9punkt - Die Debattenrundschau

Eine edle Aufgabe

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2022. Auf Zeit online ist Thomas Fischermann erleichtert über den Ausgang der Wahl in Brasilien, aber auch entsetzt: Wie konnte das Mitte-links-Bündnis derart knapp abschneiden? Was macht Twitter- Besitzer Elon Musk, wenn er die Meinungsfreiheit chinesischer Dissidenten durchsetzen will, aber zugleich Angst haben muss vor der Regierung Chinas, wo er seine Teslas baut, fragt Andrian Kreye in der SZ. Wir verweisen trotzdem noch auf Twitter: Die Reporterin Antonie Rietzschel berichtet über einen Anschlag auf ein geplantes Flüchtlingsheim in Bautzen. Der Anwalt Patrick Heinmann liest mit Bestürzung Aufrufe von Gemeinden wie Stralsund oder Königs Wusterhausen, die von der Bundesregierung eine russlandfreundlichere Politik fordern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.10.2022 finden Sie hier

Europa

Gibt es in Deutschland mal wieder diese typische verlangsamte Wahrnehmung rechtsextremer Anschläge? Antonie Rietzschel, Reporterin der Leipziger Volkszeitung, berichtet in einem Twitter-Thread über den jüngsten Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Bautzen: "Man sieht vor Ort, dass es nicht nur ein kleiner Schaden ist, wie anfangs vielleicht vermutet, eine Zündelei als Warnung. Die Polizei geht mittlerweile davon aus, dass die Unterkunft abbrennen sollte." Mehr beim MDR.

Kommunen wie Königs-Wusterhausen oder Stralsund haben sich in öffentlichen Aufrufen an die Bundesregierung gewandt, um sie zu einer konzilianteren Haltung gegenüber Russland aufzufordern, berichtet der Anwalt und Blogger Patrick Heinemann in einem Twitter-Thread. Stralsund bietet sich als Ort für Friedensverhandlungen an: "Es gibt Hinweise darauf, dass weitere Kommunen ähnliche Beschlüsse fassen könnten, in denen sich örtlicher Missmut gegen die Politik des Bundes organisierte. Oft sind es - ähnlich Pegida - vermeintlich lose lokale Bewegungen, die Protestveranstaltungen 'besorgter Bürger' organisieren, denen sich dann gelegentlich, vielleicht auch aus gefühltem Druck, örtliche Bürgermeister/-innen anschließen."

Als Anwalt hält Heinemann solche Beschlüsse von Bürgerversammlung auch juristisch für bedenklich, wie er in dem Jura-Blog LTO schreibt: "Die originäre Verbandszuständigkeit der Gemeinden für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft hat aber ihre Grenzen, die zugleich die Befassungskompetenz der Gemeindevertretung beschränken. Denn hierzu gehören nach ständiger (Verfassungsgerichts-)Rechtsprechung nur diejenigen 'Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben'."

"Ungarn driftet immer mehr in eine Scheinmitgliedschaft in der EU ab", meint im Guardian György Dalos, mit Blick auf Ungarns Haltung zu Russland und dem Ukrainekrieg, die auch verbergen soll, wie schnell es gerade mit der ungarischen Wirtschaft bergab geht: "Die Regierung hat einen vorübergehenden Preisstopp verhängt, eine Maßnahme, die vor allem Klein- und Kleinstunternehmen trifft und im Fall der Benzinpreise viele Tankstellen aufgrund sinkender Einnahmen in den Konkurs getrieben hat. Orbán versucht, die rasant steigende Inflationsrate, die derzeit bei 20,7 Prozent liegt, monokausal zu erklären: 'Wir haben uns aus dem Krieg heraushalten können, aber wir werden von seinen Folgen nicht verschont bleiben. Die Preise werden zum Teil durch den Krieg, zum Teil aber auch durch die vom Westen verhängten Sanktionen in die Höhe getrieben.' Orbán verschafft sich offensichtlich 'strategische Ruhe', indem er die Verantwortung für die Finanzkrise auf 'den Westen' abschiebt. Es bleibt nur abzuwarten, wie lange ein kleines, energie- und rohstoffarmes Land noch so untätig bleiben kann."
Archiv: Europa
Stichwörter: Kommune, MDR

Politik

Asrin Eskandari hat für die taz mit Erfan Mortezaie gesprochen, einem Cousin Zhina (so heißt sie ja eigentlich) Aminis, der aus der Perspektive der Familie über den Tod Aminis und die Trauer sprechen kann: "Es waren vierzig schwierige Tage - vierzig Tage, während derer unser Wunsch nach Rache immer stärker wurde. Zhinas Mutter geht jeden Morgen ins Zimmer ihrer Tochter, legt ihr Kleider aufs Bett, sieht sich Zhinas Bilder, Kleider und Bücher an und verlässt das Zimmer erst abends wieder. Zhinas Vater steht unter großem Druck zu sagen, dass seine Tochter krank gewesen sei und das Regime sie nicht getötet habe. Zhinas Bruder steht unter demselben Druck. Stellen Sie sich vor, ein diktatorisches und totalitäres Regime tötet Ihre Tochter, lügt darüber, und Sie wissen, dass Sie Recht haben und die Unrecht haben, doch dieses Regime erhöht Tag für Tag den Druck, Sie zum Schweigen zu bringen!"

Die deutsche "feministische" Außenpolitik bleibt gegenüber dem Iran bisher recht zahnlos. Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner weiß in der FAZ auch den Grund: "Eine eigenständige deutsche oder auch nur europäische Iranpolitik existiert nämlich nicht. Stattdessen wird diese in Washington gemacht. Dort setzt man seit Obama nicht mehr auf einen Regimewechsel, sondern auf die Einbindung der Islamischen Republik."

Weidner verweist auf eine Recherche der Übermedien von Lisa Kräher, die nachweist, dass die Bundesregierung den proirianischen Thinktank "Carpo" mit 900.000 Euro jährlich subventioniert. Betrieben wird er von Adnan Tabatabai, dem Sohn des Khomeini-Weggefährten Sadegh Tabatabai. Tabatabai ist auch bei den Medien beliebt: "Alleine in den vergangenen Wochen der neuen Proteste nach dem Tod der Kurdin Mahsa Zhina Amini, war er im Deutschlandfunk (DLF), im WDR, im Schweizer Rundfunk und in der BBC, im Podcast von The Pioneer und im Zeit-Podcast 'Was jetzt' zu hören. Er wurde vom Tagesspiegel und vom Stern interviewt."

Erleichterung in Brasilien. Lula hat die zweite Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen, wenn auch knapp, gewonnen, mehr zum aktuellen Stand im Guardian:


Auf Zeit online ist Thomas Fischermann erleichtert über den Ausgang der Wahl in Brasilien, aber auch entsetzt: Wie konnte das Mitte-links-Bündnis derart knapp abschneiden, fragt er sich. Und wie soll Lula mit einer so hauchdünnen Mehrheit regieren? Seine Gegner "sitzen jetzt an vielen Stellen tief im brasilianischen Staat und spielen nicht unbedingt nach demokratischen Regeln. Bolsonaros vier Amtsjahre zeichneten sich unter anderem dadurch aus, dass er Tausende aktiver und ehemaliger Militärs in seine Verwaltung und in den Präsidentenpalast holte (und dafür reihenweise echter Fachleute rauswarf, die jetzt in der Privatwirtschaft arbeiten oder sogar ins Ausland geflohen sind). ... Auch knapp 40 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur herrscht in erstaunlich breiten Kreisen Brasiliens immer noch eine alte Vorstellung: dass die Truppen das Recht haben, im Land wieder die Macht zu übernehmen und das Vaterland zu retten, falls der politische Zirkus in der Hauptstadt Brasília versagt."

Afrikanische Öffentlichkeiten reagieren auf den Krieg in der Ukraine so indifferent wie westliche Öffentlichkeiten auf Ereignisse in Afrika, schreibt Dominic Johnson in der taz. Wirklich ganz genau so? "Indifferenz beginnt in tonangebenden afrikanischen Kreisen vor der eigenen Haustür. Beim Aufeinanderprallen von Arm und Reich in Afrikas Megastädten ist Menschlichkeit selten. Afrikanische Regierungen kritisieren sich gegenseitig nie, außer aus propagandistischem Eigeninteresse. Die Aufarbeitung des Genozids in Ruanda wurde nicht von den Staaten Afrikas vorangetrieben, sondern von den Überlebenden und ihren Freunden weltweit. Die Den Haager Völkermordanklage gegen Sudans Diktator Bashir wegen der Massenmorde in Darfur sorgte für eine Welle der Solidarität afrikanischer Regierender nicht mit den Opfern, sondern mit dem Täter. Koloniales Unrecht anzumahnen ist vielfach Staatsdoktrin, postkoloniale Gerechtigkeit einzufordern kann lebensgefährlich sein, von Simbabwe bis Algerien."
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Gesellschaft

Die Stimmung gegenüber Juden hat sich in Amerika verschlechtert, schreiben Michelle Boorstein und Isaac Arnsdorf in der Washington Post. Zwar gibt es weniger Menschen, die in Umfragen antisemitische Einstellungen bekunden, aber mehr Furcht vor Gewalt. Prominente wie der Basball-Spieler Kyrie Irving oder der Rapper Kanye West (der sich nur noch Ye nennt) äußern offen antisemitische Positionen. Dabei entstehen seltsame Allianzen: "Fox News-Moderator Tucker Carlson ist in Clips, die von Vice News veröffentlicht wurden, Ye während eines Interviews nicht ins Wort gefallen, als der Künstler eine heute von einigen geteilte Überzeugung wiederholt, dass heutige Juden nicht die rechtmäßigen Juden der Bibel seien. Dies ist Teil einer Doktrin, die von der als 'Black Hebrew Israelites' bekannten Bewegung vertreten wird: dass Afroamerikaner die wahren Nachkommen der alten Israeliten sind, ein Glaube, der oft mit dem Vorwurf vermischt wird, dass Mainstream-Juden nicht die eigentlichen Juden seien."

Anlässlich der Verurteilung des Kochs Alfons Schuhbeck wegen Steuerhinterziehung zu drei Jahren und zwei Monaten Haft fragt sich in der SZ Ronen Steinke, warum Eigentumsdelikte in Deutschland höher bestraft werden als Straftaten gegen Leib und Leben: "Sobald das Rechtsgut Eigentum ins Spiel kommt, geschieht Erstaunliches. 'Angeklagter! Warum haben Sie den Discogast ins Gesicht geschlagen?' - Dass wir in einem Land leben, in dem es wesentlich günstiger ist zu antworten 'Weil er ein Ausländer ist, und ich hasse Ausländer' (dann: Körperverletzung, Mindeststrafe: fünf Tagessätze Geldstrafe), als 'Weil ich ihm sein Bier klauen wollte' (dann: Raub, Mindeststrafe: ein Jahr Haft), bleibt bemerkenswert. Die Attacke auf das Eigentum wirkt gewichtiger als die Schläge."
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Medien

Wie wird wohl Elon Musk mit den komplexen Problemen umgehen, die der Twitterkauf bedeutet, fragt sich in der SZ Andrian Kreye. "Wenn er zum Beispiel die Meinungsfreiheit bei den chinesischen Dissidenten durchsetzt, ist ihm die chinesische Regierung böse, die Teile seiner Teslas bauen. Wenn er die Dissidenten aber drosselt, sind ihm die Deutschen böse, die in der Gigafactory Brandenburg ebenfalls für ihn produzieren, aber vor allem seine Teslas kaufen. Was ist mit Iran? Mit Russland? Dort ist Twitter genauso wie in China offiziell gesperrt und nur über Umwege wie VPN-Tunnel erreichbar. Wird er dort die Opposition stützen? Für einen Meinungsfreiheitskämpfer eine edle Aufgabe. Wird er sie gleichzeitig mit Verschlüsslungsmechanismen vor dem Zugriff der Diktaturen schützen? Das wäre ein Widerspruch zu seiner Open-Source-Haltung, dem digitaltechnischen Äquivalent zur Meinungsfreiheit." Kreye wüsste da auch keinen Rat.
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