9punkt - Die Debattenrundschau

Die DNA des Präsidenten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.02.2022. Die SPD irrt, wenn sie ihrer Entspannungspolitik den Mauerfall und die deutsche Einheit gutschreibt, meint Peter Schneider in der FAZ. Der russische Ton gegenüber der EU hat sich laut Spiegel online nochmal deutlich verschärft. Offenbar "waren die bösen Geister der Vergangenheit nicht wirklich tot", schreibt Rainer Moritz in der FAZ mit Blick auf die Absage der Leipziger Buchmesse: Die Konzernverlage hätten sie noch nie gemocht. Die SZ sieht das neue Buch über den Verrat an Anne Frank als Produkt des "Non-Fiction-Bestseller-Engineering". In der FR warnt  die Expertin Annika Brockschmidt vor der religiösen Rechten in Amerika.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.02.2022 finden Sie hier

Europa

Der Ton verschärft sich. Der russische Außenminister Sergej Lawrow soll seine britische Kollegin Liz Truss in ihrem Gespräch bloßgestellt haben, berichtet Mathieu von Rohr in der "Morgenlage" bei Spiegel online. "Eine weitere Aussage von Lawrow macht sprachlos: Wenn die EU ihre Antwort auf die russischen Sicherheitsforderungen kollektiv vorbringe, so sagte der russische Außenminister, würde das zu einem Ende der Gespräche führen. Es ist kein Geheimnis, dass Moskau die EU gern spalten möchte - dass es ihr aber vorschreiben will, wie sie ihre Antwort überbringt, ist dreist."

Mit der Entspannungspolitik, auf die sich die SPD bis heute beruft, ist es eine zwiespältige Sache, schreibt Peter Schneider in der FAZ. "Kein Zweifel, die SPD hat mit ihrer Entspannungspolitik die Spielräume der Bürger, auch der Dissidenten, erweitert. Aber sie irrt in grotesker Weise, wenn sie sich und der Entspannungspolitik den Mauerfall und die deutsche Einheit gutschreibt. Die Auflösung des Systems des realen Sozialismus lag weder im Horizont ihrer Politik noch in ihrem Interesse. Vielmehr hat sie bis zum Kollaps des Systems darauf gesetzt, dass es sich reformieren lasse."

Mit dem langen Tisch, an dem sich Putin und Macron vor ein paar Tagen unterhalten haben und der auf Twitter viel Erheiterung auslöste, hat es eine Bewandtnis, schreibt Michel Rose bei Reuters. Die russischen Behörden hatten Macron vor eine Wahl gestellt: "Entweder er akzeptierte einen von den russischen Behörden durchgeführten PCR-Test und durfte sich Putin nähern, oder er lehnte ab und musste sich einer strengeren sozialen Distanzierung unterziehen. 'Wir wussten sehr wohl, dass das keinen Händedruck und diesen langen Tisch bedeutete. Aber wir konnten nicht akzeptieren, dass sie die DNA des Präsidenten in die Hände bekommen', sagte eine der Quellen gegenüber Reuters und verwies auf Sicherheitsbedenken, falls der französische Staatschef von russischen Ärzten getestet würde."

In der SZ wütet A. L. Kennedy mit Blick auf Boris Johnson, diesen "Hundehaufen auf dem Kaminsims unserer Nation", dessen Regierung mit "Korruption und ideologischem Vandalismus" Infrastruktur und Sozialstaat zerstören - und mit Blick auf die "unendlich dummen Sadisten", die ihm folgen könnten: "Wir leben in einem Land, in dem das Oberste zuunterst gekehrt ist. … Unsere Regierung ist regierungsfeindlich. Unsere wichtigste Oppositionspartei unterlässt es regelmäßig, sich dem entgegenzustemmen. Gerechtigkeit ist Ungerechtigkeit, weil unsere Polizei sich als unglaublich korrupt erweist. Wahrheit ist hier in Großbritannien Fiktion, weil Pressebarone und Redaktionen, die dem Clickbait verfallen sind, unseren öffentlichen Diskurs verzerren. Eine Bevölkerung, die im Jahr 2019 auf die Straße ging und leidenschaftlich demonstrierte, schweigt."
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Kulturmarkt

Offenbar "waren die bösen Geister der Vergangenheit nicht wirklich tot", schreibt der ehemalige Verleger und Literaturhausleiter Rainer Moritz in der FAZ mit Blick auf die Absage der Leipziger Buchmesse. Eine Messe wäre möglich gewesen, aber Leipzig war bei den sämtlich westdeutsche Konzernverlagen seit je unbeliebt, so Moritz und erinnert an die frühen Jahre nach dem Mauerfall, als die großen Verlage quasi nur symbolisch kamen. Zu Frankfurt ist das Verhältnis anders: "Natürlich weiß jeder halbwegs Branchenkundige, dass - hätte man in den Verlagen so viel Einsatz gezeigt wie im vorigen Herbst, als man in Frankfurt eine Notmesse auf die Beine stellte - eine Leipziger Buchmesse in diesem Frühjahr unter klaren Auflagen möglich gewesen wäre. Die Macht der Konzerne hat die Messeleitung in die Knie gezwungen, zum Schaden der kleinen oder mittleren Verlage, für die Leipzig besonderes Gewicht hat."

Eine ganze Reihe von AutorInnen fordert in einem Aufruf, den das Börsenblatt veröffentlicht: "Macht die Buchmesse auf! Wir wollen lesen!"

"Gewissenlos" nennt Jens Christian Rabe heute in der SZ die "True Crime Story", die Harper Collins mit Rosemary Sullivans Buch "The Betrayal of Anne Frank: A Cold Case Investigation" (Unsere Resümees) vorgelegt hat: "Erkundigt man sich in der deutschen Verlagsszene ein wenig über die Geschichte des Buchs, landet man tief im Non-Fiction-Bestseller-Engineering, also der planmäßigen Herstellung von internationalen Sachbuch-Erfolgen. Auf der Londoner Buchmesse 2018 war das Projekt, das eine niederländische Literaturagentur anbot, eines der am heißesten gehandelten. Die Reizwörter damals wie heute: Anne Frank, Verrat, Cold Case Team, FBI, AI. Von Anfang an sei es bei der Bieterschlacht deshalb um viel Geld gegangen, obwohl bloß - nicht unüblich in solchen Fällen - ein kurzer 'Pitch' vorgelegen habe, also eine kleine Skizze des Projekts, ohne Recherche-Ergebnisse. Den Zuschlag bekam Harper Collins. Mutmaßlich für einen Betrag, der siebenstellig gewesen sein könnte - und den spätere Verkaufszahlen natürlich rechtfertigen müssen. Skrupel, Umsicht und Sorgfalt stehen da eher im Weg."

Unterdessen hat das Ermittlerteam, das den Verrat an Anne Frank neu untersucht hat, die Kritik an seinen Ergebnissen zurückgewiesen, meldet die Berliner Zeitung mit dpa. Der frühere FBI-Kommissar und Leiter der Untersuchung, Vincent Pankoke, "sprach von einem Frontal-Angriff - vor allem von Medien in den Niederlanden. 'Mit Medien, die offenbar nur eine Seite der Geschichte präsentieren, kann man einen Fall leicht vor dem Gericht der öffentlichen Meinung gewinnen.'"
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Medien

Nach den Enthüllungen der Financial Times (unser Resümee) kommt der für die Zeitungen als Lobbyist doch so verdienstvolle Mathias Döpfner nun doch in Bedrängnis, meldet Spiegel online. Die Funke Mediengruppe hat sich in einer Stellungnahme für den Artikel von Döpfner als Chef des Zeitungsverlegerverbands BDZV deutlich distanziert. Am Montag soll in einer Delegiertenkonferenz diskutiert werden.
Archiv: Medien

Geschichte

Auf den Meinungsseiten der SZ verurteilt Meredith Haaf, wie das Thema Antisemitismus in diversen Kolumnen, im weiteren Sinne aber auch im jüngsten Report von Amnesty International für politische Zwecke benutzt wird und warnt vor einer "schleichenden Desensibilisierung für die historische Einmaligkeit des Holocaust": "Sprachliche und historischen Ungenauigkeiten erzeugen einen süffigen Ressentiment-Cocktail, den sich immer mehr Menschen gern genehmigen: Die Zahl antisemitischer Gewaltdelikte und die Zustimmung zu israelfeindlichen Aussagen nimmt weltweit zu." Ebenfalls in der SZ mahnt die Historikerin Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, Erinnerungen "vor jedweder politischen Vereinnahmung zu bewahren." In der FAZ erzählt Niclas Müller von einer neuen Generation Ehrenamtlicher, die in der Gedenkstätte Auschwitz nun die Erinnerungsarbeit koordiniert.
Archiv: Geschichte

Politik

In der FR schaut sich die Autorin Annika Brockschmidt, deren Buch "Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet" vergangenes Jahr erschien (und der Matthew Karnitschnig bei politico.eu nachlässige Recherche vorwarf, weil sie auf Verifikation vor Ort verzichtete - unser Resümee), den unter Mitarbeit von Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen und einer Journalistin erschienenen Bericht an, der das Ausmaß des Einflusses des Christlichen Nationalismus am Tag des Sturms auf das Kapitol analysiert: Das Kleinreden von Christlichem Nationalismus verkenne "nicht nur das Wesen, sondern auch den Aufbau der Christlich-Nationalistischen Institutionen, die das Rückgrat der amerikanischen Religiösen Rechten ausmachen: ein enges Netz von juristischen Interessenvertretungen, ausgeklügelten Datentransaktionen, politischen Think Tanks und einer riesigen rechten Nachrichten-Sphäre. Die Stärke der Bewegung liegt nicht in ihren Zahlen - ganz im Gegenteil, sie weiß sehr genau, dass sie nicht mehr mehrheitsfähig ist -, sondern in ihrer dichten Infrastruktur, und ihrem disziplinierten, organisierten Engagement für eine gemeinsame ideologische Vision, die nicht mit einer multi-ethnischen, pluralistischen Demokratie vereinbar ist. Das Ziel des Christlichen Nationalismus ist ein Amerika, in dem es sich in einer allen anderen vorangestellten politischen und gesellschaftlichen Machtposition befindet, Zugang zu Steuergeldern hat und Gesetze erlassen kann, die seine Weltsicht bevorzugen."

Ebenfalls in der FR vermisst die im Expertenkreis der Bundesregierung zu Muslimfeindlichkeit tätige Politologin Saba-Nur Cheema Reaktionen der Palästinenser auf den von Amnesty International erhobenen Apartheidsvorwurf gegen Israel. (Unsere Resümees) Aber sie wundert sich auch nicht über das Schweigen: "Dass hier lebende Palästinenser sich nicht gleich öffentlich äußern wollen, sollte auch nicht überraschen. So zeigt der Fall der palästinensisch-stämmigen Journalistin Nemi El-Hassan, wie schnell antiisraelische Äußerungen sanktioniert werden. Vergangenen Herbst verlor sie deshalb ihre Stelle als Moderatorin beim WDR. Unabhängig davon, wie gerechtfertigt die Vorwürfe im Einzelfall sein mögen - wenn palästinensische Stimmen immer besonders skrupulös behandelt werden, muss man sich nicht wundern, wenn sie sich seltener zu Wort melden."
Archiv: Politik

Ideen

Der Linguist Josef Bayer ist neben weiteren Linguisten, etwa Peter Eisenberg, aus der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft ausgetreten, denn der Satzungstext der DGfS ist neuerdings gendersensibel. Das spaltet die DGfS und hat mit ihrer eigentlichen Funktion auch nichts mehr zu tun, schreibt Bayer in der Welt: Es gehe "zentral um natürliche und damit historisch natürlich gewachsene Sprachen, wie sie in der menschlichen Kommunikation verwendet werden und nicht um künstliche, d. h. von Menschen entworfene Sprachen wie etwa Programmiersprachen, Plansprachen, Sondersprachen etc. Die Linguistik ist eine deskriptive und keine präskriptive Disziplin. Ihr Forschungsgegenstand ist die Sprache, wie sie ist, und nicht, wie sie sein sollte. Somit gibt es eine recht klare Abgrenzung zur Stilistik, zu reglementierten Sprachen, zur Sprachpädagogik etc. Unter dieser Voraussetzung erstaunt es, dass die durch und durch präskriptiv konstruierte Gendersprache momentan dabei ist, die DGfS, die wichtigste linguistische Gesellschaft des Landes, zu unterwandern."
Archiv: Ideen

Überwachung

Nach den Enthüllungen über die Überwachungssoftware Pegasus (Unsere Resümees) veranlasste Joe Biden eine "Initiative für Exportkontrolle und Menschenrechte" - der Export von Technologien, die genutzt würden, um "Widerspruch zu ersticken", müsse künftig strenger kontrolliert werden, erinnert Georg Mascolo in der SZ. Die Unterstützung Deutschlands für die Initiative lässt auf sich warten, überhaupt unternehmen die EU und Deutschland nichts, so Mascolo weiter:  "In den deutschen Sicherheitsbehörden und bis hinein in die Regierung gibt es solche, die keine neuen Regeln wollen. Das Vorgehen der USA sei Heuchelei, die könnten noch die raffiniertesten Trojaner selbst entwickeln. Aber Deutschland könne das nicht und sei auf diesen Markt angewiesen. Sonst sei man taub und blind. Auf EU-Ebene fehlte es bis heute bisweilen sogar an den simpelsten Dingen - beispielsweise einer Antwort auf einen Brief, den Reporter ohne Grenzen, Amnesty International, Human Rights Watch und zahlreiche weitere NGOs im Dezember an den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell geschrieben haben. Darin fordern sie 'effektive Schritte' und Sanktionen, um Pegasus einzuhegen."
Archiv: Überwachung