9punkt - Die Debattenrundschau

Nerven behalten, please

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2022. In den Nebeln des Krieges: Was bedeutet es, fragt Spiegel Online, dass die CIA die russische Invasion in der Ukraine auf nächsten Mittwoch terminiert? Atlantic fürchtet mit Blick auf die Proteste in Ottawa, dass die amerikanische Rechte sich globalisiert. Demütigend für Leipzig findet die SZ, wie die Verlagskonzerne das Zentrum der ostdeutschen Literatur torpedieren. Der Schlag zielt nicht gegen Osten, vermutet Jörg Sundermeier dagegen in der taz, sondern gegen die softe Buchhandelsökonomie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.02.2022 finden Sie hier

Europa

Gestern Abend schreckte die Meldung auf, dass die CIA und das amerikanische Militär mit einem baldigen Angriff Russlands auf die Ukraine rechnen. Womöglich am Mittwoch. Aber können die Amerikaner das Datum einer geplanten Invasion kennen? Auf Spiegel Online sieht Mathieu von Rohr zumindest die Nebel des Krieges aufziehen: "Es ist schwierig, mit diesen eindringlichen Warnungen richtig umzugehen. Man kann nur Fragen stellen: Würden die USA wirklich so eindringlich warnen, wenn sie sich nicht sicher wären? Oder warnen sie nur vor allem deshalb so laut und konkret, um die Pläne der Russen zu durchkreuzen? Was sollen wir daraus lesen, dass die Botschaften sich unterscheiden, je nachdem, ob sie im O-Ton gegeben werden - oder in geheimen Briefings, die dann wieder in die Medien wandern?"

Auf Twitter empfiehlt die ARD-Korrespondentin Ina Ruck: "Nerven behalten, please." Putin gebe doch nicht die "gute Vehandlungsposition" auf, in die er sich so gebracht habe.

In der NZZ ahnt Andreas Rüesch, dass von der Ukraine nicht Russlands Sicherheitsinteressen bedroht werden, sondern allein die des Kremls: "Die Beschwörung eines äußeren Feindes ist für Putin als Mittel zum Machterhalt daher wichtiger denn je. Aber es geht auch darum, das Demokratie-Virus offensiv zu bekämpfen. In der Ukraine, die bereits zwei prowestliche Revolutionen erlebt hat, grassiert es besonders heftig. Auch wenn die ukrainische Demokratie noch voller Mängel ist, strahlt sie weit nach Osten aus."

Im Guardian rät der Oxforder Konfliktforscher Gabrielle Rifkind weiterhin zur Diplomatie: "Was auch immer der Westen von Moskaus Verhalten halten mag, es stünde im Interesse aller, den Konflikt zu deeskalieren und Moskau eine Brücke zu bauen. Wir dürfen den Link zwischen Demütigung und Aggression nicht unterschätzen. Putin ist ein stolzer Mann, eine kluge Politik westlicher Regierungen sollte gesichtswahrende Gesten bieten, wenn wir den Krieg ernsthaft vermeiden wollen."

Gegenüber Moskau nehmen die Regierungen in Warschau und Budapest sehr unterschiedliche Positionen ein, auch das schwächt Europa, bemerkt Reinhard Veser in der FAZ, zumal die beiden Länder wie eine eins zusammenstehen, wenn es gegen Brüssel geht: "Die polnische Rechte sieht ebenso wie die ungarische Rechte die Nation und deren Identität auch durch die EU gefährdet. Das geteilte Verständnis dieser Begriffe wiegt für sie schwerer als der Gegensatz in der Russlandpolitik. Daher hofft man in der polnischen Regierungspartei PiS auf einen Sieg Marine Le Pens bei der Präsidentenwahl in Frankreich, trotz ihrer kremlfreundlichen Haltung. Davon erwartet man sich ein Ende der aktuellen EU-Politik, von der behauptet wird, sie solle Europas Völker mit Gewalt von ihren Wurzeln trennen."
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Kulturmarkt

Als kulturelles Desaster vor allem für Ostdeutschland wertet Felix Stephan in der SZ die Absage der Leipziger Buchmesse, die in den Zentralen der großen Buchkonzerne in München, Frankfurt und Stuttgart getroffen wurde. Dass sich diese Verlage aber durchaus auf der Lit.Cologne in Köln oder den Buchmessen in Bologna und London zeigen, muss Leipzig besonders bitter treffen: "Wirtschaftlich gesehen ergibt es für die Verlage also durchaus Sinn, die Frühjahrsmesse nach Köln zu verlegen: Wie die Lit.Cologne ist Leipzig mittlerweile ein reines Publikumsfestival, die großen Deals werden längst in Frankfurt und London abgeschlossen. Nur ist Leipzig eben auch das zentrale Monument der ostdeutschen Lesekultur, und dass die Entscheidung über die Absage nun in München, Stuttgart oder Frankfurt getroffen wurde, jedenfalls sicher nicht in Leipzig, ist ein Detail, das die Lage nicht unbedingt entspannt. Mit ihren Besatzern hätten die Ostdeutschen gleich doppelt Pech gehabt, schrieb der Leipziger Germanist Dirk Oschmann kürzlich sinngemäß in der FAZ: Erst kamen die Sowjets, dann die Westdeutschen."

In der taz sieht Jörg Sundermeier, Verleger des Verbrecher Verlags, hinter der Absage an Leipzig weniger einen Ost-West-Konflikt als vielmehr eine betriebswirtschaftliche Offensive der Konzerverlage: "Tatsächlich wird der Buchmarkt immer stärker durchkapitalisiert. Bürgerliche Clubs wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der von seinen Mitgliedern Traditionsbewusstsein und Einhaltung ungeschriebener Regeln, ja, sogar Fairness erwartet, merken dies etwa daran, dass Großverlage und Buchhandelsketten die Buchpreisbindung hinterfragen, die zwar die Vielfalt in der Branche stärkt, aber eben nicht den schnellen Cent einbringt. In den Sonntagsreden der Branchenprominenz sieht dies noch anders aus, in den Gremien gärt es jedoch."
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Politik

Seit Wochen blockieren Impfgegner kanadische Innenstädte, Straßen und Grenzübergänge. Dabei sind 90 Prozent der kanadischen LKW-Fahrer geimpft, und die Blockaden treffen vor allem Anwohner und Arbeiter, deren Zulieferbetriebe nicht mehr weiterarbeiten können. Für Australien und Europa sind ähnliche Proteste angeküntigt. Hier globalisiert sich die Bewegung die amerikanischen Rechten, bemerkt David Frum in Atlantic: "Ein großer Teil des Geldes, das zur Unterstützung der kanadischen Proteste gespendet wurde, wurde international, insbesondere in den Vereinigten Staaten, gesammelt. Der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, der texanische Senator Ted Cruz und der Präsidentensohn Donald Trump Jr. sind nur einige der Republikaner, die ihre Unterstützung für die Demonstranten zum Ausdruck gebracht haben. Auch der Stil und die Symbolik dieses Ereignisses wirken seltsam unlokal. Eine der meistfotografierten Bewegungen der Proteste war ein Mann auf einem Pferd, der eine Trump-2024-Flagge in der Innenstadt von Ottawa hisste. Konföderiertenflaggen und MAGA-Hüte wurden in eine globale Bibliothek der Anti-Establishment-Ikonografie aufgenommen."
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Medien

Die Kritik an Springer-Chef Mathias Döpfner nach den Recherchen der Financial Times zur Causa Julian Reichelt (unser Resümee) könnte sich glatt zu einem Machtkampf im Bundesverband der Zeitungsverleger ausweiten, berichtet Michael Hanfeld in der FAZ, die Funke-Mediengruppe habe im Grunde Döpfner zum Rücktritt von seinem Präsidentenposten aufgefordert. Aber ach, vielleicht doch lieber nicht: "Im BDZV gibt es Vorbehalte gegen Döpfner als Verbandschef, manche machen sie öffentlich, so wie jetzt die Funke Mediengruppe, andere verhalten sich abwartend, und nicht wenige, vor allem kleinere Verlage, fühlen sich von jemandem, der den größten Presseverlag im Land führt, besser vertreten als von jemandem aus der Reihe der Zweitgrößten. Hinzu kommt, dass sich im weiten Verlegerrund noch niemand als Herausforderer in Stellung gebracht hat. Und so könnte es sein, dass sich am kommenden Montag der Aufzug des vergangenen Jahres wiederholt. Der Vorgang zeigt in jedem Fall, wie schwer es den Presseverlagen fällt, gemeinsame Interessen zu formulieren und vor allem diese gegenüber der Politik zu vertreten."

In der FAZ hätte Patrick Bahners gern eine Begründung vom Bundesverfassungsgericht gehört, warum es Jan Böhmermanns Verfassungsbeschwerde abgewiesen hat. Denn so bleibe das Verbot des Hamburger Oberlandesgericht im Raum, das Böhmermanns Schmähgedicht den Kunstcharakter absprach. Naiverweise, wie Bahners befindet: "Hier urteilten sie banausisch im ästhetischen wie im juristischen Sinne. Inneres Erleben, widerspiegelnde Form."

Im mexikanischen Salina Cruz ist der Journalist Heber Lobez, Direktor des Online-Nachrichtendienstes Noticias Web erschossen worden: Es ist bereits der fünfte Mord an einem Journalisten in Mexiko in diesem Jahr, meldet der Guardian.
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