9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser Schmus ist keineswegs so menschenfreundlich

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2022. Je mehr Putin von "Entnazifizierung" der Ukraine spricht, desto mehr gleicht er den Nazis, schreibt Pascal Brückner in der NZZ. Kamel Daoud legt in Le Temps einen großartigen Essay zu sechzig Jahren Unabhängigket Algeriens vor: Das Land lebe in gefrorener Zeit. Wir dürfen Myanmar nicht vergessen, schreibt Patrick Zoll in der NZZ: Dort wurden am Sonntag vier Dissidenten hingerichtet.  In der Welt poblematisiert Thomas Schmid den Kulturbegriff von Claudia Roth.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.07.2022 finden Sie hier

Europa

Marc Santora konnte für die New York Times einen Bericht des National Intelligence Council lesen, der die Erkenntnisse der amerikanischen Geheimdienste zu den Filtrationslagern der russischen Behörden in besetzten Gebieten der Ukraine bündelt: "Es wurden '18 mögliche Standorte in der Ostukraine und im Westen Russlands' identifiziert, wobei es wahrscheinlich noch weitere gibt, die noch nicht identifiziert wurden. 'Der Filtrationsprozess umfasst vorübergehende Inhaftierung, Datenerfassung, Verhöre und in einigen Fällen Missbrauch von Gefangenen und findet in einer Vielzahl von temporären Verarbeitungszentren statt - oft parallel zur Abfertigung von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen', heißt es in der Bewertung."

"Wir haben die Macht der ehemaligen Roten Armee über-, die Barbarei aber unterschätzt, in der Russland bis heute lebt", schreibt der französische Philosoph Pascal Bruckner in der NZZ, der auch darauf aufmerksam macht, wie nahe sich Nazis und Kommunisten von jeher sind: "Der Kreml spricht von den ukrainischen 'Nazis' auf genau dieselbe Weise, wie die Nazis von den Juden, den Zigeunern und den Slaven gesprochen haben: Sie werden als Ungeziefer bezeichnet, das es zu vernichten gelte. Kakerlaken und kleine Mücken: Mit solchen Worten wird am russischen Fernsehen über die Ukraine geredet. Dmitri Medwedew wiederum hat Vertreter des Westens als 'Degenerierte' bezeichnet - auch das erinnert an die nationalsozialistische Propaganda, die auf die 'entartete' Kunst der Modernisten, Kubisten, Expressionisten spuckte. Je mehr der Kreml die ukrainischen 'Nazis' geißelt, desto stärker nähert er sich selber dem Nationalsozialismus an."

Hamish de Bretton-Gordon, eine Experte für Chemiewaffen, beschreibt im Guardian die "abstoßende" Kriegstaktik Wladimir Putins: "Der russische Präsident führt den Krieg, als handele es sich um eine Panzerschlacht im Zweiten Weltkrieg - und es überrascht nicht, dass seine Taktik aus dem 20. Jahrhundert den Waffen des 21. Jahrhunderts nicht standhält. Aber wir wissen aus dem russischen Spielbuch in Syrien, dass Putin, wenn die konventionellen Methoden nicht funktionieren, schnell mal zu unkonventionellen übergeht. In Syrien bedeutete dies, Krankenhäuser und Schulen anzugreifen, Hilfe zu verweigern und schließlich chemische Waffen einzusetzen. In der Ukraine steht ein weiteres russisches Kriegsverbrechen bevor, selbst nach dem Getreide-Deal: der Einsatz von Lebensmitteln und Treibstoff als Kriegswaffen."

In Russland wird wieder gegen Lesben und Schwule gehetzt, berichtet Mikhail Zygar auf Spon, mit dem Ziel, Homosexualität generell unter Strafe zu stellen (und wohl auch, um vom Ukraine-Krieg abzulenken): "Aber interessanterweise teilen die meisten jungen Russen diese Sicht gar nicht. Der bekannte russische Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin war der Erste, der auf die Online-Diskussion über die Nachricht vom Coming-out der Tennisspielerin Kassatkina hinwies: Darin fanden sich überwiegend Worte der Unterstützung und weniger homophobe Witze oder Anfeindungen als erwartet. Offenbar glaubt die Putin-Elite, dass die Wählerschaft die Verfolgung von Schwulen wirklich gut findet. Aber offenbar ist die Wählerschaft überhaupt nicht so, wie sie denkt."
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Ideen

Algerien feiert sechzig Jahre Unabhängigkeit. Bei den Mittelmeerspielen in Oran werden die französische Nationalyhmne und französische Sportler gewohnheitsmäßg ausgepfiffen. Algerien, schreibt Kamel Daoud in einem großartigen Essay für den Genfer Temps, lebt in einer gefrorenen Zeit. Das Land führt einen "eingebildeten Krieg gegen einen Kolonisator, der nicht mehr existiert". Und wer heute "in Algerien geboren wird, ist dazu bestimmt in der Glorie der Entkolonisierung zu sterben". Alle - nicht nur die Generation der Veteranen - leben allein im Bann der Dekolonisierung, auch westliche Intellektuelle, die algerische Kollegen im Namen des Postkolonialismus immer nur auf diese eine Geschichte festlegen. "Die Spätergeborenen werden aufgefordert, dieses Epos endlos nachzuspielen, sich über die Erfolgsgeschichte der Kriegsveteranen und ihrer Toten zu definieren oder sich einem Loyalitätsprozess zu unterwerfen, der sie in das absurde Leben der eingefrorenen Zeit vor ihrer Geburt zurückführt und sie stellvertretend ein Frankreich hassen lässt, das sie gar nicht kennen. Was bleibt uns anderes übrig, als den Krieg für diejenigen zu wiederholen, die zu spät geboren wurden, um dem Leben einen Sinn zu geben?" Für das Institute du Monde Arabe in Paris hat Daoud eine Algerien-Ausstellung mit Fotografien von Raymond Depardon konzipiert.

In der NZZ sucht Ayaan Hirsi Ali nach Alternativen zu Harvard und Co - etwa an der neuen University of Austin. Die etablierten Universitäten sieht sie unter der Fuchtel einer kleinen Gruppe von Fanatikern wähnt, die Meinungsfreiheit nicht mehr zulassen: "Wenn die Universitäten einst versprachen, ihren Studenten das Denken überhaupt beizubringen, so zielen sie jetzt darauf ab, ihnen beizubringen, was sie denken sollen."
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Gesellschaft

Künftig reicht eine bloße Mitteilung an die Behörden, damit eine Person ihr Geschlecht wechselt. Durch den bloßen Wunsch wird die Realität geändert. Frühere amtliche Unterlagen sind "mit ursprünglichem Ausstellungsdatum neu auszustellen". "Hier erst zeigt sich die ganze Tragweite der neuen Realitätsdoktrin", schreibt der Philosoph Christoph Türcke in der FAZ zum neuen Selbstbestimmungsgesetz: "Sobald der Übergang einer Person ins andere Geschlecht aktenkundig ist, wird so getan, als hätte es ihn nie gegeben, als wäre die betreffende Person immer schon die gewesen, zu der sie sich jetzt deklariert hat. Die Geburtsurkunde, die Schul- und Ausbildungszeugnisse der Hella Müller dürfen nicht existiert haben, seit sie beschlossen hat, Heinz Müller zu sein. Behörden sollen per Gesetz zur nachträglichen Urkundenfälschung angehalten, Zuwiderhandlungen mit erheblichen Bußgeldern geahndet werden. Das ist ungeheuerlich."

Erstaunliche Korrelationen:
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Politik

Wir sollten über Ukraine Myanmar nicht vergessen, schreibt Patrick Zoll in der NZZ. Dort wurden am Sonntag vier Dissidenten hingerichtet. Der Scheinvorwurf: "Terrorismus". Und es ist zu befürchten, dass weitere folgen werden. "Die Militärs haben mit ihrem Putsch das Land in die dunkle Vergangenheit zurückkatapultiert. Min Aung Hlaing und seine Kumpanen haben Millionen von Menschen eines menschenwürdigen Lebens beraubt und die myanmarische Jugend ihrer Zukunft. Seit dem Putsch geht es mit dem Land nur noch bergab. Darum ist es tragisch, dass das Schicksal der myanmarischen Bevölkerung in der Weltöffentlichkeit kaum mehr Beachtung findet. Wer mit geflüchteten Oppositionellen spricht, kann deren Verzweiflung darüber, dass ihr Kampf und ihre Aufopferung vergessen gehen, geradezu mit Händen greifen. Der Präsident der Exilregierung, Duwa Lashi La, sagte im Juni gegenüber der NZZ: 'Wenn wir nur einen Teil der Hilfen für die Ukraine erhielten, könnten wir die Krise in Myanmar beenden.'" Auch im Iran gehen die Hinrichtungen weiter. Dort wurde zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder ein Mann öffentlich aufgehängt, berichtet die Berliner Zeitung.

Der Attentäter von Shinzo Abe hat seine Tat mit dessen Nähe zur "Vereinigungskirche" begründet. Die japanischen Medien thematisierten das aber bis zur vor kurzem abgehaltenen Wahl nicht, notiert der Politologe Koichi Nakano in Le Monde: "Dabei hatten japanische Medien in der Vergangenheit ausführlich über die räuberischen Praktiken der auch als 'Moon-Sekte' bekannten Organisation berichtet. Ihre Verbindungen zum rechten Flügel der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP), deren unangefochtener Führer Abe war, wurden jedoch tabuisiert. Diese Vertuschung bis zum Ende einer Wahl, die die LDP ohne Überraschung gewann, zeugt von dem Einfluss der religiösen Gruppe auf das politische Leben in Nippon und der Fähigkeit von Abes Partei, die Medien mundtot zu machen."
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Kulturpolitik

Bundeskulturministerin Clauda Roth ist erstaunlich ungeschoren aus dem Documenta-Gau hervorgegangen. Das ist aber auch kein Wunder, findet Welt-Autor Thomas Schmid, denn sie ist die "Königin der Töpfe" und wird nicht so leicht attackiert. Lohnenswert wäre aber mal, Roths Kulturbegriff in ihren offiziellen Äußerungen zu erkunden, die Schmid an die "verkitschte Straßenfestharmonie der siebziger und achtziger Jahre" erinnern: Aber "der Kulturbegriff der Kulturstaatsministern ist nicht bloß kitschig.... Dieser Schmus ist keineswegs so menschenfreundlich wie er vorgibt. Er ist sogar ziemlich autoritär. Die Ministerin dekretiert nämlich, was sie gar nicht wissen kann: dass wir alle dasselbe Ziel haben. Und dass die Kultur, einer Magd der Politik gleich, die Aufgabe habe, uns immer wieder darauf zu stoßen. Keine Spur von Freiheit, Wagnis, Differenz, Avantgarde und Akzeptanz des fremden Anderen."
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