9punkt - Die Debattenrundschau

Und der Bewohner des fernen Burjatien...

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2022. Amnesty kritisiert die ukrainische Kriegsführung, die taz kritisiert Amnesty. Der Zweck des Krieges ist der Krieg, plötzlich scheint für die Russen alles wieder Sinn zu geben, beobachtet der russische Essayist Sergej Medwedew in deskrussie.fr. Die Fragen: Wie konnten wir so naiv sein? Und wie konnten wir in eine solche Abhängigkeit geraten? muss sich Deutschland nicht nur in Bezug auf Russland stellen, fürchtet die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.08.2022 finden Sie hier

Europa

Unter dem Titel "Die ukrainische Kampftaktik gefährdet Zivilisten" veröffentlicht Amnesty International einen kritischen Bericht über die ukrainische Kriegsführung, der in der Ukraine sofort zurückgewiesen wurde, wie Barbara Oertel in der taz schreibt. In dem Bericht heißt es: "Überlebende und Zeugen der russischen Angriffe im Donbas, in den Regionen Charkiw und Mykolajiw berichteten den Forschern von Amnesty International, dass das ukrainische Militär zum Zeitpunkt der Angriffe in der Nähe ihrer Häuser operierte und die Gebiete dem Vergeltungsfeuer der russischen Streitkräfte aussetzte. Amnesty International-Rechercheure wurden an zahlreichen Orten Zeuge eines solchen Verhaltens. Das humanitäre Völkerrecht verlangt von allen Konfliktparteien, militärische Ziele in oder in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten so weit wie möglich zu vermeiden."

Dominic Johnson kann in einem taz-Kommentar zum Thema die Reaktion der ukrainischen Regierung verstehen, denn die russische Seite hat den Amnesty-Bericht sofort zu Propagandazwecken genutzt. Bei RT hieß es: "Amnesty International deckt Kiews Verstöße gegen Kriegsvölkerrecht auf". Eine erfahrene Menschenrechtsorganisation, so Johnson, "müsste in der Lage sein, ihre Erkenntnisse so zu publizieren, dass sie nicht in Moskau eine Täter-Opfer-Umkehr ermöglichen und damit in Kiew Empörung provozieren. Doch nicht zum ersten Mal zeigt sich hier, dass Kommunikation nicht zu den Stärken von AI gehört. Nicht nur das: Der Bericht setzt an manchen Stellen Abwehr mit Angriff gleich, und eine Stellungnahme der Ukraine zu den Vorwürfen wurde wohl angefragt, aber nicht abgewartet."

Markus Wehner berichtet in der FAZ über die Arbeit der "Truth Hounds", einer ukrainischen NGO, die Staatsanwaltschaften bei der Recherche zu russischen Kriegsverbrechen unterstützt. Die Organisation erhält auch Gelder von westlichen Regierungen. Am schwierigsten sei es, "Informationen aus den von Russen besetzten Gebieten und Städten zu bekommen wie etwa aus Cherson. Denn dort hinzufahren, ist für die Rechercheure zu gefährlich. Menschen zu befragen, die noch in der Stadt leben, ist ebenfalls zu riskant, denn sie begeben sich damit in Lebensgefahr, wenn die russischen Besatzer davon erfahren. Deshalb versucht die NGO, Leute zu befragen, die von dort geflohen sind."

Die Kernkraftwerke in der Ukraine sind durch den russischen Angriffskrieg zu "tickenden Zeitbomben" geworden, schreibt die russische Schriftstellerin Sonja Margolina in der NZZ und schließt nicht aus, dass "das russische Militär die ukrainischen Truppen mit dem Risiko eines zweiten Tschernobyl abschrecken will oder ob es umgekehrt die Möglichkeit eines zweiten Tschernobyl als Mittel des totalen Kriegs in Erwägung zieht." Der Verdacht liege nahe, "dass man das AKW Saporischja gezielt in eine mörderische Schutzstellung gegen voranrückende ukrainische Truppen verwandeln wollte. Das ermöglicht es dem russischen Militär, Städte und Dörfer zu beschießen, ohne direkte Gegenschläge befürchten zu müssen. Würde es jedoch zu Gefechten um das und auf dem Gelände des AKW kommen, liefe man Gefahr, den Ausfall der Kühlsysteme und die Explosion des Reaktors herbeizuführen."

Die Sanktionen gegen Russland nutzen Putin mehr, als dass sie ihm schaden, behaupten in der Welt die Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger und David Stadelmann: "Zwar trifft die sanktionsbedingte Wirtschaftskrise die Bürger hart. Aber gerade das begünstigt ein 'rally around the flag', bei dem sich die Bevölkerung hinter die Regierung schart. Die sanktionsbedingte Verarmung und das Abschneiden der freien Handelsbeziehungen machen die Bürger vom Regime abhängiger und lähmen ihre Anreize, gegen das Regime aufzubegehren. Sie wissen, dass auf ein autokratisches Regime selten eine demokratische, bürgerorientierte Regierung folgt, und dass ein Machtvakuum mit drohendem Bürgerkrieg für sie oft noch fataler als das bisherige Regime ist."

Der Zweck des Krieges ist der Krieg, schreibt der russische Essayist Sergej Medwedew in einem düsteren Essay für deskrussie.fr. Plötzlich gibt für die Russen alles wieder Sinn: "Alles läuft ab wie in Militärfilmen, Geschichtsbüchern und Familienlegenden: Unsere Großväter waren im Krieg, unsere Väter waren im Krieg, wir sind im Krieg. Es ist, als hätte Russland all die Jahre mühsam versucht, sich an seine traditionelle Lebensweise zu erinnern, und sie nun endlich gefunden. Die Stunde der Harmonie zwischen Macht und Gesellschaft ist endlich gekommen, und der Bewohner des fernen Burjatien dankt mit einer Träne im Auge dem Vertreter des Staates dafür, dass er rund 5.000 Kilometer zurückgelegt hat, um ihm die sterblichen Überreste seines in der Ukraine gefallenen Neffen, eines Fallschirmjägers, zurückzugeben: 'Wir lassen die unsrigen nicht im Stich, es stimmt!'"
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Politik

Die Fragen: Wie konnten wir so naiv sein? Und wie konnten wir in eine solche Abhängigkeit geraten? Diese Fragen muss sich Deutschland nicht nur in Bezug auf Russland stellen, schreibt Kai Strittmatter in der SZ. "China ist die weit größere Herausforderung für die Weltordnung des neuen Jahrhunderts, als es das schwächere Russland ist. Die Exportmarktabhängigkeit von China ist eine andere als die Energieabhängigkeit von Russland - es ist eine viel größere, sie macht ungleich verletzlicher. Es wird der Zeitpunkt kommen, da China den Westen so testet, wie Russland ihn in diesem Frühjahr getestet hat. Es muss damit angefangen werden, die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von China zu verringern, umgehend."

"Das größte Schreckensszenario, eine Invasion Taiwans, gilt allerdings als höchst unwahrscheinlich", schreibt Lea Sahay ebenfalls in der SZ: "Anders als beispielsweise der Überfall auf die Ukraine, der in diesen Tagen in den Köpfen vieler Beobachter herumschwirrt, macht die Geografie Taiwans, steile Felsküsten und flache Strände, eine Einnahme extrem schwierig. Militärisch ist die Volksarmee nicht so weit, die Schwierigkeiten der sehr viel erfahreneren russischen Streitkräfte dürfte Peking dies noch einmal verdeutlicht haben. Zudem war man wohl in Peking sehr überrascht, wie geschlossen Europa und die USA auf den Angriff in der Ukraine reagierten."
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Stichwörter: China, Taiwan, Invasion, Weltordnung

Medien

Die Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB), Patricia Schlesinger, tritt nach den zahlreichen Vorwürfen gegen sie (unsere Resümees) mit sofortiger Wirkung von ihrem Amt als ARD-Vorsitzende zurück, meldet unter anderem ZeitOnline: "'Die öffentliche Diskussion um in meinen Verantwortungsbereich fallende Entscheidungen und Abläufe im RBB berührt inzwischen auch die Belange der ARD', begründete Schlesinger den Schritt. Hauptaufgabe sei nun, zur Aufklärung dieser Vorwürfe beizutragen." Im Tagesspiegel fordert Kurt Sagatz nun auch ihren Rücktritt als RBB-Intendantin: Ihr Verhalten sei "Wasser auf die Mühlen aller Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die gerade jetzt auf Frankreich und Großbritannien blicken, wo France Télévisions und BBC komplett neu aufgestellt werden. Jeder Hauch von Gebührenverschwendung wird darum nicht nur in der ARD, sondern von allen Intendanten, Direktoren und auch Mitarbeiten der öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland gefürchtet wie sonst nichts."
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Geschichte

Dem Dlf Kultur liegt ein vom damaligen tschechoslowakischen Geheimdienst verfasstes und bisher unbekanntes Dokument vor, das belegen soll, dass die Bundesregierung entgegen aller Behauptungen sehr wohl Ungarn Schulden erließ, um Fluchtwillige aus der DDR freizukaufen, schreibt Anna Loll ebenda. "Laut der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur waren dies gegen Ende der DDR rund 90.000 D-Mark pro Person. Für Ungarn bedeutete das eine enorme Haushaltsentlastung bei der Schuldentilgung 1989: In dem Deutschlandfunk Kultur vorliegenden Dokument wird geschätzt, dass 'Ungarn auf diesem Weg 150 bis 200 Mill[ionen] erhalten wird. Um diese Summe werden der UVR die Zahlungen herabgesetzt, die sie an die BRD im Zusammenhang mit einem Regierungskredit zu leisten hat, der ihr in den vergangenen Jahren gewährt wurde', so heißt es in dem Dokument des tschechoslowakischen Nachrichtendienstes von 1989."
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Stichwörter: DDR, Ungarn, Flucht, Schulden, BRD