marcus Engert, Katrin Langhans, Juliane Löffler und Daniel Drepper gehören übrigens zu den Autoren des Spiegel-Artikels. Auch in der FR gibt es eine Erklärung zur Affäre. In der New York Times äußern sich Ben Smith und Melissa Eddy zufrieden über die Wirkung ihrer Berichterstattung.

Das Aus für Reichelt sei "achtkantig" erfolgt, schreiben Axel Weidemann und Michael Hanfeld in der FAZ. Die Autoren benennen einen Aspekt, der in den Medien selbst sonst anderweitig thematisiert wird: "In Deutschland tun sich die Medien mitunter schwer, über Bild-Interna zu berichten. Das liegt an der regen Rechtsabteilung von Springer, doch gibt es offenbar auch eine generelle Angst, sich mit dem Berliner Medienhaus anzulegen." Hier zeigt sich, dass auch Medien selbst mit sogenannten SLAPP-Verfahren arbeiten, die Gegner einschüchtern sollen - Medien stellen sich sonst gern als Opfer solcher Klagen dar.

Setzt sich im Fall Nemi El-Hassan (unsere Resümees) die Ansicht durch, dass Israelfeindlichkeit "nicht per se" antisemitisch sei, wie es die "Jerusalem Declaration" (unsere Resümees) fordert und die wichtigsten Kulturinstitutionen Deutschlands (unsere Resümees) vertreten? Offenbar ist man nicht bereit zu akzeptieren, dass eine Institution wie der WDR eine Personalentscheidung getroffen hat und übt weiter Druck aus. Michael Hanfeld berichtet in der FAZ, dass sich eine Initiative dafür einsetzt Nemi El-Hassan, die in ihrer Jugend an antiisraelischen Demos teilnahm und später antiisraelische Posts likete, doch als Moderatorin des WDR einzustellen. Die Initiative hat Avi Primor und Moshe Zimmermann als Fürsprecher gewonnen. Sie schreiben laut Hanfeld: Es zeuge "nicht von Antisemitismus, wenn man den Boykott israelischer Waren aus den besetzten Gebieten gutheiße. Die 'internationale Gemeinschaft' und die EU hielten es ebenso. Die Parole 'Antizionism is a Duty' gelte auch in der jüdischen Ultraorthodoxie, sei also 'nicht ipso facto antisemitisch'. Der Aufruf 'From the River to the Sea' wiederum drücke den Kampf für die Rechte der Palästinenser aus und sei auch 'nicht per se ein Aufruf zur Zerstörung des Judenstaates und schon gar nicht ein antisemitischer Aufruf'."
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Ideen

In den USA entsteht eine "Educational Liberty Alliance", die ähnlich dem "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" in Deutschland den neumodischen Diskursen in den Geisteswissenschaften und ihrer "Cancel Culture" widersprechen will. Aber gibt es die überhaupt? Der Anglist Mischa Honeck gibt in der taz zu, dass die neuen Wortführer an den Unis "keineswegs glimpflich mit den Status-quo-Privilegierten umspringen", daraus spreche "ein jahrzehntelang aufgestauter Frust über das Wegsehen in einer eurozentrischen Mehrheitskultur". Gegen die Netzwerke wendet er ein: "Mit der Selbstwahrnehmung der liberal-konservativen Bildungseliten als Gralshüter einer selbstbestimmten Wahrheitssuche ist es nicht getan. Hinter solchen Zuschreibungen verbirgt sich häufig ein negatives Freiheitsverständnis, das sich in dem Wunsch äußert, von den Herausforderungen neuer Forschungsansätze nicht belästigt zu werden. Auffallend ist, dass kaum eine Schelte gegen angebliche Zensurscheren ohne die Formulierung eines gravierenden Kollektivverdachts auskommt. Es sind stets die diversitätssensiblen Paradigmen, die ihre Dialogfähigkeit mit tradierten Wissensbeständen beweisen müssen, nicht umgekehrt."
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Kulturmarkt

Digitalexpertre Enno Park wirft in seinem Steadyblog einen Blick auf die Debatte um die Online-Ausleihe, die bisher vom Standpunkt der Verlage dominiert wird. Es geht im Grunde darum, Ebooks genau so zu behandeln wie physische Bücher, schreibt er und wirft den Verlagen und dem Börsenverein vor, die Sachlage zu verzerren: "So wird vielfach behauptet, dass ein Bereitstellen von E-Books in Bibliotheken direkt bei Erscheinen angeblich die gesamte Branche ruinieren würde, weil das E-Lending wie eine Flatrate funktioniere. Diesen Spin der Verlagslobby hat zum Beispiel gestern auch das 'Heute Journal' unhinterfragt übernommen. Er entspricht aber nicht der Realität: Die Bibliotheken erwerben virtuelle Exemplare von E-Books, die sie immer nur an eine Person gleichzeitig verleihen dürfen."
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Stichwörter: Online-Ausleihe, Ebooks

Europa

Für einen Aufreger hat in Britannien der islamistische Hassprediger Anjem Choudary gesorgt, der erklärt hatte, dass der von einem mutmaßlich islamistischen Attentäter erstochene britische Tory-Politiker David Amess getötet worden sein könnte, weil er pro-israelisch war, berichten Abul Taher und Dominik Lemanski im Daily Mail. "Von seinem Haus in Ilford im Osten Londons aus sagte der 54-Jährige: 'Ich bin mir über die Ansichten dieses Abgeordneten nicht sicher. Die Gerüchte besagen, dass er pro-israelisch ist, und er gehört der Konservativen Partei an, die schon lange an der Macht ist, insbesondere während der Kampagnen in muslimischen Ländern wie Irak, Syrien und Afghanistan. Auf die Frage, inwiefern die 'pro-israelische' Haltung von Herrn Amess ihn zur Zielscheibe mache, antwortete Choudary: 'Viele Menschen [glauben], dass es sich um einen terroristischen Staat handelt, und wer könnte schon ein Freund Israels sein, wenn man das Gemetzel sieht, das sie an Muslimen im Westjordanland und im Gazastreifen verübt haben und weiterhin mit der Aneignung von Grundstücken anrichten?' Choudary, ein ausgebildeter Jurist, wies jedoch schnell darauf hin, dass er die Ermordung von Menschen, geschweige denn eines Abgeordneten, in Großbritannien nicht gutheiße."

In einem Kommentar im Daily Mail ist Dan Wotton fassungslos, dass weder Politiker noch Journalisten in Britannien über den islamistischen Hintergrund des Attentats diskutieren wollen. Statt dessen werden die sozialen Medien verantwortlich gemacht, oder die vergiftete politische Debatte. Von Islamismus spricht kaum jemand: "Es besteht der dringende Verdacht, dass es sich um dschihadistischen Terror handelt, dem es egal ist, ob wir in den sozialen Medien oder in einer Fernsehdebatte frech oder nett sind. Nur wenn wir das anerkennen und wenn der festgenommene Mann angeklagt und für schuldig befunden wird und das Motiv für den Mord wie vermutet ist, können wir versuchen, die Geißel der islamischen Radikalisierung junger, in Großbritannien geborener Männer zu stoppen, um sicherzustellen, dass diese Art von Anschlag nie wieder geschieht. Aber welche Hoffnung haben wir, wenn die meisten unserer führenden Politiker nicht einmal darüber reden wollen?"

Auch Sam Leith ist im Spectator entsetzt über den Diskurs, der nach der Ermordung von Ames einsetzte: "Der überbordende identitäre Narzissmus des Diskurses führt heutzutage dazu, dass jede neue Information - sei es der Mord an einem Abgeordneten oder die Entscheidung eines jungen Schriftstellers, einen Verlagsvertrag abzulehnen - nicht anhand ihrer eigenen unangenehmen Details bewertet wird, sondern sofort daraufhin untersucht wird, wie sie sich in unsere bestehenden Argumente einfügen lässt oder, noch treffender, in unser bestehendes Gefühl, auf welcher Seite wir stehen. Wenn es wie ein Beweis für die eigene Seite aussieht, hat man Recht; wenn nicht, ist es die andere Seite, die 'Politik macht'."
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Gesellschaft

Gegen rechtsextreme Richter ist das Justizsystem schlecht gewappnet, sagt der Journalist und Jurist Joachim Wagner, der sich nach einem Buch über islamische Paralleljustiz nun dem Thema Rechtsextremismus und AfD in der deutschen Justiz zuwendet. Im Gespräch mit Gareth Joswig und Ambros Waibel von der taz erläutert er das am Richter Jens Maier, der seinen AfD-Bundestagssitz in der letzten Wahl verloren hat: "Maier ist dem völkisch-nationalen Flügel der AfD zuzurechnen und darf als Extremist bezeichnet werden. Auf solche Rückkehrer aus der politischen Arena ist die Justiz nicht vorbereitet. Nach Rechtslage kann Maier verlangen, dass seine Disziplinarstrafe - ein Verweis - nach zwei Jahren gelöscht wird. Seine Personalakte wäre damit sauber. Eigentlich hätte er dann einen Wiedereinstellungsanspruch in die sächsische Justiz. Wie diese damit umgeht, wenn er wirklich zurückkehren will, ist völlig offen und rechtlich schwierig zu beantworten." Wagner kritisiert auch ein nicht ganz unbekanntes Phänomen: "In der Justiz fehlt meist der Wille zur Selbstkritik und Selbstkontrolle."
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