9punkt - Die Debattenrundschau

Unser langer Urlaub von der Geschichte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2022. Alexei Nawalny ist erneut verurteilt worden, diesmal zu neun Jahren Lagerhaft im "strengen Regime". Wir zitieren, was er dazu sagt. In der SZ fragt der russische Reporter Waleri Panjuschkin, wer in Russland schuld ist. Bei Zeit online beschreibt der kasachisch-russisch-belarussisch-ukrainische Autor  Artur Weigandt, wie sich der Krieg auf seine Familie auswirkt. Es kann nur einen Ausgang aus diesem Krieg geben, schreibt Anne Applebaum im Atlantic, einen ukrainischen Sieg.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.03.2022 finden Sie hier

Europa

Ein russisches Gericht hat Alexej Nawalny auf Weisung Putins zu weiteren neun Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt. Sollte man dazu anderes zitieren, als die verachtenden Worte, die Nawalny laut Inna Hartwich in der taz der Richterin an den Kopf warf? "Finden Sie es nicht selbst demütigend, so zu tun, als seien Sie Richter und Staatsanwälte, und in Wahrheit sind Sie nur ein Gerät, das lediglich das wiedergibt, was man Ihnen am Telefon mitgeteilt hat? Ich hasse eure Mächtigen und verachte euer Rechtssystem." Friedrich Schmidt erläutert in der FAZ, was ein Straflager "strengen Regimes" ist, zu dem Nawalny verurteilt wurde: "Solche sind für gefährliche Verbrecher vorgesehen, die isoliert werden sollen; sie dürfen weniger Geld für Essen und Bedarfsgüter ausgeben, weniger Besuch ihrer Angehörigen empfangen und weniger Päckchen erhalten."



Der russische Angriff stagniert. Für die russische Seite ist das eine Niederlage, für die ukrainische ein Erfolg, aber kein Sieg, erklärt Thomas Gutschker in der FAZ: "Die Angreifer haben ihre geringe Beweglichkeit mit hohen Verlusten bezahlt. Die regimetreue russische Zeitung Komsomolskaja Prawda berichtete nach einem Briefing des Verteidigungsministeriums am Sonntag von 9.861 getöteten und 16.153 verwundeten Soldaten. Diese Zahlen lagen weit höher als die bisher einzige offizielle Angabe von Anfang März; da waren 498 Gefallene gemeldet worden.  Inzwischen wurde die Zahl aus dem Artikel auf der Internetseite der Zeitung gelöscht."

In diesem Krieg muss die Ukraine siegen, und der Westen muss das Land auf dem Weg dahin unterstützen, schreibt Anne Applebaum im Atlantic. Und der Sieg sei leicht auszumalen: "Er bedeutet, dass die Ukraine eine souveräne Demokratie bleibt, die das Recht hat, ihre eigene Führung zu wählen und ihre eigenen Verträge zu schließen. Es wird kein prorussisches Marionettenregime in Kiew geben, es wird keinen anhaltenden ukrainischen Widerstand geben, keine weiteren Kämpfe. Die russische Armee zieht sich über die Grenzen zurück. Vielleicht könnten sich diese Grenzen ändern, oder die Ukraine könnte sich zur Neutralität verpflichten, aber das müssen die Ukrainer selbst entscheiden und dürfen sie sich nicht von Außenstehenden vorschreiben lassen. Vielleicht ist eine internationale Friedenstruppe erforderlich. Was auch immer geschieht, die Ukraine muss gute Gründe für die Annahme haben, dass die russischen Truppen nicht so schnell zurückkehren werden."

Einen interessanten Aspekt der russischen Kriegsführung legt der Politologe Kamil Galeev in einem Twitter-Thread offen: Die ethnischen Minderheiten sind in der russischen Armee - und auch unter den Toten laut ukrainischen Gefallenenlisten - weit überrepräsentiert:



Die Nato hat keine Veranlassung, in den Krieg einzugreifen, schreibt der Friedensforscher Christopher Daase in der FAZ: "Wladimir Putin hat gesagt, der Krieg wäre in dem Moment zu Ende, an dem die Ukraine die umstrittenen Territorien an Russland abtreten und einer Neutralität zustimmen würde. Es ist - wohlgemerkt - nicht an uns, der Ukraine einen solchen Schritt nahezulegen. Aber wir können auch nicht die Behauptung gelten lassen, der Westen allein hätte die Möglichkeit und die Pflicht, diesen Krieg zu beenden, wenn er nur seine Scheinheiligkeit überwinden würde."

Ein schneller Sieg wird Putin in der Ukraine nicht mehr gelingen. Vielleicht wird die Ukraine irgendwann militärisch besiegt sein, aber was dann? Eine "Normalisierung" wie nach dem Einmarsch in Prag 1968 wird es nicht geben, glaubt der schwedische Autor Richard Swartz in der NZZ. "Das ukrainische Volk hat er bereits verloren, und eine längere wirtschaftliche Isolation von Europa, eine Isolation, die sich jetzt mit jedem Tag des Krieges zuspitzt, wird sein Regime schwer treffen. ... Die Zeit arbeitet gegen ihn. Wie so viele politische Diktatoren hat er die Bedeutung der Wirtschaft unterschätzt und sich stärker an militärischer Geopolitik ausgerichtet als an zivilen Märkten. Und Putin hat - wie alle Diktatoren - die Stärke der Demokratie weit unterschätzt, ihr Gezanke und ihre Trägheit als Schwäche und Dekadenz interpretiert. Stattdessen ist es sein großes Russland, das schwach ist und immer schwächer wird. Putin reagiert darauf desperat und in einer Weise, die uns alle betrifft und Europa wie die Welt begreifen lässt, dass unser langer Urlaub von der Geschichte nun zu Ende ist.

Der russische Reporter Waleri Panjuschkin, jahrelang Kritiker Putins, empfindet ein nagendes Gefühl der Mitschuld am Ukrainekrieg, kann aber nicht genau bestimmen, worin diese bestehen sollte. Wenn er in der SZ drüber nachdenkt, hält er es mit Recht sogar für unsinnig: "Wenn irgendwann alle hundertvierzig Millionen Russen niederknien und sich reumütig verneigen, dann heißt das, die Schuld liegt gleichermaßen beim Oberbefehlshaber, beim Kriegsminister, bei den Fernsehpropagandisten, beim Drechsler, beim Bäcker und bei der Kindergärtnerin. Und beim Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, der weiterhin die letzte wahrheitsliebende Zeitung Russlands herausgibt, auf deren Seiten dort, wo das Wort 'Krieg' und andere, von der Zensur verbotene Wörter stehen sollten, Leerstellen in den Zeilen klaffen. Und bei Natalja Sindejewa, deren Fernsehsender gesperrt wurde. Und bei Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Radio 'Echo Moskwy', der dreißig Jahre sendete und nun eingestellt wurde. Und bei Journalisten, Künstlern, Wissenschaftlern, Musikern, Professoren, die aus Russland fliehen mussten. Und beim Oppositionsführer Alexej Nawalny, der zu Kriegsbeginn eigentlich im Gefängnis saß, Arbeitshandschuhe nähte und auf ein Treffen mit seiner Frau Julia wartete, die er seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hat."

Die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja hat ihr Land nach dem Angriff auf die Ukraine verlassen. Eine Rückkehr will sie im Interview mit der SZ aber nicht ausschließen: "Es wäre aber sicher mit einem gewissen Risiko verbunden. Ich habe mich nie mit politischen Äußerungen vorgedrängt, aber wenn ich gefragt wurde, habe ich immer so geantwortet, wie ich denke. Auch jetzt. Noch will ich keinen Eisernen Vorhang zwischen mir und meiner Heimat errichten." Auf Zeit online erzählt Lena Gorelik, wie es ihr mit ihren russischen Wurzeln derzeit geht.

In einem sehr persönlichen Essay für Zeit online beschreibt Artur Weigandt - er und seine Frau, die Fotografin Anna Zhukovets, haben russische, belarussische und ukrainische Wurzeln - wie sich der Krieg auf ihre Familien, ja selbst auf ihre Ehe auswirkt. Und gelegentlich bricht Bitterkeit durch mit den Deutschen, die die Warnungen der Osteuropäer gegen Putin immer für etwas überkandidelt hielten: "Acht Jahre. So lange tobt der Krieg schon und wir in Deutschland haben weggesehen. Für Gas. Für Erdöl. 80 Jahre Frieden haben wir mit dem ewigen Frieden verwechselt. Nun droht Putin mit einer Atombombe. Jetzt endlich scheint die Realität der Deutschen mit meiner und Annas Wirklichkeit etwas gemein zu haben. Die eigene Bedrohung bewegt die Deutschen zum Handeln. Die potenzielle Vernichtung ganz Europas zeigt ihnen, wie ernst es Putin meint. Es werden politische Konsequenzen gefordert: Energiewende jetzt! Bundeswehr aufrüsten! Wehrpflicht einführen! Deutschland scheint aufgewacht zu sein. Aber es ist zu spät. Wir können Waffen liefern. Wir können humanitäre Hilfe anbieten. Aber den Krieg konnten wir nicht mehr verhindern."

Putins nationalistische Ideologie verdankt sich auch einem programmatischem Bündnis mit der orthodoxen Kirche, heißt es in einem nicht gezeichneten Artikel bei hpd.de, der sich auf Forschungen des Religionssoziologen Detlef Pollack beruft: "In einer seiner jüngsten Predigten bezeichnete Kirill I. die Feinde Russlands als 'Kräfte des Bösen'. Putin und Kirill teilen, wie Pollack ausführt, offenbar ein ähnliches Weltbild: Russland sei das angegriffene Opfer westlicher Mächte, der Kampf Russlands ein Kampf des Guten gegen das Böse. 'Kultureller Pluralismus, Homosexualität und Meinungsvielfalt gefährden in diesem Weltbild die Identität der russischen Kultur. Russland muss sich schützen und für seine bedrohte Identität eintreten.'"

Außerdem: Ilija Trojanow ist in seiner taz-Kolumne nicht zufrieden mit dem bisherigen Kriegsverlauf, er möchte keine Aufrüstung in Deutschland und kritisiert auch die Ukraine: "Leider versprüht ein rabiater Nationalismus sein tägliches Gift, auch seitens ukrainischer Intellektueller."

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In der Türkei herrscht nicht nur eine horrende Inflation, sondern auch eine Regierung, die Berichterstattung darüber verbietet, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Und der Braindrain geht weiter: "2012 verließen 59 Ärzte die Türkei; 2021 packten 1405 Ärzte ihre Koffer. 2022 waren es allein in den ersten beiden Monaten bereits 353 Ärzte, die nun in anderen Ländern praktizieren. Zum Beispiel bei Ihnen."

Die Parteistiftungen erhalten im Lauf einer Legislaturperiode Hunderte von Millionen Euro an Subventionen. Allein im Haushalt 2022 sind 132 Millionen Euro vorgesehen - allerdings nicht für die Erasmus-Stiftung der AfD, berichtet Gareth Joswig in der taz. Normalerweise stünde der neuen Stiftung seit dieser Legislaturperiode Förderung zu. Ein "breites zivilgesellschaftliches Bündnis" wolle die AfD allerdings aus der Förderung ausschließen, so Joswig (unsere Resümees): "Im Koalitionsvertrag der Ampel hieß es noch vage, dass man die Finanzierung der politischen Stiftungen rechtlich besser absichern wolle und dies 'aus der Mitte des Parlaments geschehen soll, unter Einbeziehung möglichst aller demokratischen Fraktionen'. Faktisch heißt das offenbar zunächst, dass die AfD außen vor gelassen wird. (...) Die Ausgrenzung ist indes umstritten: Dass die Nichtberücksichtigung angesichts des Gleichheitsgrundsatzes juristisch haltbar ist, ist eher unwahrscheinlich."
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Internet

Die russische Regierung will auch die Wikipedia zensieren - seitdem laden sich immer mehr Russen die russische Version der Wikipedia herunter, berichtet Thomas Rudl in Netzpolitik: "An unabhängige und richtige Informationen zu kommen wird in Russland immer schwerer. Wie aus den Zugriffzahlen von Kiwix hervorgeht, versuchen offenbar viele Russ:innen dem von oben angeordneten Informationskrieg auszuweichen. Das Projekt stellt unter anderem Offline-Kopien der Wikipedia zur Verfügung und im März griffen so viele russische Nutzer:innen wie noch nie auf den Dienst zu - über fünf Mal mehr als im gesamten Februar." Ursprünglich berichtete Slate.
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Kulturpolitik

Elena Witzeck schildert in der FAZ, wie Kulturpolitik unter dem Rassemblement national (ehemals Front national) aussieht, der in der Stadt Perpignan regiert. Dort "beschloss die Regierung, das Wappen der Stadt zu ändern, auf dem früher 'Perpignan, die Katalanin' stand. Es zeigt jetzt Johannes den Täufer, was für ein laizistisches Land ein beachtenswerter Schritt ist."
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Gesellschaft

Seit Putins Überfall auf die Ukraine ist wieder viel von "toxischer Männlichkeit" zu lesen. Im Fall Putins mag das zutreffen, meint der Psychologe Michael Klein in der NZZ. Aber für die ukrainischen Soldaten gilt das wohl kaum: Hier sei gerade "zu besichtigen, welche 'Privilegien' die Großzahl der Männer im Kriegsfalle tatsächlich aufweisen. Schon immer war es die Aufgabe von Männern, im Krieg zu kämpfen und auch ihr Leben oder ihre Unversehrtheit zu opfern. Es sind weit und breit keine Privilegien für Männer zu finden, wenn es um Krieg und Gewalt geht."
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Ideen

Der Philosoph Martin Rhonheimer zeichnet in einem langen Text für die NZZ das Wirken der Kirche in Pandemien nach und stellt fest: "Eine Kirche, die in kollektiven Katastrophenfällen, statt fromme Deutungen zu liefern, zur Unterstützung staatlicher Schutzmaßnahmen aufruft und Verschwörungstheorien die Stirn bietet, handelt in voller historischer Kontinuität: als Stimme der Vernunft, gegen religiöse Überspanntheit und Massenhysterie und jene verurteilend, die nach Sündenböcken suchen."
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