9punkt - Die Debattenrundschau

Unverständliche Maschine

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.09.2022. In Atlantic malt sich Anne Applebaum schon ein Russland ohne Putin aus, aber einfach wird das nicht. Ebenfalls in Atlantic fragt Neal Ascherson, wie demokratisch Großbritannien überhaupt ist. Stau bei Kirchenaustritten: Warum verweigern die Länder einen Online-Austritt, fragt hpd.de. Facebook ist viel zu kompliziert, zum selber zu wissen, wieviele Daten es von uns hat, konstatiert The Intercept.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.09.2022 finden Sie hier

Europa

Der Ukraine gelingt gerade das Unmögliche: Sie drängt die russische Armee auf ihrem Gebiet massiv zurück. Was nun, wenn sie die Russen tatsächlich besiegt und damit auch das Ende von Putins Regime einläutet, fragt Anne Applebaum in The Atlantic. "Um es klar zu sagen: Dies ist keine Vorhersage, sondern eine Warnung. Viele Dinge am derzeitigen russischen politischen System sind seltsam, und eines der seltsamsten ist das völlige Fehlen eines Mechanismus für die Nachfolge. Wir haben nicht nur keine Ahnung, wer Putin ersetzen würde oder könnte, sondern auch, wer diese Person auswählen würde oder könnte. In der Sowjetunion gab es ein Politbüro, eine Gruppe von Personen, die theoretisch eine solche Entscheidung treffen konnte und dies auch gelegentlich tat. Im Gegensatz dazu gibt es in Russland keinen Übergangsmechanismus. Es gibt keinen Dauphin. Putin hat sich geweigert, den Russen auch nur zu gestatten, über eine Alternative zu seinem schäbigen und korrupten kleptokratischen Regime nachzudenken. Dennoch wiederhole ich: Es ist unvorstellbar, dass er weiter regieren kann, wenn sich das Kernstück seines Legitimationsanspruchs - sein Versprechen, die Sowjetunion wieder aufzubauen - nicht nur als unmöglich, sondern als lächerlich erweist." Der Westen sollte sich dann nicht einmischen, aber Putin helfen, aus Angst vor einem Machtvakuum, sollte er erst recht nicht, empfiehlt sie.

Die Ukraine startet eine erfolgreiche Gegenoffensive, und wieder zögert der größte Koalitionspartner in der Frage der Waffenlieferungen, konstatiert Dominic Johnson in der taz: "Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis hat am Sonntag einen eindeutigen Vorstoß gewagt: Europa, schrieb er, muss die Ukraine belohnen für ihren Mut, indem es alle Mittel verfügbar macht, um den Krieg rasch siegreich zu beenden, und das Ziel muss sein, dass Putin bedingungslos kapituliert. Man stelle sich vor, die 27 EU-Staaten plus die Nato-Mitglieder außerhalb der EU würden dies mit einer Stimme sagen - es wäre eine klare Botschaft. Dazu wird es nicht kommen, nicht zuletzt weil in Deutschland immer noch viele am Mythos der Unbesiegbarkeit Russlands festhalten, so als sei die deutsche Wehrmacht das Maß aller Dinge." Man sollte aber auch nicht ungerecht sein, ergänzt Pascal Beucker in einem weiteren Artikel: "Tatsächlich liefert die Bundesrepublik erhebliche Mengen an Waffen und Ausrüstung, um der Ukraine im Kampf gegen den russischen Überfall beizustehen. Nur die Unterstützungsleistungen der USA und Großbritanniens sind noch größer. Von keinem anderen Land in der EU kommt so viel militärisches Gerät, einzig Polen reicht an Deutschland heran."

Mit dem Tod Elizabeths II. stellt sich die Frage: Was ist Großbritannien heute, überlegt der Historiker Neal Ascherson in The Atlantic. Er sieht zwei Probleme, die am Ende sogar an der Monarchie rütteln könnten: Erstens drohe ein Vereinigung Irlands und Abtrennung Schottlands und damit ein Auseinanderbrechen des Staates. Und zweitens verstünden die Briten heute besser, wie "zutiefst monarchistisch" die ungeschriebene britische Verfassung ist, auch wenn das Parlament alle Macht hat: "Das aufklärerische Konzept der Volkssouveränität, der die Macht von unten nach oben verliehen wird, ist der englisch dominierten britischen Regierung fremd. Die Macht in diesem alten Land fließt immer noch von oben nach unten. Das System ist geradezu für Tyrannen geschaffen, und doch haben die Politiker im Laufe der Jahre ein demokratisches Gewand (allgemeines Wahlrecht, Redefreiheit, unabhängige Justiz) über diese autokratische Armatur gehängt. Heute sieht dieser Kompromiss fadenscheinig aus. Eine weniger reflexartig respektvolle Generation hat beobachtet, wie die jüngsten britischen Regierungen die Konventionen, die die Exekutivgewalt einschränken sollen, mit Füßen getreten haben." Wenn es dann auch noch wirtschaftlich schwierig wird, könnten die "königlichen Privilegien und das Königtum selbst in Frage gestellt werden, beginnend an der Peripherie des Vereinigten Königreichs und dann nach innen wirkend".

In den siebzig Jahren Queen hat sich Großbritannien vor allem durch die Regionalisierung tief verändert, aber reicht das, um die innere Brüchigkeit der Union zu heilen, fragt die Princetoner Historikerin Linda Colley in der New York Times: "Gewiss, die Macht wurde von London weg verlagert, aber nicht in ausreichendem Maße oder systematisch genug. Im Gegensatz zu Wales, Schottland und Nordirland hat England - der größte der vier Teile des Vereinigten Königreichs - keine eigenes Parlament, was dazu beigetragen hat, einen ressentimentgeladenen, nach innen gerichteten englischen Nationalismus zu schüren. Gleichzeitig ist es mit der Wiedereinführung eines Parlaments in Edinburgh bisher nicht gelungen, die separatistische Stimmung in Schottland zu entschärfen, während das nordirische Parlament zur Zeit blockiert ist und die nationalistische Stimmung in Wales zunimmt."

Das Frauenbild in Ungarn ist immer noch ein sehr konservatives. Und Präsidentin Katalin Novák - früher Familienministerin - unterstützt das nach Kräften, bedauert in der Welt die Schriftstellerin Andrea Tompa. "Zuletzt hat eine Studie des Rech nungshofs unter dem Schlagwort 'rosa Bildung' die 'demografischen Probleme' in Beziehung zum Bildungsgrad ungarischer Frauen gesetzt. Sollte dieser Trend anhalten, hieß es dort (gemeint war, dass Frauen an ungarischen Universitäten prozentual in der Mehrheit sind), werde eine solche umgekehrte Geschlechterungleichheit zu einem Risiko für die Geburtenrate, da damit die Wahrscheinlichkeit einer Eheschließung und also des Kinderkriegens sinke. Das klingt wie ein bescheidener Vorschlag: 'Wir' bräuchten weniger gebildete Frauen. Vielleicht, weil weniger gebildete Frauen sich leichter in traditionelle Rollenmodelle fügen, die ganze Hausarbeit machen, ihren Beruf aufgeben und ihre Gatten, die so hart arbeiten und so wichtige Aufgaben haben, 'respektieren'?"
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Politik

In einer östlichen Provinz Afghanistans hat eine größere Gruppe von Schulmädchen für ihr Recht auf Ausbildung demonstriert, nachdem die Taliban die weiterführende Mädchenschule geschlossen hatten, berichtet  Akhtar Makoii in der Daily Mail. "'Die Studenten protestierten friedlich, aber bald wurde die Kundgebung von den Sicherheitskräften aufgelöst', sagte ein Einwohner von Gardiz. Mullah Norullah Munir, der amtierende Bildungsminister der Taliban, erklärte unterdessen, die Familien wollten ihre Mädchen nicht in die Schulen schicken. Munir sagte, die Schulen seien aufgrund kultureller Zwänge für Schülerinnen ab der sechsten Klasse geschlossen. 'Sie brauchen mir nicht immer dieselbe Frage zu stellen. Fragen sie einfach, wie viele Menschen in dieser Moschee bereit sind, ihre 16-jährige Tochter zur Schule zu schicken. Wir beide sind in der gleichen afghanischen Gesellschaft aufgewachsen, und die Kultur ist jedem klar', sagte der Bildungsminister. Einige Anwohner erklärten jedoch gegenüber lokalen Medien, dass sie bereit seien, ihre Töchter zur Schule zu schicken, wenn die Taliban es ihnen erlaubten."
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Stichwörter: Afghanistan

Religion

Die Bundesländer verweigern trotz der Beteuerungen, ihre Verwaltungen digitalisieren zu wollen, Online-Kirchenaustritte, berichtet hpd.de unter Verweis auf eine Recherche der Zeitschrift c't: "Da immer mehr Menschen aus der Kirche austreten wollen, jedoch nur eine begrenzte Anzahl an Terminen zur Verfügung steht, kommt es teilweise zu Wartezeiten von mehreren Monaten, bis ein Kirchenaustritt vollzogen werden kann. Die einfachste Lösung wäre, diese Amtshandlung - wie viele andere auch - online verfügbar zu machen." Offenbar, so Christian Wölbert in c't, machen Länder in dieser Frage Besonderheiten von Landesrecht geltend. "Das Ergebnis: Nicht nur in NRW, sondern fast überall ist ein Onlinedienst aktuell nicht möglich, weil Landesrecht die persönliche Vorsprache oder eine schriftliche Erklärung 'in öffentlich beglaubigter Form' verlangt. In letzterem Fall muss man in Gegenwart eines Notars unterschreiben. Zu den Gebühren für den Austritt selbst (NRW: 30 Euro) kommen dann gut und gerne noch 25 Euro hinzu. Fast alle Länder wollen ihre entsprechenden Gesetze auch nicht ändern." Die Kirchen sind sicher dankbar, trotz der Hürden traten 2021 640.000 Menschen aus.
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Stichwörter: Kirchenaustritte

Medien

Lokalzeitungen haben sich ein Gutachten schreiben lassen, das eine staatliche Förderung der Zustellung von Zeitungen befürwortet, berichtet Christian Rath in der taz: "Im Regierungsentwurf für den Haushalt 2023 sind bislang noch keine Presse-Subventionen vorgesehen, doch die Verleger wollen das in den kommenden Wochen noch ändern, nicht zuletzt in Gesprächen mit den Abgeordneten des Haushaltsausschusses." Vielleicht sollten sich die Zeitungen dann auch noch ein paar mehr Leser bezahlen lassen.

Außerdem: In der FAZ wettert Michael Hanfeld gegen ein geplantes "Medienfreiheitsgesetz" der EU, das die Macht der Verleger beschneiden wolle. Ebenfalls in der FAZ berichtet Niklas Bender von einem Skandal des Canard Enchainé - nein, es ist nicht ein Skandal, den das französische Satire- und Recherche-Blatt enthüllte, sondern der es selbst betrifft: Das Blatt ist eine Art Genossenschaft, die ältere Generation der Redakteure badete angesichts der einstigen Erfolge im Geld, und einer der Canard-Zeichner hat seine Frau über 24 Jahre scheinbeschäftigt, insgesamt sind 3 Millionen Euro an sie geflossen!
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Kulturpolitik

Der Orientalist Stefan Weidner hatte gestern in der FAZ die geplante Schließung des vom Auswärtigen Amt finanzierten, dem "Dialog der Kulturen" verpflichtete Magazin qantara.de kritisiert, wie auch Kürzungen beim Goethe-Institut, dessen Budget um 10 Prozent gestutzt werden soll (unser Resümee). Heute antwortet in der taz Andreas Fanizadeh auf Weidner: "Wie so manch anderes verschweigt der paternalistische Herr Weidner, dass dem gesamten Haushalt des Auswärtigen Amts 2023 eine Budgetkürzung um 10 Prozent droht. Also eine keineswegs nur dem Goethe-Institut und anderen vom Auswärtigen Amt geförderten Kulturprojekten."
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Internet

Sam Biddle hat für Intercept das Transkript der Kongressanhörung von Facebook zum Cambridge- Analytica-Skandal  gelesen und kommt aus dem Staunen nicht heraus. Es ging vor allem um die Frage: "Welche Informationen über uns speichert Facebook genau, und wo befinden sie sich? Die Antwort der Ingenieure wird für diejenigen, die sich um die Verwaltung von Milliarden digitalisierter Leben durch das Unternehmen Sorgen machen, wenig erfreulich sein: Sie wissen es nicht." Facebook "hat so viele Daten über so viele Milliarden Menschen angehäuft und sie so verwirrend organisiert, dass vollständige Transparenz auf technischer Ebene unmöglich ist. In der Anhörung im März 2022 beschrieben die Software-Ingenieure Eugene Zarashaw und Steven Elia Facebook als einen Datenverarbeitungsapparat, der so komplex ist, dass er sich dem Verständnis von innen heraus entzieht. Die Anhörung lief darauf hinaus, dass zwei hochrangige Ingenieure eines der mächtigsten und ressourcenstärksten Ingenieurbüros der Geschichte ihr Produkt als unverständliche Maschine beschrieben. ... Die Bemerkungen in der Anhörung spiegeln diejenigen wider, die in einem internen Dokument zu finden sind, das Motherboard Anfang des Jahres zugespielt wurde... 'Wir haben kein angemessenes Maß an Kontrolle und Erklärbarkeit darüber, wie unsere Systeme Daten verwenden, und können daher keine kontrollierten Richtlinienänderungen oder externe Zusagen wie 'wir werden X Daten nicht für Y Zwecke verwenden' machen', heißt es in dem Dokument von 2021. Das grundlegende Problem, so die Ingenieure in der Anhörung, ist, dass Facebooks Ausdehnung es unmöglich gemacht hat, zu wissen, woraus es besteht; das Unternehmen hat sich nie die Mühe gemacht, institutionelles Wissen darüber zu kultivieren, wie jedes dieser Komponentensysteme funktioniert, was sie tun oder wer sie benutzt."

"Befreit das Internet", ruft Sarah Leonard in The New Republic nach Lektüre von "Internet for the People", einem Buch des Tech-Journalisten Ben Tarnoff. "Es wird heute viel darüber diskutiert, auch im Kongress, warum Teile des Internets so giftig sind und was man dagegen tun kann - bessere Moderation von Inhalten? Aktualisierte Monopolgesetze? - aber es scheint, dass niemand das eigentliche Problem benennen will: Die Kommerzialisierung des Web. ... Tarnoff sagt unverblümt, warum die Dinge so schlecht sind: 'Das Internet', so schlägt er vor, 'ist kaputt, weil das Internet ein Geschäft ist'. Was, wenn es das nicht wäre?"

Das Bundeskartellamt hat eine 232-seitige "Sektoruntersuchung" für den Bereich Online-Werbung vorgelegt. Das ist schön, nützt aber im Grunde wenig gegen die Übermacht der Internetgiganten, meint Digital-Experte Martin Andree in der Welt. Denn am Kernproblem kann nur der Gesetzgeber etwas ändern: "Vereinfacht gesagt, können die Behörden in Deutschland und in der EU nur gegen zukünftige Zusammenschlüsse vorgehen. Dagegen können sie natürlich entstandene Vormachtstellungen wie etwa das Quasi-Monopol der Google Suchmaschine nicht angreifen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch unser deutsches Medienrecht zwar antimonopolistisch ist, es hier aber nur Konzentrationsbeschränkungen für redaktionelle Medien gibt, wie etwa für Presse oder Rundfunk. Angesichts der wuchernden digitalen Monopole ist es absurd: Bis heute existieren weder etablierte wissenschaftliche Methoden zur Messung von Marktmacht bei digitalen Medien, noch gibt es eine zuständige Behörde ähnlich der Bundesnetzagentur oder der KEK."
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