9punkt - Die Debattenrundschau

Österreich-Beinschab-Tool

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2022. Die Financial Times erzählt, wie die ukrainische Bevölkerung im Gebiet von Cherson von den Besatzern drangsalisiert wird. Die taz erinnert daran, wie Stalin der "belarussischen Wiedergeburt" ein Ende bereitete. Tom Buhrow hielt seine Rede über die Öffentlich-Rechtlichen als Privatmann, aber als einer mit Untergebenen, hat die SZ herausgefunden. Im Tagesspiegel schildert Natan Sznaider das Dilemma der "ethnischen Demokratie" Israel. Die taz schildert Österreichs Nöte mit der allerjüngsten Vergangenheit. Die SZ will das mit Kopftuch differenziert sehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.11.2022 finden Sie hier

Europa

Christopher Miller erzählt in der Financial Times (Link) die Geschichte der Zwillingsschwestern Natalia Chorna und Tetyana Mudryenko. Chorna lebt außerhalb der russisch besetzten Gebiete in der Ukraine, Mudryenko blieb in der kleinen Hafenstadt Skadowsk nahe Cherson. Mudryenko trug ihr Herz auf der Zunge und sprach russische Soldaten direkt auf die Besetzung der Ukraine an. In der Folge wurde sie offenbar öffentlich gehängt. Ihre Schwester, die telefonisch den Kontakt gehalten hatte und mit Ansässigen sprechen konnte, berichtet dem FT-Reporter. "Als Chorna im örtlichen Leichenschauhaus anrief, um sich den Tod von Mudryenko bestätigen zu lassen, weigerte sich ein Mitarbeiter zunächst, mit ihr zu sprechen. Schließlich schickte der Angestellte ihr jedoch eine Sterbeurkunde, in der als Todesursache 'mechanische Erstickung' angegeben war, was bedeutet, dass auf ihren Hals starker physischer Druck ausgeübt worden war. Einige Details zu Mudryenkos angeblicher Entführung und ihrem Tod konnten nicht unabhängig überprüft werden, da sie sich in Gebieten ereigneten, die für westliche Reporter nicht zugänglich sind. Die FT hat jedoch die Sterbeurkunde von Mudryenko sowie Textnachrichten und Gespräche zwischen Anwohnern und Augenzeugen ausgewertet, die die Geschichte von Chorna bestätigen."

In Zeit online erinnert sich die ukrainische Autorin Oksana Stomina an ihre Zeit im besetzten Mariupol und daran, wie essenziell es für die Menschen war, irgendwo Handyempfang zu bekommen. Unter Lebensgefahr liefen sie an eine Kreuzung, wo manchmal die Funkwellen ankamen: "Ich habe gesehen, wie viele von ihnen bei dem Versuch, eine Verbindung herzustellen, das Telefon über den Kopf hielten, und es schien mir, als würden sie sich Gott zuwenden. Von oben hat sie allerdings nicht nur Gott gesehen. Die russländischen Flugzeuge, gesteuert von russländischen Fliegern, haben über ihnen russländische Bomben abgeworfen."

Außerdem zum Krieg gegen die Ukraine: Viel Aufsehen erregt eine Recherche des Spiegel und des ZDF, die herausfand, dass die BASF-Tochter Wintershall offenbar dem russischen Militär Kerosin-Vorprodukte verkauft, die unter anderem für Kampfflieger in der Ukraine gebraucht werden, mehr hier.

Im litauischen Exil gedachten belarussische Intellektuelle einer Nacht Ende Oktober 1937, in der Stalin 108 belarussische Intellektuelle umbringen ließ. Sie sind nicht die einzigen Toten im Wald von Kurapaty, wo sich die Überreste von 30.000 Menschen finden sollen, schreibt Janka Belarus in der taz. In Belarus selbst ist eine Aufarbeitung nicht möglich. Zur Zeit sind "33 Journalistinnen und Journalisten inhaftiert, NGOs mussten ihre Arbeit einstellen". Mit der Ermordung der Intellektuellen krönte Stalin die Niederschlagung der "sogenannten belarussischen Wiedergeburt": "Historiker sprechen mittlerweile von mehreren Terrorwellen, denen die damalige belarussische Elite zum Opfer fiel. Die Stalinsche Säuberung begann bereits Mitte der 1920er Jahre. Sie war auch eine Reaktion auf die Bolschewiki, die gemeinsam mit Kulturschaffenden für die Eigenständigkeit von Sowjetrepubliken warben. Schriftsteller und Dichter trieben diese sogenannte belarussische Wiedergeburt grundlegend an. In den Jahren 1929 bis 1931 wurden sie dafür bestraft. So starb der wunderbare Lyriker Uladizimir Zhylka Anfang der 1930er Jahre im russischen Wjatka. Kurz zuvor war er trotz seiner Tuberkuloseerkrankung dorthin verbannt worden."

Österreich muss die Korruptionsvorgänge um den ehemaligen Kanzlerstar Sebastian Kurz und seinen engsten Berater Thomas Schmid aufarbeiten. Ein schönes Licht auf das Land selbst wirft die Affäre nicht zurück. Man erfährt in der Rückschau des taz-Österreich Korrespondenten Ralf Leonhard etwa, was es mit dem "Österreich-Beinschab-Tool" auf sich hat: "Österreich heißt die Gratiszeitung der geschäftstüchtigen Gebrüder Fellner, die sich wohlwollende Berichterstattung über Politiker mit fetten Anzeigen bezahlen lassen. Sabine Beinschab heißt eine Meinungsforscherin, deren Ein-Frau-Betrieb zu großen Teilen von öffentlichen Aufträgen lebte. Sie hatte den Auftrag, Sebastian Kurz nur im besten Licht erscheinen zu lassen. Beinschab, die inzwischen Kronzeugenstatus erhalten hat, ist vollumfänglich geständig. Die Honorarforderungen für ihre Umfragen und Studien, die einzig dem Image von Kurz nützten, reichte sie auftragsgemäß im Finanzministerium ein."

Der alerte Jungpolitiker Jordan Bardella wird wohl Nachfolger Marine Le Pens beim Rassemblement National werden, Le Pen selbst will sich auf die parlamentarische Arbeit konzentrieren. Kathrin Müller-Lancé portätiert ihn für die SZ. Er solle wie Le Pen selbst für die "dédiabolisation" der Partei stehen. Aber "auch wenn Bardella wirkt wie das perfekte junge Gesicht für eine Partei, die sich harmlos geben will: Er ist alles andere als gemäßigt. Ohne Berührungsängste sympathisiert er mit der Theorie des 'großen Bevölkerungsaustauschs', derzufolge Europas weiße, christliche Bevölkerung nach und nach durch überwiegend muslimische Zuwanderer ersetzt wird. Er möge das Wort nicht, aber die These sei richtig, sagte Bardella im vergangenen Jahr in einem Interview."
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Medien

So wahnsinnig konkret wurde Tom Buhrow in seiner Rede zur Zukunft der öffentlich-rechtlichen Sender, die er ja ausdrücklich als Privatperson hielt, eigentlich gar nicht, finden die SZ-Medienredakteurinnen Aurelie von Blazekovic und Claudia Tieschky bei näherem Hinsehen. Aber mit Interesse liest man, welcher Sturm im Wasserglas ihr sogar schon vorausging: "Gegrübelt worden war über die Tabu-Rede Buhrows offenbar lange: Der Referent der WDR-Geschäftsführung berichtet auf einer Business-Plattform von 'wochenlangen Vorbereitungen' und 'diversen Nachtschichten' vor der Rede, zählt die ARD-Entourage auf, die wie er und die stellvertretende WDR-Sprecherin in Hamburg dabei waren." Der Kommentar der Autorinnen dazu: "Man kommt nicht umhin, zu bemerken, dass Tom Buhrows Moment, in dem er nur für sich sprach, offenbar von seiner beruflichen Infrastruktur umfassend unterstützt wurde."
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Religion

Walter Homolka, Gründer des Abraham Geiger Kollegs, hat für das liberale Judentum einiges geleistet. Aber wenn er dies bewahren will, sollte er sich von seinen vielen Ämtern zurückziehen, meint Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen. Der Bericht der Untersuchungskommission, gegen den sich Homolka neulich in der Zeit verteidigte (unser Resümee) lese sich in Wirklichkeit vernichtend. Dass Homolka über die sexuellen Belästigungen seines Ehemanns etwas wusste, konnte ihm nicht nachgewiesen werden, so Engel. "Hierzu sei gesagt: Der Autor dieser Zeilen erhielt vor acht Jahren als Jungredakteur von Homolkas Mann eine Nachricht mit dem Angebot, über eine Tagung des AGK zu berichten. In seinem Hotel-Doppelbett sei im Übrigen noch ein Platz frei. Im Vergleich zu den Vorwürfen einiger Studenten des AGK liest sich dies weniger schlimm. Doch war auch dies eine krasse Grenzüberschreitung - zweifellos. Persönlich gekannt habe ich Homolkas Ehemann zu diesem Zeitpunkt wohlgemerkt nicht. Wie sicher musste er sich an dem von seinem Mann geleiteten Institut gefühlt haben, um einem Fremden solch ein Angebot zu unterbreiten?"
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Ideen

Um tatsächlich lebende Menschen wie etwa Flüchtlinge oder misshandelte Tiere in einer Mastanlage zu retten, ist manches an Grenzüberschreitung zu rechtfertigen, meint Björn Hayer in der FR. Kaum Anwendung könne diese Maxime aber "bei abstrakten Systemen finden. Um etwa eine behauptete Coronadiktatur abzuschaffen oder die globale Klimakrise einzudämmen, wären also Widerstandsformen, wie wir ihrer derzeit im Rahmen von Vergehen gewahr werden, nicht gedeckt, zumal sie sich im Falle der Anschläge auf die Gemälde nicht einmal annähernd auf ein Objekt beziehen, das in irgendeinem kausalen Zusammenhang mit dem Anliegen der Aktivistinnen und Aktivisten steht."
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Politik

In Israel hat eine populistische Rechte die Wahlen gewonnen, und das Land ist mit dieser Tendenz keine Ausnahme, schreibt Natan Sznaider in einem Essay für den Tagesspiegel (leider nicht online). Zugleich sieht er das Wahlergebnis als Ausdruck des Konflikts zwischen eher europäisch und westlich gesinnten und eher nahöstlichen Israelis. Das grundsätzliche Dilemma des Landes beschreibt Sznaider so: "Israel ist demokratisch und gleichzeitig ethnisch definiert, also eine 'ethnische Demokratie', Religion, Nationalität und Ethnizität werden gemeinsam gedacht und daraufhin gehandelt. Und es ist ein militarisierter Staat, der stets kriegsbereit sein muss. Auch lebt es im ständigen Kampf zwischen einer staatlichen Normalität und der Gewalt, die nicht außerhalb des Systems steht, sondern integraler Bestandteil des Lebens in Israel ist und die ständig in die Tagespolitik eindringt. Die wirklichkeitserzeugende Kraft der Gewalt erzeugte eine Welt in Israel, in der es liberale Grundprinzipien zunehmend schwer haben."

Bundeskanzler Olaf Scholz hat vor seiner China-Reise behauptet, er spreche in gewisser Hinsicht automatisch für die EU, weil er sich ständig mit Brüssel und Paris abstimme. Nur leider hat er auf keinem der wichtigen Themenfelder etwas erreicht, meint Felix Lee in der taz: "Peking gibt weiter dem Westen die Schuld an Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bei den Klimaverhandlungen weigert sich die chinesische Führung, mit den USA an einem Tisch zu sitzen. Und wirtschaftlich hat Peking ganz klar das Ziel formuliert: Nach innen soll China technologisch und wirtschaftlich autark werden, nach außen will China Abhängigkeiten schaffen. An dieser wirtschaftspolitischen Kampfansage hat auch Scholz mit seiner Aufwartung nichts ändern können." Anders sieht es China-Korrespondent Fabian Kretschmer: "Scholz fand gegenüber der chinesischen Staatsführung direktere Worte, als viele Kritiker erwarteten."

Die Iranerinnen protestieren seit Wochen gegen das Kopftuch und schreien unter Lebensgefahr ihre Wut gegen die Mullahs heraus, die es ihnen aufzwingen. Die SZ produziert ein dreiseitiges "Buch zwei", um die Sache differenzierter zu sehen. Es gebe eine große Vielfalt bei diesem Thema, so Dunja Ramadan und verteidigt auch Kopftuchträgerinnen in Deutschland, die sich nicht mit den Iranerinnen solidarisieren. "Frauen, die mit Kopftuch auf Solidaritätsdemos waren, erzählen, sie seien dort feindselig angegangen worden. Eine muslimische Wissenschaftlerin, die anonym bleiben möchte, sagt, viele kopftuchtragende Frauen in ihrem Umfeld seien solidarisch, würden Demonstrationen aber eher scheuen - einerseits, weil sie angefeindet würden, andererseits, um die Iranerinnen, die mit dem Kopftuch traumatische Erfahrungen gemacht haben, nicht ungewollt zu verletzen."
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